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Die Liebe in den Zeiten von Corona
Missmutig reißt sich Hartmut das Headset vom Kopf. Wie einen Gegenstand, von dem etwas Ekelerregendes ausgeht, hält er es mit spitzen Fingern eine Armlänge von sich entfernt. Er lauscht der Stimme des jungen Kollegen, die im Kopfhörer monoton dahinplätschert wie das Wasser in seinem Gartenteich. Mit einem kurzen Blick auf den Monitor vergewissert sich Harmut, dass er sein Mikrofon stummgeschaltet hat. „Komm, hol dir das Banänchen!“, sagt er zu dem Sprecher, der ihn nicht hören kann, und mach dazu Affengeräusche. Aber auch das vermag seine Unlust nicht zu vertreiben, seine Wut über den Chef, der wieder einmal eine dieser langweiligen Videokonferenzen auf einen Freitagnachmittag gelegt hat.
Hartmut macht sich nicht einmal die Mühe, das Headset in den vorgesehenen Bügel zu hängen. Er lässt es einfach neben seinen Sekretär auf den Teppich plumpsen und atmet tief durch. Aufmerksam folgen seine Blicke einem Strahl von der Maisonne, die durch den schmalen Vorhangschlitz neugierig hereinlugt. Der Strahl fällt auf die Aufsatzfigur der französischen Kaminuhr, einen Jüngling mit femininen Zügen, dem beim Mähen gerade die Sense abgebrochen ist. Der macht es richtig, sagt sich Hartmut. Wendet sich den vergnüglichen Dingen zu.
Er erschrickt, als er die Zeiger der Kaminuhr auf zwei Uhr zuwandern sieht. Spätestens in einer Stunde will er am Treffpunkt sein. Er rollt mit dem Drehstuhl zum Schreibtisch und springt ins Dating-Portal, das immer noch geöffnet ist. Ein letztes Mal geht er die Daten durch. Seit Corona kommt es ihm noch mehr als sonst auf jedes Detail an. Gerade dann, wenn sie bei der ersten Begegnung Maske trägt und er nur einen Bruchteil ihres Gesichts sehen kann. Er trommelt mit den Fingern am Rahmen des Monitors und betrachtet das Foto der Frau, mit der er seit ein paar Wochen chattet: schulterlanges Haar, vermutlich naturblond, mandelförmige, etwas weit auseinanderliegende Augen, schätzungsweise graugrün, dazu passend ein flaschengrünes Sommerkleid. Zu seinem Missvergnügen ist das Foto über dem Ausschnitt des Kleides abgeschnitten. Darunter der altfränkisch anmutende Name, der ihm jedes Mal ein Pfeifen abringt: Mechthild. „Um die fünfzig“ lässt wohl darauf schließen, dass sie stramm auf Mitte fünfzig zugeht. Dafür sieht sie aber noch zum Niederknien aus. Mit einem trotzigen Griff fährt er den Rechner herunter. Kaltabbruch. Er lauscht befriedigt, bis das Gerät endlich verstummt und verschwindet eilig ins Badezimmer.
Die eingespielten Handgriffe - Körperwäsche und Rasur, beides zum zweiten Mal an diesem Tag -versetzen ihn in einen Zustand angenehmer Entspannung. Er prüft noch einmal, ob seine Frisur gut sitzt, und sprenkelt sich ein paar Tropfen vom Aftershave, das seine Ex-Frau so sehr hasste, an den Hals. Immer noch frei von Falten, nicht selbstverständlich für einen Mann Ende fünfzig. „Auch den kleinen Bimbo nicht vergessen“, witzelt er. „Wer weiß, wozu ich ihn heute noch gebrauchen kann?“ Als er ihn im Spiegel schlaff über den Rand des Waschbeckens hängen sieht, muss er sich kurz auf die Lippen beißen. Er frottiert sich unten ab, schlüpft in die bereitgelegten Kleider und fragt sich, was ihm plötzlich seine Stimmung verhagelt hat. Plötzlich sieht er wieder Luc vor sich, dem er vor kurzem seine Treffen mit fremden Frauen gebeichtet hat. Ungläubig schüttelte der Freund seinen kahlen Kopf: „Hast du denn keine Angst?“. Hartmut versuchte seinerseits, möglichst erstaunt zu wirken. Doch Luc ließ nicht locker: „Und was machst du, wenn du dich dabei ansteckst?“ Und setzte noch ernster fort: „Keine Sorge, dass es sich herumspricht? Die Stadt ist klein. Vergiss nicht, dass du Beamter bist!“ „Na, denn Prost!“, entgegnete Hartmut trocken und spülte seinen Ärger mit Rotwein herunter, bereits sein drittes Glas an diesem Abend.
Wie alle verheirateten Freunde, hatte Luc gut reden: Der konnte sein Leben ohne Not für ein paar Monate aussetzen, und danach ging für ihn alles wie vorher weiter. Hartmut dagegen hatte keine andere Wahl, wenn er nicht mit leeren Händen dastehen wollte. In seiner Wohnung sprang ihn von allen Seiten nur der Tod an. Dann antwortete Hartmut doch noch: „Die Liebe lässt sich nun mal nicht von einem kleinen Virus aufhalten. Nicht die Liebe!“ Der letzte Satz war ihm, vermutlich eine Wirkung des Rotweins, lauter als beabsichtigt herausgerutscht. Luc verdrehte befremdet die Augen, stöhnte und wechselte das Thema.
Als er nach draußen tritt, ist es trocken und warm. Er eilt den kürzesten, mit Kopfstein gepflasterten Weg zur Innenstadt hinunter und biegt nach links in die schmale Stichstraße. Schon kann er die hohen Platanen in der Nähe des Treffpunkts erkennen. Eine Erregung ergreift ihn, wie immer, wenn das erste Treffen unmittelbar bevorsteht. Die Zeiger seine Jäger LeCoultre rücken vor auf drei Uhr. Er hat also keine Zeit mehr, um ihre Ankunft hinter der Deckung der Bäume zu verfolgen. Auf dem schmalen Weg erkennt er eine schlanke, hochgewachsene Frau, die sich mit zögernden Schritten dem Denkmal nähert. Das muss sie sein. Am Denkmal angekommen, läuft die Frau, offenbar noch ein Neuling auf diesem Gebiet, unsicher in die eine, dann in die andere Richtung. Den herankommenden Hartmut scheint sie noch nicht bemerkt zu haben.
Von ihrem Anblick ist er sofort elektrisiert: ihre Bluse körperbetont, aber nicht aufreizend geschnitten; unter der eng anliegenden Jeans zeichnet sich ein Körper ab, viel fraulicher, als er es von ihrem Foto vermutet hat. Er steht nur noch zwei, drei Meter vor ihr und blickt ihr ins Gesicht. Zwei mandelförmige, weit auseinanderliegende Augen schauen ihn neugierig an. Hartmut erkennt keine Anstalten zur Begrüßung, weder „Chicken-Wings“ noch Handschlag.
Als er den Namen aus ihrem Mund hört, muss er kurz zucken,. Er passt so gar nicht zu der stilbewussten, zugleich unprätentiösen Frau, die da vor ihm steht. Sie greift in die Handtasche, zieht eine Maske heraus und streift sich die Schnüre über ihre zarten Öhrchen. „Wohin gehen wir?“, fragt sie schnörkellos. „Magst du das Wasser?“, fragt er sie und spürt die Aufregung in seiner Stimme.
Wie immer bei gutem Wetter geht er über eine wenig bekannte Route abseits des Trubels hinunter zum Fluss. „Lass uns aus dem Verkehrslärm raus“, schlägt er Mechthild vor. Als sie zur Treppe abbiegen, der zum Uferweg führt, streift er sich als erster die Maske ab, Mechthild folgt seinem Beispiel. Allmählich verebben die Geräusche. Wortlos gehen sie nebeneinander her bis zur Stelle, wo der Grasweg in den schmalen, aber belebten Uferpfad mündet. Kein guter Ort zum Unterhalten, aber sehr gut zum Beobachten. Und was sich Hartmuts Augen heute bietet, missfällt ihnen nicht: zarte Linien mit Andeutungen reifer Fraulichkeit, nicht üppig, aber wohlgeformt.
Zwei Hunde haben sich von einer Gruppe gelöst und stürmen ihnen entgegen. Sie haben gerade ein Bad genommen und sind triefend nass. Er erschrickt, als ein schokobrauner Labrador auf ihn zuläuft. „Nehmen Sie doch Ihren Hund an die Leine“, will er dem Besitzer noch zurufen, doch schon zu spät: Das nasse Tier streift sein linkes Bein und rennt weiter. Der zweite Hund hat ein Kommando gehört und bremst abrupt kurz vor dem Paar ab. Er schüttelt sein nasses Fell und eilt zu seinem Herrn zurück. Mechthild schaut sich ihre nassen Hosen an. „Jetzt weiß ich endlich, was mit einem begossenen Pudel gemeint ist“, sagt er und entlockt seiner Begleitung ein erstes Lächeln.
Nach ein paar Hundert Metern bricht die Uferbebauung ab, und der Blick öffnet sich. Ein breiter, von Blumen übersäter Wiesenhang liegt vor ihnen. Geradeaus sieht man die Berge und zur Rechten, direkt über dem Fluss, die Mauern, Kuppeln und Türme der Stadt.
„Hui“, sagt Mechthild, sichtlich beeindruckt. Sie hält sich die Hand an ihre Stirn wie einen Mützenschirm und studiert mit zusammengekniffenen Augen die Ansicht der Stadt. Hartmut sieht sich nach einer Sitzgelegenheit um. Er schätzt die stilleren, hinteren Ränge, doch Mechthild deutet auf den Steinblock direkt am Uferweg. Als sie sich gesetzt haben, versucht Hartmut ein Gespräch in Gang zu bringen.
„Erzähl mir, was du gerne magst!“, fordert er sie mit weicher Stimme auf.
Sie dreht sich um und sieht ihn neugierig an: „Was steht denn alles zur Auswahl?“
Ihre Frage kommt für Hartmut etwas unvermittelt. Während die meisten seiner Aufforderung mit einer Selbstvorstellung folgen, spielt ihm Mechthild elegant den Ball zurück. Er muss kurz überlegen: „Ein Blumenladen, eine Chocolaterie, ein Antiquitätengeschäft und ein Schiffsrestaurant.“ Er spricht es langsam aus wie früher die Fernsehkandidaten, die sich an die Gegenstände auf dem „ laufenden Band“ erinnerten.
Mechthilds schmale Augen blicken ihn prüfend an, dann sagt sie lachend: „Warum nicht gleich alle vier?“
Hartmut ist überrumpelt. Soll er wirklich von seinem Plan abrücken und sicheres Terrain verlassen? Doch irgendetwas an dieser Unterhaltung hat seinen Mut geweckt.
„In welcher Reihenfolge soll’s denn sein?“, fragt er lachend zurück.
Er sieht von der Seite Mechthilds schmächtige Schultern zucken. „Du bist doch hier der Ortskundige.“
Mechthild zieht sich ihre Handtasche aus rotem Schildkrötenleder über und scheint Anstalten zum Aufstehen zu machen. Doch ein undefinierbarer Laut, irgendwoher aus der näheren Umgebung, hält sie zurück. Er folgt ihrer Blickrichtung und entdeckt am Flussufer ein vogelähnliches Wesen mit schwarzem Gefieder und gelbem Schnabel. Mit weit aufgerissenen Augen verharrt es auf der Stelle. Er bemerkt, wie ein Impuls durch Mechthilds Körper geht. Gleich, denkt er, wird sie aus einem Mutterinstinkt heraus aufstehen und zu dem kranken Vogel gehen. Er deutet eine Handbewegung an, um sie zurückzuhalten. Seine Hand auf ihr Knie zu legen, traut er sich noch nicht. Zu seiner Erleichterung bleibt Mechthild sitzen. Er beobachtet, wie ein Paar vorsichtig auf das Tier zugeht. Beide gehen in die Hocke, studieren den Vogel, reden leise miteinander, ihre Gesichter wirken ernst.
„Man kann da gar nicht hingucken …“, sagt Mechthild und guckt trotzdem hin. Ein Gedanke springt Hartmut an, dass das junge Tier bald sterben könnte, hier vor ihren Augen. Ihm fällt ein, dass er auf seinem Smartphone eine App zur Vogelbestimmung hat, vielleicht kann er sie damit ablenken. „Schwarze Flügel, gelber Schnabel“, murmelt er und entdeckt endlich den Vogel mit der passenden Beschreibung. Er liest ihr den Text vor: „Die Rufe des Kormorans sind kehlig und krächzend: 'chroho-chrohochro-ho'. Die Weibchen steuern ein hohes 'flii-flii-flii' bei.“ Unter normalen Umständen hätte das seine Begleitung belustigt, jetzt bleibt Hartmut selbst das Lachen im Halse stecken. Dieser Kormoran würde wohl keinen Laut mehr von sich geben. Er steckt das Gerät weg und wendet seinen Blick zum Fluss. Ein schwer mit Schrott beladenes Schiff tuckert langsam abwärts. Der Frachter ist schon eine Weile vorüber, da schwappen Wellen ans Ufer. Sie treten gefährlich nah an das kranke Tier heran. Der Kormoran rührt sich trotzdem nicht vom Fleck. Er stellt sich vor, wie ihn die Wellen erfassen und in den Fluss reißen.
Diesmal ist es ein Kind, das Mechthild erschreckt hat. Er sieht einen Jungen, der sich von seinen Eltern losgerissen hat, auf die Uferstelle zueilen. In seiner Rechten trägt er ein handgeschnitztes Stöckchen. Jetzt stochert er auch noch damit an dem kranken Tier herum. Er hat den Impuls, aufzustehen, doch die Eltern sind bereits angekommen. Der Vater reißt dem Jungen das Stöckchen aus der Hand, die Mutter schimpft, der Junge blickt beschämt zum Boden. „Also, Kinder sind doch...“, stammelt Mechthild.
Wie aus dem Nichts taucht wieder ein Labrador vor ihnen auf. Offenbar hat er Beute gewittert und ist seinem Besitzer entwischt. Doch wo, fragt sich Hartmut, ist plötzlich der Kormoran geblieben? Ist er in den Fluss gefallen? Oder hat er sich zum Sterben zurückgezogen? Der Hund beugt sich zum Ufer hinunter. Sein Kopf ist nicht mehr zu sehen, nur die Hinterläufe, die sich an der Böschung festklammern und aufgeregt zittern. Mit einer ruckartigen Bewegung springt er auf die Wiese zurück. Hartmut entdeckt im Maul des Hundes einen schwarzen Flügel. Mechthild entfährt ein spitzer Schrei. Inzwischen ist auch der Besitzer angekommen und hält den Hund mit beiden Händen am Kopf fest. Endlich lässt der Hund den Flügel los. An der gleichen Stelle, wo er eben noch gestanden hat, liegt der Kormoran regungslos da.
„Hat er ihn jetzt umgebracht?“, fragt Mechthild. Hartmut reckt sich, um zu prüfen, ob der Kormoran tatsächlich tot ist. „Der war bestimmt schon vorher tot“, antwortet Hartmut, nur halb überzeugt. Ein bedrückendes Gefühl beschleicht ihn, zum zweiten Mal an diesem Tag. Er fragt sich, was er eigentlich hier vor diesem geschundenen Tierkadaver zu suchen hat. Er würde am liebsten aufstehen, doch seine Beine sind schwer, als hätte einer Blei hineingegossen.
Am Ufer tut sich schon wieder was. Eine Saatkrähe mit kräftigem Schnabel pirscht sich mit tapsigen Sprüngen an den Kadaver heran. Ein letzter prüfender Blick, dann rupft sie ein paar Federn aus dem toten Tier. Schließlich holt sie Schwung und hämmert ihren Schnabel in den Kadaver, in die Flügel, den Hals, den Rumpf hinein. Hartmut fühlt in seinen Eingeweiden einen dumpfen Schmerz, als hätte die Krähe ihm selbst in den Bauch gehackt.
„Wollen wir?“, hört er eine weiche Stimme neben sich. Auf seiner Rechten spürt er etwas Kaltes. Er blickt hinunter und sieht Mechthilds Hand auf seiner liegen. Er versteht die Welt nicht mehr und wird sie wohl nie wieder begreifen.
Sie gehen noch einmal an der Stelle vorbei. Schwarze Federn liegen verstreut um den Kadaver herum. Er will noch einmal den Kopf des Kormorans sehen, seine toten Augen. Doch Mechthild zerrt an seiner Hand. Auf dem Uferweg leuchtet ihnen purpurrot die Abendsonne entgegen.
„Endlich! Endlich ein Mann mit Gefühl!“, hört er die Frau an seiner Seite sagen.