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Die Liebe im Schichtwechsel

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31.10.2011
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Die Liebe im Schichtwechsel

Die Liebe im Schichtwechsel
Von Christine Leutkart

Ein großer, nüchterner Raum, in dem viele Menschen an kleinen Tischen sitzen. Die Männer und Frauen sitzen fest in ihre Stühle gedrückt, die Köpfe über ihre Arbeit gebeugt. Pinzette in der rechten Hand, Kunststoffteil in der linken. Schrauben, drehen, stecken. Schlitzen, zwicken, knicken. Fertig. Ein ums andere Mal, immer wieder, bis der Karton randvoll ist. Mit einer sparsamen Bewegung aus dem Handgelenk den nächsten Karton heranziehen, zu den Füßen so platzieren, dass auch ein ungezielter Wurf nicht daneben geht. Die Luft in der betongrauen Halle ist staubtrocken. Keiner sieht auf, und wenn doch, dann nur, um eine Wasserflasche an die Lippen zu setzen. Ein verstohlener Blick nach rechts und links. Gieriges Schlucken, dann: weiter geht’s.
Marina saugt tief die Luft ein, die sie mit ihren Abbildern teilt. Sie blinzelt zu ihrer linken Seite, wo der Nachbar emsig an einem Draht zuppelt. Genüsslich füllt Marina ihre Mundhöhle mit abgestandener Luft, walkt sie hin und her, schluckt sie hinunter, pustet sie leise aus. Ein Mundwinkel entfernt sich vom anderen. Sie lächelt. Alle hier im Raum atmen dieselbe Luft. Bedeutet das Intimität?
Nicht müde werden, ja nicht in Zeitlosigkeit gleiten: während da draußen alle anderen schlafen, arbeitet Marina sich durch die Nacht. Karton stapelt auf Karton, Wasserflaschen werden geleert. Da stehen sie wie gläserne Krieger, stramm und hart, aufrecht, der offene Hals in die Höhe gereckt. Es zeigt sich der erste helle Punkt am Horizont, zunächst stumpf, dann allmählich von weither leuchtend: geht das, jetzt die Hände ruhen lassen? Erschöpfung könnte am Aufstehen hindern. Ein früher Wildvogel trällert, die Sirene kreischt. Die Nachtschicht ist vorbei.
Zärtlich schiebt Marina die letzten Teile in die Schachtel. Nach wenigen Stunden wird das, was sie hinterlassen hat, verändert, angestückt, vervollständigt sein. Ein anderer, dessen Namen sie erst seit kurzem kennt, wird ihre Arbeit fortsetzen. Hier, am selben Tisch, wird er sitzen. Zum Schrauben, Zwicken, Drehen wird sein Pressen, Schieben, Stapeln hinzukommen. Wieder lächelt sie, die Lippen zittern vor Glück. Er wird, ohne es zu wissen, zusammen mit allen Werkteilen, auch ihre Liebe zu ihm in seinen Händen halten. Er wird auch, ohne es zu wissen, Marina weiterformen. Mit gespitztem Mund setzt sie einen Kuss auf das stumpfe Schwarz einer Metallspange.
Als Marina in ihren Mantel schlüpft, vergewissern sich ihre Fingerspitzen, ob der Hausschlüssel noch in ihrer Jackentasche liegt. Da ist er, kühl und echt liegt er in ihrer Hand. Sein Schlüssel. Er hat ihn vor wenigen Tagen auf dem Arbeitstisch vergessen. Sie war in die Schicht gekommen und hatte ihn erst Stunden später gefunden: er war halb unter einem blauen Plastikkistchen gelegen, als habe er sich dorthin geschlichen und versteckt. Ohne darüber nachzudenken, hatte sie ihn einfach eingesteckt. Der Besitzer hatte nie danach gefragt. So hatte Marina den Schatz einfach behalten.
Die riesige Uhr über dem hohen Tor zeigt die genaue Stunde und Minute, in welcher sie das Werksgelände verlässt. Der kleine Zeiger weist auf das verwohnte Stadtgebiet. Da, wo die Sonne aufgeht. An diesem Morgen glänzt die Straße wie hingegossenes Metall.
Kurz hält sie die Luft an, als er an ihr vorbeigeht, hastig wie immer; kaum, dass er ein kurzes Nicken von sich gibt. Sie seufzt. Weiß er, was sie alles miteinander teilen? Es ist mehr als nur der Arbeitsplatz.
Vor seiner Haustür ein Moment des Zögerns: Was, wenn sich heute jemand dahinter befindet? Er könnte ja auch mal Besuch haben. Beispielsweise eine Frau, die zu ihm gezogen ist, nachdem er geschrieben hatte: es tut mir Leid, ich kann hier nicht weg, die Arbeit – du verstehst… Da packte sie, seine Frau, ihre Koffer und nahm den nächsten Zug. Fassungslos wird sie auf Marina, die fremde Frau, in der Haustür ihres Mannes schauen. Aber nein, ausgeschlossen, er und verheiratet? Oder gar verliebt? Das hätte sie erkennen müssen, an seinem Gesichtsausdruck vielleicht, oder am Schwung seiner Schritte. Nein, nichts von alledem. Sein Leben bewegt sich in immer derselben Bahn, leise und unaufhörlich in immer dieselbe Richtung. Erst, wenn er bei ihr ankommt, wird er am Ziel sein. Wieder seufzt sie. Nichtwissend rennt er jeden Morgen an ihr vorbei.
Auch alle anderen verlassen ihre Häuser, Türen fallen zu. Die Träume, kaum zu Ende geträumt, bleiben dahinter.
Sie dreht den Schlüssel zweimal im Schloss herum, zieht ihn ab und schiebt die Türe auf. Schnell wie eine Eidechse auf Käferjagd flitzt sie in den Flur hinein. Stille in der Wohnung, es riecht nach Toast, leicht verbrannt.
Im Spiegel sieht sie sein Gesicht, wie er am frühen Morgen nach dem Aufstehen hineinschaut. Sein Gesicht mit den schmalen Augen, den steilen Wangenknochen, dem mageren Kinn. Sie wendet sich ab. Es tut weh, ihn zu sehen, ohne dass er sie sieht. Bevor der Abend wieder anbricht, wird sie hier die Ruhe finden, die es sonst nirgendwo gibt. Unter seiner Bettdecke lauert Frieden.
Vom Fenster aus kann sie die große Uhr gerade noch sehen. Sie erkennt den Zeiger, der erst drei Takte weitergerückt ist. In ihren Fingerspitzen spürt sie das leise Ticken, während sie versucht, die Vorhänge zuzuziehen. Irgendetwas klemmt. Diese zarten Stoffe, die wie sommerliche Gewänder den Boden berühren, lassen sich nicht bewegen. Wie soll sie schlafen, wenn der Tag grell und neugierig ins Fenster starrt?
Ungeduldig zieht sie am blassblauen, leichten Stoff, der sich geräuschlos ihrer Anstrengung ergibt und schließlich auf sie herabfällt. Eine Wolke, die sie umhüllt, sich um Kopf und Körper legt und schließlich fest um sie schmiegt. Mit diesem Akt weicht alle Kraft von ihr.
Nichts anderes ist mehr möglich, als sich zu Boden fallen zu lassen und immer weiter in die blaue Wolke hinein zu kriechen. Es ist ganz leicht, davon zu schweben und alles andere hinter sich zu lassen.

Er hat große Mühe, das Schloss zu öffnen, mit Hilfe der Werkzeuge des Nachbarn gelingt es schließlich. Wie kommt es, dass von innen ein Schlüssel steckt? Beim Eintreten bemerkt er eine fleckige, abgenutzte Lederjacke. Ordentlich hängt sie an dem einzigen Haken seiner Garderobe. Als hätte sie hier ihren festen Platz.
Er kennt diese Jacke. Sie gehört der kleinen grauen Maus. Jeden Morgen rennt sie aus dem dunklen Werkstorloch hinaus, die kurzen Haare zerzaust, die Augen schwarz glänzend. Manchmal grüßt er sie, ist sich nie sicher, ob sie ihn überhaupt zur Kenntnis nimmt.
Unter dem Fenster liegt ein Kokon aus lichtem Blau. Es badet im milchigen Licht des frühen Tages. Von der Vorhangschnur fest umwickelt, wäre es für jeden noch so tapferen Schmetterling schwer, sich daraus zu befreien. Ein Flügel zappelt noch.
Er hebt das Kokonbündel auf und trägt es zum Sofa. Es ist weitaus schwerer als erwartet. Langsam und vorsichtig entwirrt er die Schnur, öffnet das Bündel, als wäre es ein Geschenk, und zieht die Hüllen beiseite. Mit jeder Schicht, die sich löst, löst sich auch etwas in ihm, bis er zu der Erkenntnis vordringt: Darum fühlte er sich nie wirklich allein, wenn er nach der Arbeit nach Hause kam. Ihre unsichtbare Anwesenheit hatte die Räume gefüllt. Und damit auch ihn.
Der Zeiger der großen Uhr richtet sich nach unten. Er befindet sich genau im rechten Winkel zur Werkstormauer darunter. Das Ticken schwillt an zu einer Trommel, die den Schritten der Menschen auf ihrem Weg zur Arbeit den Takt vorgibt.
Die Nachtschicht beginnt, doch heute bleibt ihr Platz leer.

 

Hallo Christine,

erst einmal, was mir beim Durchlesen aufgefallen ist:

Ein großer, nüchterner Raum, in dem viele Menschen an kleinen Tischen sitzen. Die Männer und Frauen sitzen fest in ihre Stühle gedrückt, die Köpfe über ihre Arbeit gebeugt.
Die Wortwiederholung muss nicht sein.
Unter dem Fenster liegt ein Kokon aus lichtem Blau. Es badet im milchigen Licht des frühen Tages.
Das verstehe ich nicht. Er kommt doch abends heim.

Mir gefällt die Idee der Geschichte, aber die Auflösung ist mir zu einfach. Eigentlich denkt er ja, dass sie eine graue Maus ist und plötzlich aber Happy End?
Aus der Situation, dass sie heimlich in seine Wohnung geht, könnte man noch viel mehr herausziehen. Da fehlt mir noch ein Part, der ein wenig Spannung hineinbringt.
Die Erzählstimme in Verbindung mit dem Thema monotones Arbeiten finde ich gut gewählt.

Liebe Grüße
bernadette

 

Hallo Bernadette,
das stimmt, ein Gedankenfehler - das "frühe Licht" kann nicht stimmen. Danke für deine Aufmerksamkeit!
Über deinen Hinweis zur fehlenden Spannung werde ich mir noch Gedanken machen. Ist sie - die Spannung -wirklich notwendig?
Meine Idee zur Auflösung: das "Happy End" ist sehr ungewiss. Denn vielleicht ist die Prot. erstickt:

[Nichts anderes ist mehr möglich, als sich zu Boden fallen zu lassen und immer weiter in die blaue Wolke hinein zu kriechen. Es ist ganz leicht, davon zu schweben und alles andere hinter sich zu lassen.]

Hält er eine Tote in seinen Armen? Ist das das Ende, bevor es einen Anfang gab?
Oder fängt hier tatsächlich eine Beziehung an, die gelebt werden kann?
So bleibt der Schluss offen. Jede/r liest das Ende so, wie es ihr/ihm entspricht.
Schöne Grüße!
Christine

 

Hallo Christine,

Hält er eine Tote in seinen Armen? Ist das das Ende, bevor es einen Anfang gab?

Für mich sicher nicht, denn:
Ein Flügel zappelt noch.

und:

Die Nachtschicht beginnt, doch heute bleibt ihr Platz leer.

also nur heute, nicht: künftig / oder: doch ihr Platz wird leer bleiben ...

Wenn man es nicht genau weiß, was Sache ist, misst man solchen Details viel Stellenwert zu.

Viele Grüße
bernadette

 

Einfach schön! Und die erotische verwendung / Andeutung der mechanischen Handgriffe bei der Arbeit baut genug Spannung auf. Erst ab dem MOment, wo sie die abgestandene Luft hinausbläst und sinnlich aus der Wasserflasche trinkt, spürt man, dass da "was in der Luft liegt". Dann die aufklärung mit dem Schlüssel - man ahnt dann schon, dass sie zu zweit ein "Doppelleben" in seiner Wohnung führen, von dem er nichts weiß.
Vielleicht wäre es spannender gewesen, wenn parallel, während sie schläft, "seine Seite der medaille" und Innensicht geschildert würde? Vielleicht, dass er den Schlüssel absichtlich dort vergessen hat, dass er sie gar nicht als graue Maus empfindet? So ist der Schluss wirklich sehr abrupt.
LG venusBonn

 

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