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Die Liebe der Babys
1.) Etwa fünf Monate alt ...
„Herr Smoley, ich verstehe ja, dass Sie zur Zeit zu wenig Schlaf bekommen! Nur haben Sie auch hier in der Firma noch etwas Verantwortung zu tragen. Sie sind ja wohl kein Penner, oder? Gehen Sie jetzt nach Hause und bringen Sie sich auf Vordermann!“, hatte ihm sein Chef vor etwa zehn Minuten offenbart.
Hanno griff in das Handschuhfach.
Der hatte ja überhaupt keine Ahnung. Hanno begann zu zittern. Draußen auf dem Parkplatz sah er eine junge Mutter ihr Kleines aus dem Kinderwagen heben. Ihre Arme verschränkten sich über dem Rücken des Babys. Die Sanftheit in ihrem Blick war wie ein Brandmal in seinen Augen.
"Und Koch?", dachte er. Der wusste nicht, was es bedeutete, Vater von diesen Zwillingen zu sein. Dieser kinderlose Bastard. Für einen kurzen Moment beneidete er ihn. Erneut sah er durch die Frontscheibe seines Vans. Die Mutter auf dem Parkplatz küsste das Kind auf die Stirn. Ein eisiger Schauer huschte über seinen Nacken und das Bild dieser unertäglichen Harmonie verblasste. Es war wegen dieses abscheulichen Gedankens, der sich gerade durch sein gequältes Gehirn wand:"Susie ist schon wieder schwanger!"
Hanno biss sich auf die Lippen und öffnete die Schapsflasche.
„Unsauber hat er gesagt! Für all das, sehe ich noch topfit aus!“
ER wusste aber sehr wohl, dass Herr Koch keine Spielchen spielte. Noch einmal so in der Firma aufzutauchen - das wäre nicht drinnen gewesen.
Hanno begann zu schwitzen, er nahm einen ausgiebigen Schluck.
"Phua!"
Aber alles nicht seine Schuld.
Und Susie? Verdammt, dachte sich Hanno.
„Never change a running system!“
Das hätte er sich früher überlegen sollen. Wie schön war doch das Leben. So schön, als sie noch zu zweit waren ...
Hanno hatte noch nicht einmal seinen Mantel ausgezogen, stürmte sie ihm aus dem Wohnzimmer entgegen.
„Du bist schon da?“
„Ja, ähm …!
Susie fiel ihm ins Wort: „Das ist so toll!“
Ihre auffallende Freundlichkeit überraschte ihn.
„Ich freu mich so, Hanno!“
Er schluckte.
„Was?"
Ahnend, dass jetzt wieder etwas von den Kindern kommen würde. Hoffentlich nicht wieder was sehr Ungewöhnliches. Aber wenn es um die Zwillinge ging, war mit allem zu rechnen. Inzwischen …
Man mochte ihn darüber für verrückt erklären. Aber er war es nicht. Niemand konnte verstehen wie das war. Leonni hat ihm letzten Sonntag gesagt ...
Der Puls fing kurzfristig zu rasen an. Die Stirn wurde feucht.
Leonni hat ihm gesagt, dass sie ihn hasst. Gerade mal 19 Woche alt. 19 Wochen! Hanno fand es ja auch erstaunlich und vielleicht wäre er auch stolz auf seine kleine Tochter gewesen. Aber für Stolz war kein Platz in seinem Herzen. Die kalten blauen Augen seiner Tochter ließen kein Gefühl mehr zu. Außer Furcht. Panik ...
Hanno musste sich sehr beherrschen, dass er es Susie nicht entgegenbrüllte, dass es ihr endlich sagte.
Dann sah er, wie sich ihre Lippen bewegten. Er wollte es aber nicht wissen. Nichts mehr davon, wie toll doch seine Kinder waren. Wie außergewöhnlich hochbegabt. Es war ein Fluch und kein Segen ...
„Bitte nicht ...“, dachte er sich. Doch Susie sagte es. Locker und leicht – voller Euphorie. Hanno spürte, wie sie ihm damit eine Last auf die Schultern legte. Er konnte sich nicht freuen. ER konnte sich nicht ...
„Leon hat …! Leon hat gesagt: `Mami – ich hab dich lieb!`“
Seine Finger schlossen sich fest um den letzten noch geschlossenen Knopf seiner Jacke.
„Was?“, entfuhr es ihm abermals. Panik stieg in ihm hoch. Was?
„Leon hat ...“, wiederholte er ihre Worte.
„Ja …“, sagte sie mit manisch leuchtenden Augen.
„ … lieb! Ist das nicht – wundervoll?“
2.) Etwa sieben Monate alt ...
Leonni war eindeutig die Aufgwecktere der Beiden, dachte sich Hanno. Kein Wunder, dass sie auch den Ton angab. So dirigierte sie Leon nach ihren Vorstellungen herum. Er gehorchte. Und sie war auch die Listigere, wenn man diese Eigenschaft überhaupt einem knapp sieben Monate altem Säugling, zusprechen konnte. Aber Hanno hatte schon erfahren müssen, dass man das – jawohl, dass man das in manchen Fällen durchaus machen konnte.
Bei den beiden Kindern auf jeden Fall. Verzweifelt versuchte er seine zitternden Finger zu beruhigen. Er nahm sich das Bier vom Tisch.
„Wie schaffst du das nur? Listiges kleines, hinterhältiges Mistvieh.“, dachte er sich und genehmigte sich einen kräftigen Schluck.
Susie blickte von der Wickelauflage zu ihm hoch und schüttelte den Kopf.
"Jetzt säufst du schon jeden Tag, Hanno!"
"Ja, Papa! Besser weg gehn!"; Leonni lächelte Susie an.
"Ja, mein Schatz! Soll der böse Papa doch besser weg gehen!", sagte Susie.
"Aber ja doch meine Schätze - böser Papa wird gleich weg gehen!"
Hanno nahm noch einen Schluck, dann hörte er ein wütendes Fauchen. Leon hatte Mucki im Vorüberlaufen die Rassel an den Kopf geworfen.
„Ich hasse diese Kinder!“, dachte es sich und erschrack über sich selbst. Sein Blick fiel auf die kahlköpfige Leonni. Dann wieder auf Susie. Ihr Gesicht wirkte eingefroren.
Mucki schrie erneut. Diesmal wegen Leonni. Hannos Finger verkrampften sich zu kantigen Bögen.
"Hey. Lass doch die liebe Katze in Ruhe!", sagte er mit zitternder Stimme.
"Pfch.", machte Mucki und rammte der Kleinen ihre Krallen in den Oberarm.
"Aua! Mama!"
"Was ist denn?", sagte Susie:" Mann Hanno, so schaff doch dein dämliches Vieh raus!"
Hanno griff nach dem Bier. Als hätte er gewusst, dass dem allgemeinen Wahsinn gleich die Krone aufgesetzt werden würde. Fassungslosigkeit keimte in seinem Verstand, wuchs rasant und es dauerte nur einen Wimpernaufschlag, ehe sich dessen Ranken um sein Innerstes schlangen und ihm die letzten Reste von Normalität zu erdrücken drohten.
Es war ihm, als wäre er Gefangener eines bösen Traumes - gebannt starrte er auf seine Tochter. Zuerst drückte sie ihre beiden Handflächen auf den abgewetzten Bodenbelag, dann streckte sie ihrer Arme durch. Hanno sah es wie in Zeitlupe. Ihre Knie wackelten kurz - doch dann: Sie stand einfach auf und marschierte los. So, als hätte sie das immer schon getan.
Hanno ersparte sich, das zu kommentieren. Ein prüfender Blick zu Susie verriet ihm, dass es für sie keinen Grund zur Sorge darstellte.
"Na und.", hätte sie nur gesagt. NA UND! Das war überhaupt ihre Lieblingsantwort. Hanno brach den Gedanken abrupt ab.
"Wahnsinn!", flüsterte er.
Leonni ging zur Katze und gab ihr einen kräftigen Tritt.
"Nicht doch!", stammelte Hanno.
"Pfch!", sagte Mucki und verschwand unter dem Sofa.
Hanno begann zu zittern. Leonni streckte ihm die Zunge entgegen.
"Oh Gott!"
Sein Magen verknotete sich.
„Warum nur? Warum nur haben wir kein beschissenes Kondom verwendet auf dem Scheiß-Teppich?“
In seinem Kopf tobte ein Wirbelsturm. Gierig griff er nach dem Bier ...
"Ich kann nicht mehr - Gott, ich pack das nicht mehr!"
"Jammer nicht immer so rum! Das hat einen schlechten Einfluss auf die Kinder!", sagte Susie. Hanno ignorierte sie.
Seine Finger begannen aber noch stärker zu zittern.
Das konnte doch gar nicht stimmen. Niemals. Erst gestern hat er die Kleine von seinem Kollegen Michael gesehen. Die konnte noch kaum sprechen. Aber das Kind war schon fast zwei Jahre alt. Hanno hatte Angst …
Die Katze schrie. Hanno wurde wach. Er richtete sich auf. In seinem Mund schmeckte es nach abgestandenem Bier. Sein Schädel dröhnte.
Mucki schrie noch einmal. Qualvoll - dann brach der Schrei jählings ab. Panik kam auf.
Hastig stieg er vom Sofa, hielt inne und lauschte in die Dunkelheit. Angestrengt – es blieb still. Er setzte sich in Bewegung. Öffnete die Wohnzimmertüre und trat raus in den Flur. Ganz leise. Auf Zehenspitzen. Und auf Höhe des Badezimmers hörte er was.
„Flüstern?“
Das kam eindeutig aus der Küche. Hanno schlich weiter. Sein Herz pochte wild in der Brust.
„Pfch! Katzevieh! Pfch!“, hörte er es wispern.
Dann etwas lauter: „Nicht mehr! Nicht mehr – pfch!“
Hanno schlug das Herz bis zum Hals. Seine Finger drückten auf den Lichtschalter. Zitternd.
Das unsägliche Szenario wurde in grelles Licht getaucht.
„Pfch!“
Es dauerte länger als nur ein paar Schrecksekunden. Bedeutend länger, bis Hanno diesen Anblick verkraften konnte.
Der Verstand musste das erst noch richtig weichkauen, bevor er es hinunterschlucken konnte. In erträglich große Happen. Es war blankes Entsetzen.
Seine Finger verkrampfte sich - bis die Fingerkuppen rot wurden. Paralysiert glotze er auf das Zwiebelmesser in ihrer kleinen Hand. Blut - überall war Blut.
„Gott – Mucki? Nein!“
Hanno schnappte nach Luft, er begann zu taumeln.
„Oh Gott!“, presste er mit letzter Kraft heraus.
"War das deine Rache? Du kleine Missgeburt. Ja? War sie das ..."
Leonni sah zu ihm hoch. Ihre rosa Kleidchen war blutverschmiert. Hanno glaubte den Verstand zu verlieren.
„Papa.“
Ein Stück Fell klebte auf ihrem ansonsten kahlen Kopf! Leon stand ein paar Schritte von ihr entfernt.
„Papa!“, sagte Leonni nochmal.
„Katzevieh nicht mehr >Pfch<! Leonni hat kaputt gemacht!“
Hanno erbrach sich - sein Verstand hatte sich gerade verschluckt.
Ein grauer Schleier drängte sich in sein Blickfeld und seine Beine wurden taub. Hanno verlor das Bewusstsein ...
3.) Etwa siebeneinhalb Monate alt ...
"Endlich wieder daheim.", dachte Hanno und war froh, das Krankenhaus hinter sich gelassen zu haben. Eilig schloß er die Wohnungstüre und verdrehte den Schlüssel im Schloss. Beim Blick auf die Küchentüre begann er zu schwitzen.
"Diese blöde Sache ...", in der Hand hielt er noch immer die Zeitung.
Aber diese Geschichte hatte auch noch einen anderen Aspekt. Seine Fingerspitzen vibrierten leicht. Auf seinem Gaumen kitzelte es. Hanno brauchte jetzt unbedingt ein Bier.
„Verdammt! Was soll ich jetzt nur tun! Koch wird mich feuern!“
Hanno schaute verächtlich auf das "Drecksblatt".
„Susie! Ich weiß, dass ich es nur dir erzählt habe!“, dachte er.
„Du dumme Kuh! Scheiße!“
Hanno verlor langsam die Kontrolle. Die Beherrschung ...
Der Druck war allmählich zu groß. SEIN Verstand nahe daran zu zerbrechen. Er fing an, sich selbst Leid zu tun. Er war aber scheinbar der einzige. Denn selbst die werten Nachbarn schauten ihn schon komisch an. Wie einen Freak! Wie das größte Arschloch auf Erden ...
Und er glaubte es ja selbst schon bald.
"Das größte Arschloch auf Erden!"
Und würde er auf ewig im Höllenfeuer verbrennen - nicht auch nur irgendwer würde ihm eine Träne nachweinen.
Seine Finger verkrampften sich - man konnte sagen, standardmäßig. DAS, dachte er. Das hatte er auch bald nicht mehr unter Kontrolle ...
Das alles!
Nur noch beschämend.
Klar, dass jetzt alle dachten, dass er einen Vollschaden hatte. Hanno ging in die Küche und holte sich ein Bier.
„Das ist ja nicht mehr zu Aushalten – so ein Dreck ...“
Hektisch öffnete er die Flasche.
"Hasste Susie ihn etwa auch?"
Er lächelte bitter.
Mit zitternden Fingern schlug er die Zeitung auf.
„Verdammt! Es wäre ein Wunder, wenn mich Koch nicht rauswerfen würde.“
>>Blutiges Ritual? Vater sagt, es war ein Unfall ...<<, stand da, in fetten Buchstaben.
Schlimmer konnte es nicht mehr werden, dachte er. Obwohl: Susie und die Kinder würden heute wieder nach Hause kommen ...
Susie trat mit ernster Miene aus dem Schlafzimmer und schloss vorsichtig die Türe. Sie wirkte älter als sonst. Hanno wusste nicht genau woran es lag. Doch irgendwie hatte Susie nichts Begehrenwertes mehr für ihn. Ihr Verhalten war untragbar geworden ...
Hanno lächelte kalt, als sie sich zu ihm auf das Sofa setzte. Und es war wirklich nichts mehr da, wunderte er sich. Kein zärtliches Gefühl oder Verlangen. Alles weg.
Susie strich sich eine blonde Strähne aus den Augen und fuhr sich über ihren Bauch. Hanno schaute auf die Seite. Er fühlte sich betrogen. Von ihr, vom Leben ...
„Hast du wieder getrunken?“, fragte sie. Hanno überdrehte die Augen.
„Das ist das Einzige was du wissen willst? Du warst mich nur einmal besuchen im Krankenhaus!“
„Krankenhaus? Du meinst wohl Nervenklinik!“
Hanno schluckte.
"Ja ..."
Susie baute sich vor ihm auf - so als würde sie zum entscheidenden Schlag ausholen.
"Nun, weißt du.", sagte sie bedachtsam.
"Weil du immer sagst:`Die sind ja nicht normal!` Diese Tests in Wien, haben aber keine Begabungen festgestellt. Nur vielleicht die Motorik ..."
"Was! Eine Woche Tests. Die haben sich doch verstellt! Und du? Du deckst sie auch noch!"
Susie machte einen erschrockenen Gesichtsausdruck. Hanno wurde noch wütender.
„Hanno! Ach Hanno ..."
Hannos Augen folgten Suies pendelndem Zeigefinger.
"Die Leute reden schon über dich! Weißt du, was meine Mutter gesagt hat? Das ist mir alles so peinlich ...“
Hanno seufzte und strich sich über den fettigen Bart.
„Will ich gar nicht wissen!“
„Sie hat gesagt, dass du total überfordert bist. Dass du irgendeine Show abziehst, damit ich dich rauswerfe und du gut dastehst! Andere aber sagen:`Der ist ja verrückt ...`“
Hanno drehte sich zu ihr. Wutentbrannt. Glaubte Susie tatsächlich, dass das alles nur eine Show war. Das mit Mucki – glaubte sie, dass er seine liebe Katze tatsächlich selbst abgeschlachtet hatte? Damit er keine Freude mehr im Leben haben und sie ihn rauswerfen würde? Und dass er das alles über Leonni nur zum Spaß erzählte?
„Ist mir ja sowoeso schon alles egal!"
"Ah! Na klar!"
"Ja! Auch was in der Zeitung steht! Wie ist das überhaupt rausgekommen?“
Susie senkte den Blick.
„Ach! Na du!"
"Du hast es doch allen im Krankenhaus erzählt, als du erwacht bist! Von mir hat niemand was! Ich habe einfach nur gesagt, dass ich dich ohnmächtig in der Küche gefunden habe! Hanno.“
Susie zog ihre Schultern nach vorne, wie immer wenn sie log. Hanno hasste sie dafür. Er würde sie immer hassen. Sie raubte ihm die letzte Kraft ...
„Was?“,sagte er.
„Ja! Kann ich auch nichts machen, wenn du so blöd bist!“
„Was?“
„Ja!“
Susie triumphierte. Hanno stand auf. Er hielt es kaum noch aus. Seine Hand ballte sich zur Faust.
„Na klar!“, fauchte er.
„Du bist ja eine tolle Frau! Zum Pferdestehlen!“
„Wohl eher nicht!“, sagte Susie:„Dafür bist du mir zu unfähig!“
Hanno verließ den Raum. Er musste …
Er musste weg hier. Bevor noch ein Unglück geschah.
4.) Etwa zehn Monate alt ...
„Ganz normale Kinder?“
Es war Sonntag und Hanno beobachtet vom Sofa aus, wie Leon mit den Bauklötzen spielte. Leonni hing an Mamas Brust.
„Ganz normal?“
Mit Entsetzen betrachtete er die Zeichnung in seiner Hand, die Leon gerade gemalt hatte.Mit einer Mischung aus Erfurcht und Panik schaute Hanno auf die fünf, darauf abgebildtetn Figuren. Auf der einen Seite der Zeichnung standen offenbar Susie, Leonni und Leon. Alle drei lächelten. Auf der anderen Seite er und ein kleines Baby. Der Gesichtsausdruck dieser Figuren wirkte traurig. Hanno schluckte. Woher konnte er nur wissen, dass ...? Eine unsägliche Müdigkeit breitete sich in ihm aus.
"Und das jetzt!"
Hanno verzog das Gesicht.
„Nette Familie! Was für ein Glück ...“, sagte er mit schwacher Stimme. Susie ignorierte ihn.
Hanno nahm sich das Bier.
„Alles ganz normal? Lediglich die motorische Entwicklung! Spitze ...“
Hanno sah argwöhnisch wie Leon den fünfzigsten Bauklotz übereinander schlichtete.
„Die motorische Entwicklung ...“
Dann nahm er einen ausgiebigen Schluck – Leon sah ihn an.
„Pfch!“
Hanno machte sich gar nicht die Mühe, Susie darauf aufmerksam zu machen. War ja nur ein simples >Pfch!“.< Keinesfalls eine Anspielung auf Mucki. Nein, keinesfalls.
Hanno stellte die Dose zurück auf den Tisch. Leon lächelte.
„Papa! Pfch ...“
Im Augenwinkel sah Hanno wie Leonni den Kopf zur Seite drehte.
„Papa! Katze kaputt gemacht ...“, ihre Augen funkelten dämonisch.
„Ja, Papa hat die Katze kaputt gemacht, mein Schatz!“, sagte Susie. Ihre Stimme klang zärtlich. So voller Liebe. Hanno war es, als müsste er ihr gleich eine reinhauen.
Aber ER beobachtete sie nur. Er ...
Er fühlte …
…sich dumpf …
5.) Etwa zwölfeinhalb Monate alt ...
ER fasste es noch immer nicht. Mit tränennassen Augen nahm er diesen unsäglichen Zettel. 2856 Euro. Sein letzter Gehaltszettel. Es schnürte ihm die Kehle zu. Was wohl Susie dazu sagen würde. Sein Chef hatte ihm heute gekündigt.
„Herr Smoley, als Mann, der die Firma nach außen hin vertritt, sind Sie untragbar geworden. Wissen Sie, die Hälfte Ihrer Klienten hat schon das Weite gesucht!“
„Aber ...“, hatte Hanno geantwortet.
„Nicht aber, Herr Smoley! Es tut mir Leid!“
Herr Koch hat ihn darauf ins Sekretariat gebeten, wo er seine Schlüssel abgeben musste.
„Bis Montag haben Sie Zeit, ihr Büro auszuräumen.“
„Klar, Herr Koch. Ich verstehe Sie!“
Doch Hanno hat in Wahrheit gar nichts mehr verstanden. Und er fühlte sich gerade so mies wie noch nie.
Dieser Zustand sollte sich auch nicht bessern, befürchtete er. Im Gegenteil. Bald würde alles – ja alles nur noch viel schlimmer werden.
Hanno drückte die Zigarette aus.
In drei Wochen würden die kleinen Bastarde Verstärkung erhalten. In drei Wochen. Hanno griff nach einer weiteren Zigarette. Verdammt! Wer zum Teufel, sollte das alles bezahlen?
6.) Etwa vierzehn Monate alt ...
Es war ein weiteres Mädchen. Hanno wurde es warm. Ein Mädchen – ein richtiges, ein normales Mädchen.
Mari. Dieser Name gefiel ihm.
„Mari!“, sagte er zu Susie.
„Ein schöner Name!“
Hanno bemerkte gar nicht, dass Susie inzwischen eingeschlafen war.
„Mari!“
„Papa?“
Hanno sah zu Leonni rüber. In ihren Augen wohnte Hass. Purer Hass. Hanno blickte auf den Boden.
„Leonni Mari nicht lieb! Leonni Papa nicht lieb!“
Hanno tat so als würde er das nicht hören und bestaunte weiterhin dieses kleine Wesen vor ihm im Stubenwagen.
Ja, das Unglück war immer kleiner geworden in der letzten Zeit, fand er. Sogar Susie schien ihn wieder etwas zu mögen, schätze er die Gesamtsituation völlig falsch ein.
„A tu tu tu! A tu tu tu!“
Ach, war das Leben nicht schön. Seine Kieferknochen knackten.
Vor ein paar Wochen hätte er das selbst niemals für möglich gehalten. Aber jetzt war er froh über dieses Kind. Über Mari. Er liebte sie so. Er konnte sie lieben.
Zärtlich streichelte er seiner TOCHTER über das flauschige Haar.
Es war alles so schön. Ganz gleich, was auch passiert war. Derzeit fühlte er sich so ausgeglichen.
„A tu tu tu! A tu tu tut!“
Das Schlimmste war nicht eingetroffen. Mari war ein liebes, ein normales Kind.
„Na meine Süße!“
Gleichgültig was mit den Zwillingen war. Er hatte wieder einen Grund, zuversichtlich zu sein. Mit strahlenden Augen blickte er zu Susie auf dem Sofa. Sein mürber Verstand zeigte ihm ein harmonisches Bild.
"Ach!"
So ein süßes Baby. Wie die Mama. Hanno lächelte und bemerkte gar nicht wie schizophren das alles eigentlich war. Sein Verhältnis zur Familie. Doch tief in ihm drinnen, brodelte sie weiter. Die Furcht. Er bemerkte es nicht, aber seine Finger zitterten wieder …
„Mari, Mari, Mari ...“
Er blickte nochmal zu Susie.
„Ach, ist deine Mama nicht schön, mein Schatz?“
Es gab nun nichts mehr, was ihm diese Freude nehmen konnte, dachte er. Nicht einmal die Zwillinge.
Dann zog jemand an seinem Hosenbein. Er drehte sich um, sein manischer Blick heftete sich auf Leonni..
„Papa! Leonni hasst Mari! Leonni hasst Papa!“
Seine Hände verkrampften sich.
„Nicht einmal die Zwillinge ...“
Er würde schon was finden, um sie zu besänftigen ...
7.) Etwa sechzehn Monate alt ...
In der einen Hand hielt er die Puppe für Leonni. In der anderen einen Spielzeugrevolver. Dieser Punkt würde an ihn gehen. Eindeutig. Seine Vorfreude war riesig.
Und Susie? Für die hatte er noch etwas viel Besseres. Hanno gluckste.
"Hehehe ..."
Denn das Vorstellungsgespräch heute war gut gelaufen. Es war super, dass er bald wieder als Vermögensberater arbeiten würde können. Bei S&T Finanzberatung. Das war auch höchste Zeit. Mari war jetzt neun Wochen alt.
„Mari, Mari, Mari ...“, summte er vor sich hin.
Freudig klemmte er sich die Puppe unter das Kinn, nahm den Schlüssel und steckte ihn ins Schloß. Die Türe klappte auf ...
„Hallo, meine Schätze! Bin wieder da!“
Doch Hanno erhielt keine Antwort.
„Hallo?“
Nichts. Kein Ton. Hanno wunderte sich. Wo waren die denn alle? Suchend wanderte sein Blick den Flur entlang. Alle Türen geschlossen? Ungewöhnlich!
„Meine Allerliebsten? Ist euch was passiert?“
Hanno wurde nervös. Die Zwillinge?
„Hallo!“, die Spielsachen in seinen Händen begannen zu vibrieren.
Noch immer nichts, dann entdeckte er einen Zettel auf dem Boden. Hanno ging hin und bückte sich.
„Was zum Teufel?“
Die Haut seines Gesichtes wurde blass und die Spielsachen fielen aus seinen Händen. Der Atem beschleunigte sich.
Hannos manische Phase war vorüber.
Denn das was da vor ihm lag, war die Zeichnung von Leon. Er nahm sie hoch, seine Finger schlossen sich krampfartig um das Papier.
"Die Zeichnung!", stammelte Hanno. Sie sah nun völlig anders aus.
„Susie! Mari?“
Hanno sprang auf, das Blatt fiel auf den Boden.
„Mari!“, brüllte er, während er noch einmal verzweifelt auf den Zettel starrte. Auf das blutrote Kind - auf Mari. Auf seine durchgeschnittene Kehle. Die anderen drei lächelten noch immer ...
„Nein!“
Das Glück, es war …
Es war gestorben. Für immer weg. Er wusste es in dem Moment, als er sechs krakelige Buchstaben unter der Zeichnung entdeckte.
LEONNI.
Unter diesem Horrorbild.
Hanno rang nach Atemluft. Aber, dachte er. Aber, vielleicht war es nur ein Scherz, oder eine bösartige Drohung?
Ja, denn sowas konnte nicht sein! Das konnte kein vierzehn Monate altes Kind zu Stande gebracht haben. Sowas nicht. Seine Augen hefteten sich nochmal auf jedes Detail der Zeichnung. Sezierten jeden Millimeter.
„Wie sollte das denn gehen? Das können sie gar nicht! Das können sie gar nicht!“
Hanno stand auf. Das konnten sie nicht! Langsam ging er den Flur entlang und näherte sich der Wohnzimmertüre.
„Nein! Ein Scherz! Nur ein Scherz!“
Seine Hand drückte die Klinke nach unten. Der Verstand war bereit zu verenden.
„Wie denn?“
Hanno öffnete die Türe.
„Hallo Papa!“, sagten die Zwillinge im Duett.
Hanno erschrack. Er sah zu Susie. Sie strahlte ihn an. Ihr Gesicht war blutüberströmt. Hannos Knie gaben nach. ER spürte einen kalten Dorn in seinem Herzen.
Leon begann lauthals zu lachen.
„Papa?“, Leonni zeigte auf das rote etwas vor ihr auf dem Boden.
Sein Verstand erbrach sich. Mit letzter Kraft starrte er auf das, was die Zwillinge und (SUSIE!) von ihr übrig gelassen hatten. Dann erst hörte er ein Schluchzen. Er sah auf.
„Susie!“, hauchte ein letzter Teil in ihm. Der Rest seiner Seele. Sie sah ihm tief in die Augen. Ihr Mund zeichnete ein zaghaftes Lächeln in ihr Gesicht.
„Heul, Heul! Hanno – hahaha ...“
„Susie! Was – oh mein Gott! Susie?“, winselte Hanno.
„Papa?“, Leonni trat auf ihn zu.
„Wieso?!“
Susie zuckte mit den Achseln und nahm Leons Hand.
„Weil ich meine Kinder liebe!“
„Auch Mari war dein Kind!“, brüllte er sie an.
„Nein, Mari war dein Kind, Hanno! Nur deins ...“
Hanno schrie. Dann fasste ihm Leonni auf die Schulter.
Ihre blauen Augen strahlten.
„Papa?“, sagte sie mit engelhafter Stimme.
„Papa? Wird schlafen gehen?“
Leonni lächelte, als sie ihm das Messer entgegenstreckte. Einige Augenblicke war es still. Leonni wartete geduldig.
„Los doch! Tu es! Verpiss dich endlich aus unserem Leben!“, sagte Susie.
„Aber …!“, Hanno resignierte.
„Damit kommst du sowieso nicht klar, du Pfeife.“
Hanno stimmte ihr im Gedanken zu. Ja, damit würde er nicht klar kommen.
„Na los! Leonni wird nicht ewig warten!“
„Ja, Mama Recht haben.“, Leonni lächelte fröhlich.
Dann traf Hanno die einzige noch vertretbare Entscheidung.
„Ja!“, sagte Hanno: „Papa wird schlafen gehen!“
Zittrige Finger schlossen sich um die Klinge.
„Papa? Jetzt Leonni Papa lieb!“
„Ich weiß, mein Schatz! Ich weiß!“
Ein letztes Mal blickte er in Susies blaue Augen. Dann drückte er sich die Klinge in den Bauch. Alles wurde warm.
„Aja! Die Zeichnung ist von mir!“
Aus Hannos Mund schoß Blut.
„Das wär ja was? Wenn das die Kinder gemacht hätten ...“ , sagte sie.
Ein archaisches Gurgeln war das letzte Kommentar, zu dem er gerade noch fähig war ...