Die letzte Zeile
Die letzte Zeile
Er überlegte auf einmal wie lange er schon in dieser Position saß. Ohne eine Antwort zu finden machte er sich zum Aufstehen bereit und merkte dabei, dass sein rechtes Bein vollkommen eingeschlafen war. Also ließ er erstmal von seinem Unternehmen ab und sagte sich, dass er dort bestimmt schon eine ganze Weile so gesessen hat.
Wenn er jetzt, ohne sich irgendwo festzuhalten, aufstehen werde, dachte er, werde er sicherlich hinfallen. Also legte er beide Hände auf den Tisch und hob langsam seinen müden, dicklichen Körper. Als er sich aufgerichtet hatte, fing er an, immer noch am Tisch stützend, sein rechtes Bein in der Luft hin und her zu schaukeln.
Aber es war immer noch taub und wollte sich nur widerwillig bewegen.
Als es endlich soweit war und das Gefühl in seinem Bein mühevoll wiederkehrte, wurde ihm bewusst, dass seine gesamten restlichen Glieder in einem beklagenswerten Zustand waren. Seine Beine und Arme nämlich, taten ihm weh.
Und sie taten nicht weh, weil er sie sich verletzt oder er lange körperlich gearbeitet hatte. Sie taten ihm weh weil er so lange, ohne sich zu bewegen, in seinem Stuhl saß.
Starr und regungslos.
Er konnte sich nicht erinnern wann er zum letzten Mal so eine lange Nacht erlebt hatte. Hatte er eine derartige Nacht überhaupt schon mal vorher erlebt?
Nun war das Gefühl im Bein in soweit wiedergekehrt, dass er den Tisch loslassen konnte und vorsichtigen Schrittes auf das Fenster zuging. Als er dort angekommen ist, machte er es auf und ein kühler Morgenwind wehte ihm ein paar winzige Regentropfen ins Gesicht. Der Himmel war dunkel aber es war schon lange hell.
Wie spät wird es wohl sein, dachte er und drehte seinen Kopf in die Richtung der Uhr an der Wand. Es war kurz vor neun.
Er richtete seinen Blick wieder zum Fenster und dachte sich, dass es bestimmt nicht lange dauern würde bis sie hier aufkreuzten. Immerhin habe er bis heute morgen die letzte Gelegenheit dazu gehabt es sich anders zu überlegen. Aber die Zeit war mittlerweile um und er wusste, dass man nichts mehr machen konnte.
Jeder der Nowak kannte wusste, dass es nach dem Ablauf einer bestimmten Frist praktisch unmöglich war mit ihm noch etwas zu verhandeln. Das musste man ihm lassen, er hielt sich an Termine und zwar nicht nur an die, die von anderen festgesetzt wurden, sondern auch an die, die er selbst festgesetzt hatte. Immer.
Also seufzte der Mann am Fenster und blieb dort noch eine Weile stehen, mit der Erwartung, Nowak würde jeden Augenblick am Horizont erscheinen.
Als es aber immer noch nicht soweit war und er gemerkt hat, dass sein Bein noch immer kribbelte, beschloss er zum Schreibtisch zurück zu gehen.
Als er die Hälfte des Weges hinter sich hatte klopfte es leise an der Tür. Das kann doch nicht sein, er hätte ihn doch über den Hof gehen gesehen. Es war der einzige Weg in sein Arbeitszimmer. Außerdem war das nicht die Art des Klopfens wie er es von Nowak gewohnt war. Er kannte nämlich eine Menge von Klopfarten und konnte sie sehr gut unterscheiden. Während der 32 Jahre, die er als Direktor eines Museums erlebt hatte, hate er genug Zeit um das zu lernen. Am Klopfen, wie auch am Gang des Menschen, konnte er sehr gut seinen Charakter oder zu mindestens dessen Teile erkennen. Und das war definitiv nicht Nowak.
„Bitte.“, sagte er sanft und beruhigt, denn er wusste wer nun das Zimmer betreten wird. Es war Malinowski - der Hausmeister.
Dieser betrat, mit seiner Mütze in der Hand, lächelnd das Zimmer und sagte bescheiden und freundlich:
„Guten Morgen Herr Direktor.“
„Guten Morgen.“ , erwiderte er ebenso freundlich.
Malinowski wollte ihm etwas mitteilen, wusste aber nicht wie er anfangen soll und sah sich verlegen links und rechts um. Dann machte er einen Schritt vorwärts in Richtung des Direktors und öffnete den Mund. Aber es dauerte noch einige Sekunden bevor er was sagte. Man sah in seinem Gesicht, dass ihn etwas bedrückte.
In der Zwischenzeit kam der Direktor zu der Erkenntnis, dass er jetzt wisse, was als nächstes kommt.
„Der Herr Nowak hat soeben angerufen.“, sagte Malinowski schließlich resigniert.
„Er sagte, dass Sie die Frist nicht eingehalten haben und, dass er mit Ihnen nicht mehr diskutieren wird. Ich habe versucht ihn zu besänftigen und schlug ihm vor Ihnen noch ein wenig Zeit zu geben aber er fauchte mich an, dass er mit einem Hausmeister noch weniger diskutieren wird und knallte den Hörer auf.“
Während Malinowski so sprach, schaute der Direktor auf den Kalender. Es war der erste September 1952. Ob sich Nowak absichtlich dieses Datum als Stichtag ausgesucht hat? Das wäre natürlich sehr möglich aber es könnte sich natürlich auch um einen Zufall handeln.
„Und mehr hat er nicht gesagt?“, fragte er den Hausmeister.
„Na ja, er sagte, dass er sich jetzt mit dem Revierwachtmeister und einem Handwerker auf den Weg zu uns macht.“
Also würde es nicht mehr lange dauern bis alles vorbei ist, dachte der Direktor.
„In Ordnung. Gehen sie nach unten und halten Sie die Augen auf. Wenn es soweit ist rufen Sie mich bitte.“
„Selbstverständlich“, sagte Malinowski und ging hastig aus dem Zimmer.
Wie können es diese Verbrecher auch nur wagen so einen guten und gebildeten Menschen derartig erniedrigend zu behandeln, dachte er unterwegs. Er arbeitete gerne mit dem Direktor zusammen und es war wahrscheinlich der angenehmste Vorgesetzte den er jemals gehabt hatte.
Währenddessen saß der Direktor wieder in seinem Stuhl und wartete geduldig auf die Vollstrecker.
Es wäre doch so einfach gewesen dem zu entgehen, wenn er sich natürlich an die Frist gehalten hätte und vor allem damit einverstanden wäre. Aber er kannte Prinzipien die von keiner Kraft der Welt umgestoßen werden konnten. Nicht mal er konnte das machen obwohl es für ihn sehr oft vorteilhafter gewesen wäre wenn er es doch getan hätte. Aber er konnte es nicht. Vor allem nicht in dieser Angelegenheit.
Wenn es doch nur um ihn alleine gehen würde. So war es aber nicht.
Wie viele Opfer habe er denn schon gebracht, dachte er erzürnt, wie viele Demütigungen musste er über sich ergehen lassen. Aber es lasse sich nichts mehr ändern und die Last der vergangenen Sünden, die er nicht mal selber begangen habe, müsse nun von ihm getragen werden.
Plötzlich ertönte das Telefon und unterbrach seine Gedanken. Er ließ es noch einen Augenblick lang klingeln bevor er den Hörer abhob:
„Ich höre“, meldete er sich freundlich aber diesmal bestimmt.
„Sie sind jetzt da und warten unten auf Sie“, Malinowskis Stimme war beunruhigt.
„Sagen Sie ihnen, dass ich gleich unten sein werde.“, sagte der Direktor in einem perfekten Polnisch mit einem leichten Akzent und legte den Hörer auf.
Die Sprache, an der die Besten verzweifelten, brachte er, im Laufe der Jahre, durch präzise Arbeit und konsequente Konzentration unter seine Kontrolle . Und obwohl er sie lernen musste, fühlte er sich in all den Jahren nicht gezwungen dies zu tun, nur weil andere es so verlangten. Nein, er fühlte nur den Zwang der Notwendigkeit, sich einer neuen Situation anzupassen. Außerdem liebte er Herausforderungen. Und er liebte mittlerweile diese schöne und gnadenlose Sprache.
Aber er hatte nie aufgehört auf Deutsch zu denken. Man könne ihm verbieten es zu sprechen, dachte er immer, oder seine Herkunft zu leugnen und er würde es in der Not tun. Aber deutsch zu denken, das konnte ihm nun mal niemand nehmen. Nicht sie oder sonst jemand. Er würde niemals damit aufhören. Sie könnten ihn niemals vollkommen „entdeutschen“, selbst dann nicht, wenn er es gewollt hätte.
Der Direktor stand auf, drehte sich in die Richtung der Tür und ging mit erhobenem Haupt in ihre Richtung. Bevor er sie aber öffnete, blieb er kurz stehen und schaute auf die Wand links neben ihm. Dort hing ein Fotoporträt eines greisen Mannes.
Im Treppenhaus konnte er bereits die Stimmen von ein paar Männern hören, die auf dem Hof eine Unterhaltung führten. Je tiefer er die Treppe hinab stieg, desto lauter wurde für ihn das Gespräch draußen. Schon bald konnte er Details entnehmen. Es ging um nationale Notwendigkeiten, um „Entdeutschung“ und die Entfernung der Zeichen der Tyrannei.
Also wie immer. Wie lange das wohl noch gehen würde? Er hätte doch schon soviel getan: die Sprache, die Anpassung, die Verleugnung, die Demütigung. Aber er hätte noch mehr bezahlt, viel mehr, wenn es sein müsste. Er wollte nur in seiner Heimat bleiben und er war bereit viel dafür zu geben. Deswegen war er dort wo er eben war.
Sogar seinen Namen habe er geändert und so wurde aus „Sch“ ein „Sz“, aus „i“ ein „y“ und, dass das „von“ verschwand, verstand sich von selbst. Er hieß schon lange nicht mehr Rudolf von Schindler, sondern Radoslaw Szyndler.
Aber das, was man von ihm jetzt verlangte, war für ihn kein Thema. Es war nicht mal wert einen Gedanken daran zu verschwenden. Diesmal ging es nicht um ihn. Diesmal ging es nicht um seine Prinzipien, sondern um die eines anderen. Und diese Prinzipien kannte er mehr als sehr gut. Es ging um den Stolz und das Recht eines anderen. Es ging um Verpflichtung und um Tradition.
Es war nicht mehr seine Tradition aber er fühlte sich eben verpflichtet sie zu wahren.
Unten angekommen ging er auf den Hof und traf dort vier Männer an. Es waren der Hausmeister, Nowak, der Wachtmeister Nowicki und ein ihm unbekannter Mann, der aber gewiss der Handwerker sein sollte.
„Guten Tag meine Herren.“, sagte er knapp. “Herr Nowak, ich habe meine Meinung nicht geändert. Ich bitte Sie noch mal, aus tiefstem Herzen, alles so zu belassen wie es ist.“
Nowak war kein vollkommen überzeugter Kommunist; er war aber dafür ein pflichtbewusster und treuer Beamter. Schon immer. Er seufzte laut auf und antwortete resigniert: „Herr Szyndler, Sie wissen ganz genau, dass es erstens nicht an mir liegt. Zweitens, wie lange geht das Ganze eigentlich schon? Ich verstehe Sie ja, aber die höhere Macht. Sie wissen schon. Außerdem hatten Sie ein Angebot erhalten: Namensänderung oder sie muß weg. Sie haben die Frist nicht eingehalten und ich kann nichts mehr für Sie tun. Wissen Sie nicht was da oben jetzt los ist? Die achten auf jedes Detail und Sie wollen wahrscheinlich, dass ich für Sie meinen Kopf riskiere? Nein, mein lieber das ist es mir nicht wert. Jetzt versuchen Sie es mal aus meiner Position zu sehen.“
Rudolf von Schindler konnte es aber nicht.
„Wissen Sie was“, fuhr Nowak fort und legte ihm väterlich die Hand auf die Schulter, “geben Sie uns einfach den Schlüssel, wir gehen da rein, erledigen es diskret und Sie bleiben hier und brauchen sich das nicht mit anzusehen.“
„Nein, ich werde Sie begleiten“, gab der Direktor eindeutig zu verstehen.
Nowak zuckte mit der Schulter, lächelte dabei aber verständnisvoll: „ Ich kann Sie wirklich verstehen. Bitte, nach Ihnen.“
Schindler ging auf der Stelle los und alle Vier folgten ihm. Mit leisen Schritten überquerte er den Hof und trat durch das Tor auf den Bürgersteig.
Sie gingen nun an einer Straße entlang – überaus verkehrsarm - in Richtung eines auf der anderen Seite liegenden Wäldchens. Der Kirchturm über den Bäumen verriet, dass es sich dabei um einen Friedhof handelte. Als die Mauer und schließlich das Tor sichtbar wurden, überquerten sie die Straße ohne nach links und rechts zu schauen.
Der Direktor, nahm aus seiner Hosentasche einen Schlüsselbund heraus. Da der Friedhof offiziell unter dem Denkmalschutz stand und erst demnächst wieder benutzt werden sollte, besaß er einen Schlüssel.
Das Tor öffnete sich und sie betraten den Pfad. Es sah aus wie in einem Park, denn es gab nur wenige Grabsteine. Jene, welche sie erblicken konnten, waren meistens anspruchsvoll gestaltet. Allerdings waren sie „bearbeitet“ worden und die sämtliche Beschriftung fehlte. Die gewöhnlichen Grabsteine und Kreuze lagen übereinander gestapelt an der Mauer. Eines von diesen anspruchsvollen Grabsteinen war aber noch in seiner ursprünglichen Form. Er war gepflegt und die eingemeißelten Buchstaben glänzten, vergoldet wie sie waren, obwohl keine Sonne schien. Vor kurzem habe er ihn restauriert, dachte Direktor Schindler als sie schließlich davor standen.
Alle sahen schweigend das Denkmal mit dem Kreuz darauf an.
Rudolf wusste aber eins – die bevorstehende, angebliche Damnatio Memoriae würde Stein vernichten, jedoch nie die Erinnerung.
Nowak hob den Kopf und sagte zum Handwerker: „ Herr Mieciu, wenn ich Sie bitten darf.“
Herr Mieciu stellte ohne etwas zu sagen seine Gerätetasche auf den Boden und öffnete sie. Nach einem Augenblick holte er einen Hammer und eine Meisel heraus.
Mit einem ernsten Gesichtsausdruck ging er auf das Grab zu und als er dort ankam, setzte er die Meisel an. Gerade in dem Augenblick als er mit dem Hammer ausholen wollte, vernahm er die Stimme des Direktors: „ Hören Sie auf damit.“
Herr Mieciu tat es und schaute verdutzt Nowak an. Dieser verdrehte die Augen, holte tief Luft und hätte beinahe was gesagt, wenn der Direktor nur stehe geblieben wäre.
Aber er ging zum Herr Miecio und nahm ihm den Hammer und die Meisel aus der Hand. Dieser widersprach nicht.
„Gehen Sie bitte zur Seite“. Herr Miecio widersprach erneut nicht.
Rudolf sah die Schrift an und verabschiedete sich von ihr in Gedanken zum letzten Mal. Es war nur eine Inschrift, nicht die Erinnerung. Zum letzten Mal las er sie:
„ Hier ruht
in Gott
unser lieber Vater, der Arzt
Friedrich von Schindler
geb. 05.09.1864
gest. 21.03.1937
In ewiger Erinnerung“
Dann setzte er die Meisel an, holte mit dem Hammer aus und schlug zu. Nach und nach verschwand die Inschrift. Er tat es lieber selbst und behielt in Erinnerung alles so wie es war.
Der Hausmeister Malinowski, beobachtete die Szene schweigend und merkte nicht wie ihm Tränen über die Wangen liefen....