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Die letzte Vorstellung
Das Heim der Kleinbuchstaben war in Aufruhr. Beim morgendlichen Durchzählen war aufgefallen, dass n verschwunden war.
„Das kann nicht sein“, rief das große W, das in der Nacht Aufsicht gehabt hatte. „Ich habe nichts bemerkt. Es ist keiner rein gekommen und niemand raus gegangen.“
„Kein Wunder, dass du nichts gesehen hast“, konterte das kleine s. „Als ich um Mitternacht auf die Toilette musste, da hast du tief und fest geschlafen und zwar bei offener Tür.“
W baute sich vor dem s auf und wirkte dadurch noch größer. „Bei mir ist aber niemand vorbei geschlichen.“
„Aber irgendwo muss Klein-n doch sein!“ s war ganz aufgeregt. Auch die anderen Buchstaben redeten wild durcheinander, bis man sich in Gruppen aufteilte und das ganze Haus absuchte.
Doch Fehlanzeige.
„Und was machen wir nun?“, fragte s die anderen. „ Fürs erste kann ja das m die Aufgabe von n übernehmen. n und m werden sowieso immer so schusselig geschrieben, dass man oft nicht unterscheiden kann, ob der Buchstabe nun einen oder zwei Bogen hat.“
m nörgelte zwar etwas, aber dann willigte es doch ein, seinen Kollegen zu vertreten.
Es war in der Mittagspause, als ein Brief ins Haus flatterte. Er war adressiert an die „Gruppe der Kleinbuchstaben“, allerdings ohne Absender.
„Was da wohl drinnen steht?“, fragte m neugierig und schob sich einen Bissen Kartoffel in den Mund.
„Machen wir es halt auf“, schlug s vor und zerriss den Umschlag.
Auf einem Papier waren ausgeschnittenen Buchstaben aus der Zeitung aufgeklebt.
Der Text lautete: „Wenn ihr Klein-n lebend zurück haben wollt, dann bringt morgen um drei Uhr Nachmittags zwei Millionen bunte Konfettischnipsel zur alten Fabrik am Ende des Dorfes. Keine Polizei.“
Alle Buchstaben sahen erschrocken von ihrem Essen auf.
„So, nun wissen wir, dass n entführt worden ist. Wir müssen sofort die Großbuchstaben informieren. Sie müssen uns helfen“, schlug s vor und rannte sogleich hinüber in das Haus, in dem die großen Kollegen untergebracht waren.
Zusammen mit A und F kehrte s zurück.
„Wo bekommen wir soviel Konfetti her?“ Dies war die erste Frage, die die Großen stellten.
Klein-o meldete sich und sagte: „Ich habe einmal mitbekommen, wie Benny, der Junge aus der dritten Klasse zu Silvester beim Kiosk an der Straßenecke Konfetti gekauft hat. Dort sollten wir vielleicht fragen.“
Sofort machten sich o und p auf den Weg. Der Kioskbesitzer staunte nicht schlecht, als die beiden Buchstaben bei ihm nach Konfetti fragten.
„Tut mir Leid, meine Lieben“, bedauerte er. „Ich habe keine Papierschnipsel mehr. Die letzten Tüten habe ich zu Fasching verkauft. Die neue Lieferung von der Fabrik bekomme ich erst wieder in vier Wochen.“
„Vier Wochen?“ Erschrocken sahen die beiden Buchstaben den Verkäufer an.
„Sorry, aber schneller geht es nicht.“
Betrübt trotteten o und p unverrichteter Dinge ins Heim zurück.
Als sie es den anderen erzählten, kam eine andere Frage auf. Ob man das Konfetti auch selbst herstellen konnte?
„Das ist eine mordsmäßige Arbeit. Ich habe es mal bei den Kindern in der dritten Klasse gesehen. Sie arbeiteten mit Prospekten und einem Locher. Das ist zu schwer für uns“, sagte s und damit war die Frage auch vom Tisch.
„Jetzt können wir nur auf die Suche gehen. Vielleicht finden wir n noch vor Ablauf der Frist“, schlug Groß-A vor und zusammen mit Groß-F machte es sich davon.
Sie liefen durch die Straßen der Stadt, fragen die arabischen, die griechischen, die russischen Buchstaben und die ägyptischen Zeichen, die gerade zu Besuch waren. Sie stellten den Zahlen und den Satzzeichen immer wieder dieselbe Frage: „Hat jemand von euch das kleine n gesehen?“
Abends kamen A und F todmüde nach Hause zurück. Keiner der Befragen hatte etwas Außergewöhnliches bemerkt.
Am nächsten Tag, gleich in der Frühe, schlich Klein-s sich aus dem Heim. Es wollte die Buchstaben von der Frühschicht fragen, vielleicht war ihnen ja etwas aufgefallen. Nach einigen Metern lief ihm ein müdes Fragezeichen über den Weg.
„Hallo, Fragezeichen! Hast du unser kleines n gesehen? Es ist seit gestern spurlos verschwunden.“
„Das n, sagst du? Ich glaube, ich habe es gestern Nachmittag gesehen. Aber wo? Wart mal.“ Angestrengt dachte das Fragezeichen nach und verbog sich dabei noch mehr.
„Ich hab’s!“, rief es plötzlich aus. „Beim Zirkus. Ja, es war beim Zirkus. Es schaute aus einem der Schaustellerwagen heraus und sah sehr traurig aus.“
„Danke für deine Hilfe!“
s rannte flink nach Hause.
„n ist beim Zirkus!“, rief s gleich beim Betreten des Speisesaals.
„Aber ich war gestern nach der Vorstellung dort“, entgegnete Groß-A. „Ich habe alle Wagen durchsucht und nichts gefunden.“
„Aber es muss dort sein“, beharrte s. „Das Fragezeichen lügt nicht. Es hat Klein-n an einem der Wohnwagenfenster gesehen. Es sah sehr traurig aus.“
„Die Buchstaben beim Zirkus waren alle lustig und wohl gelaunt. Allerdings das kleine u war schon etwas niedergeschlagen. Na ja, kein Wunder, denn das große K hatte es fest im Griff. Es konnte sich kaum bewegen. Ich werde mich noch mal auf dem Gelände umsehen. Aber ihr solltet jetzt los, sonst kommt ihr zu spät zur Arbeit.“
Beim Aufstehen stolperte Klein-u so unglücklich, dass es einen Kopfstand machte.
„Seht euch das u an. Es macht einen Kopfstand und sieht dabei aus wie ein n!“, lachte m laut auf.
„Das ist die Lösung!“ Alle Kollegen sahen s überrascht an.
„Wenn das u sich umdreht und aussieht wie ein n ….“
„… dann sieht ein umgedrehtes n aus wie ein u“, vervollständigte Groß-A den Satz. „Dann war das kleine u in den Armen des großen K gar kein u …“
„… sondern unser entführtes n“, übernahm s wieder die Rede.
„Los, Groß-F. Wir müssen sofort zum Zirkus und zwar mit Hilfe der Polizei. Und ihr anderen, ab zur Arbeit.“
Die Buchstabenpolizei durchsuchte alle Zirkuswagen und fanden im Waggon des Direktors das verängstigte n.
„Gott sei Dank“, stöhnte es. „Mir tut schon der Kopf weh, weil ich immer Kopfstand machen musste, wenn jemand vorbeikam.“
„Wo ist der Direktor? Und warum braucht der Zirkus soviel Konfetti?“, fragte A.
n sah auf die Uhr und sagte: „Die Konfettis brauchen sie für die heutige Abendvorstellung. Es geht um ihre Zukunft. Sie wissen nicht, ob sie ihren Zirkus noch weiter betreiben dürfen. Deshalb sollte die letzte Vorstellung besonders bunt werden.“
Erleichtert über die Rettung nahm Groß-F das kleine n auf die Schultern und brachte es zurück ins Heim.
Als sie dabei an dem Kiosk vorbei kamen rief ihnen der Besitzer zu: „ Braucht ihr noch Konfetti? Ich habe die Lieferung überraschenderweise schon heute erhalten!"
„Ja, wir holen es heute Abend ab“, antwortete n, denn es hatte eine wunderbare Idee.
Der Direktor wurde von der Polizei bei der alten Fabrik verhaftet. Entführung und Erpressung sind nun mal strafbar, obwohl niemand verletzt wurde. Das bedeutete allerdings auch das Aus für den Zirkus.
Doch die letzte Vorstellung fand trotz allem statt. Alle Buchstaben hatten Freikarten als Entschädigung für die Ängste erhalten.
Als alle Schausteller am Ende ihrer Darbietungen sich in der Manege versammelten und gebührend den Applaus in Empfang nahmen, schneite Konfetti aus der Zirkuskuppel auf sie herunter. Groß-F und Groß-A hatten es von oben auf sie herunter geschüttet.
So war die letzte Vorstellung noch ein recht buntes Erlebnis geworden.