Die letzte Symphonie
Sie räkelt sich auf dem Beifahrersitz und ein ultrakurzer schwarzer Ledermini gibt den Blick frei auf zwei blasse magere Stelzen, die in schweren Stiefeln auslaufen. Ihre Füße hat sie gemütlich auf dem Armaturenbrett abgelegt, aber eigentlich stört es mich nicht. Der Mercedes war schon vor fünfzehn Jahren ein Museumsstück. Ihr Kopf zuckt vor und zurück, gepeitscht vom Rhythmus, der von den Ohrstöpseln direkt in ihr Gehirn hämmert. Schnelle Drumsequenzen ohne störenden Ansatz einer Melodie dazwischen, die aus dem Skelett der Percussion lebende Musik gemacht hätte. Ich hab sie an er Auffahrt zur Vierundvierzig aufgelesen, wo sie ihren Daumen in die Druckwelle der selbststeuernden Großlaster gehalten hat. Offenbar wollte sie einfach nur weg, ohne eine besonderes Ziel zu haben. Ich glaube ihr kam es nur auf die Flucht an, genau wie mir. Natürlich hätte sie auch eine von den Irren sein können, die ihre Reize - magere, blasse Beine, flacher Busen - einsetzen, um Loreley der Autobahn zu spielen, dir dann irgendwas scharfes an den Hals zu halten und dich um deine Kreditkarten zu erleichtern. Aber zwei Irre im selben Wagen? Ich schätze, das ist verdammt unwahrscheinlich.
Während sie zu ihrem hämmernden seelenaustreibenden Sound nickt, blättert sie in einer Mappe voller Photographien. Mein Blick fällt auf etwas gelb rotes, zweifellos ehemals organisches. Sie sieht auf.
"Verletzungen durch Biowaffen.................hab ich selbst in Irkutsk photographiert", erklärt sie und ich glaube Stolz in ihren Augen aufblitzen zu sehen. "Sie werfen so eine neue Art von sich extrem schnell vermehrenden fleischfressenden Parasiten ab. Ist natürlich nichts aus dem Westen. Die Russkis sind selbst drauf gekommen. Vermutlich purer Zufall. Irgend jemand hat in der DNA von Trichinen herumgespielt und herausgekommen ist so eine Art Wurm mit biologischem Turbolader. Man sagt, es ist keine wirklich effiziente Waffe, weil man die Biester nur durch einen harten EMP oder ultratoxische Substanzen wieder los wird. Aber leider ist es billiger als jede andere Waffe und kann in jedem Kellerlabor von drittklassigen Biochemikern im zweiten Semester gezogen werden."
Sie blättert um und auf diesem Photo ist um so deutlicher zu erkennen, daß die seltsame Masse mal ein menschliches Wesen war. Früher hätte es mich erschreckt, entsetzt, angeekelt. Aber nun nicht mehr. Dazu habe ich zuviel gesehen, zuviel angefaßt.
"Bist du Photographin? Wie kommst du in Kriegsgebiete?" Natürlich bezweifele ich, daß sie die Photos selbst gemacht hat.
"Nicht Photographin. Ich war bei den Truppen, technisches Kommando. Die Bilder habe ich für die Regierung gemacht.......für unsere. Und dann.........na ja, habe ich sie 'raus geschmuggelt."
"Und jetzt willst du sie an die Presse verscheuern?
"Pahh." Sie wirft die Kopfhörer auf ihren Schoß, spitzt die Lippen und schüttelt den Kopf. "Die haben genug davon im Archiv..........nein, da ist nächsten Monat so eine Kunstsache in Köln. Da gibt es eine Installation über Menschenrechte. Und Dvorak soll auch da sein."
Ich verziehen den Mund, kämpfe mit einem Grinsen. Verdammte Künstler. Noch schlimmer solche, die sich dafür halten.
Sie sieht mich mit großen, offengestanden hübschen Augen an."Und was machst du?"
Nun ist die Reihe eben an mir. "Testreihe", murmele ich und hoffe vergeblich, daß sie kapiert, daß ich keine Lust auf Konversation habe. Wenn sie will, kann sie ihren Monolog gern weiter treiben.
"Dann bist du Techniker? Oder Wissenschaftler?" Sie wird richtig neugierig.
"So 'ne Art Techniker, ja." Eine wohlwollende Umschreibung für meinen Job. Aber warum ein schönes Bild zerstören?
"Und was testest du so?"
"Wahrnehmungen, Empfindungen, wenn ich Pech habe sogar Gefühle. Sogar manchmal Angst.............hast du schon mal wirkliche, unverfälschte Angst kennengelernt? Sie kann deine Seele vertreiben, jagt sie an einen schwarzen Ort. Wie ein riesiges Spinnennetz, das dich festhält, selbst wenn du es nur ganz kurz anblinzelst, zwischen den verkniffenen Lidern hindurch.........."
Ich schätze es liegt an der Art, wie ich sie kurz ansehe. Sie zieht die Beine vom Armaturenbrett. Ziemlich rasch, finde ich. "Ähhhh, kannst du mich da raus lassen?", fragt sie deutet auf den Seitenstreifen der Brücke, die über einen Kanal führt. Links und rechts drängen sich Werkshallen an die Wasserstraße. Die meisten leer einen großen Teil des Wegs zum endgültigen Verfall hinter sich. Ich glaube nicht, daß hier ihr ursprüngliches Ziel liegt. Noch bevor der Mercedes ausgerollt ist, springt sie mit einem knappen "Danke" aus dem Wagen, sieht kurz nach links, hastet quer über die Straße.
Ob sie noch schneller gerannt wäre, hätte sie von der Leiche im Kofferraum gewußt?
Den Laster, der auf sie zu rast, bemerkt sie nicht und als sie aufsieht, ist es zu spät. Sie reißt die Augen auf, dann donnern sechzig Tonnen auf zweiundzwanzig Achsen über sie hinweg. Einmal sehe ich ihren Körper verrenkt zwischen den Rädern auftauchen, dann ist er in den Radkästen verschwunden. Ich sehe dem Monstrum nach, dessen Fahrer - oder CPU - in dem leisen Stoß keinen Anlaß zum Halten zu sehen scheint und schüttele den Kopf. Eine verrückte Welt.
Als ich den Kopf drehe, ist sie wieder da. Sie steht auf de gegenüberliegenden Straßenseite, reckt den Daumen und spielt Leuchtturm für die Libido eines anderen. War wirklich verdammt echt. So 'was passiert mir seit zwei Tagen ständig. Aber unter diesen Umständen ist das wohl ganz normal.
*
Ich hatte diesen Burschen schon mal gesehen. Ja, ich erinnerte mich. Eines dieser Hochglanzmagazine, die Lisa so gern las - sagen wir besser, sich anschaute. Sie konnte zwar lesen, aber Lust dazu hatte sie nicht. Sie weidete sich lieber am Reichtum anderer, deren Kleidung und der Innenarchitektur ihrer Paläste, so wie dem hier. Ein nach allen Seiten offener Kamin in der Mitte des Raumes, der eher karg mit weißen Designermöbeln eingerichtet und in hellen Beschtönen gehalten war. Es war immer noch die alte Geschichte. Typen wie Dvorak verwechselten eine Atmosphäre kalter Sterilität mit der Aura von Intellektualität. Mich erinnerte es an einen der Fließband OPs in denen Lisa und ich unsere Implantate erhalten hatten. Im Kontrast dazu unser Klient. Er trug schwarz, sah irgendwie aus wie die dunkle Seele des kalten Hauses. Dvorak nannte er sich und mit seinem zu feinen, Mund und Nase einrahmenden Linien rasierten Bart gab er sich einen russischen Touch, obwohl er keinen Akzent hatte.
Dvorak. Vermutlich eine Anspielung auf den großen tschechischen Komponisten, Und für einen Komponisten hielt sich auch er - und eine Million gelangweilter Idioten, die mit ihrem Geld nur um sich warfen, damit man sie bei einer seiner gewagten Performances sah. Er komponierte. Keine Klanggebilde, sondern Emotionen. Mußte sein Vorbild sie noch Ton für Ton dem Hörer entlocken, so griff Dvorak direkt nach den Gefühlen, zeichnete sie auf, ordnete sie, reduzierte oder intensivierte sie, erzeugte ein neues Gesamtbild. Kunst nannte er das - ich nenne es einfach nur die richtigen Knöpfe eines Cyberdecks drücken, oder die Schutzalgorithmen herausnehmen, um ein kleines Polarlicht in deiner Hirnrinde zu zünden und wer weiß was für psychotische Reaktionen auszulösen.
Wir ahnten, daß diese Sache nicht ganz sauber war, Lisa und ich. Andernfalls hätte er sich keine Ratten geholt. Echte, vom kalkulierten Suizid bedrohte Ratten.
Offiziell gibt es uns nicht.
Offiziell.
Neue Cyberware wird fertiggestellt. Noch schneller, noch realistischer - möglicherweise zu realistisch. Aber mit dem Messen der Ausgangssignalstärke ist es nicht getan. Jemand muß sich das Zeug in den Kopf stecken. Wer macht sich Gedanken darüber, wer neue, experimentelle Cyberware testet? Und da niemand fragt, läßt man uns einfach durch die Hintertür rein und unsere Arbeit tun - und es gibt verdammt viel zu tun, meistens in der Industrie. Private Interessenten sind seltener, meistens zahlen sie auch nicht so gut. Mit Dvorak war das anders, aber wir fragten nicht danach, was ihn so großzügig stimmte.
Wir waren Profis.
In meinem und Lisas Stirnlappen steckte eine Phalanx von Schockpuffern und Analysechips. Falls Dvorak also irgendwelche unschönen Spezifikationen in seine Soft- oder Hardware eingebaut hatte, würde uns unsere Brainware zumindest für gewisse Zeit schützen. Realistisch betrachtet bedeutete das einen Zeitvorteil von maximal vier Sekunden, soviel hatte uns der Neurologe versichert und das mit großer Wahrscheinlichkeit. Nicht mal hundert Prozent also, ein Risiko, daß wir als Profis schon vor Jahren zu akzeptieren gelernt hatten. Unser Problem war, daß wir uns zu sehr auf das Plastik in unseren Köpfen und weniger auf unseren Verstand verließen. Die Höhe des Angebots hätte uns nachdenklich machen müssen. Dvoraks Name und was wir über seine letzten Performance wußten, hätten uns nachdenklich machen müssen - und die Plastikfolie, die er vorsorglich auf den Teppich gelegt hatte, bevor wir mit dem Test begannen...................
Nur wenige Leute ahnen, was für Sauereien mit einer Ratte passieren können, der von den auf sie einstürzenden , zwar künstlichen, doch erschreckend realen Illusionen der Cortex geröstet wird. Dvorak schien es zu wissen. Wir hätten nachdenken sollen, vielleicht hätten wir dann bemerkt, daß die Wahrscheinlichkeit diesmal nicht auf unserer Seite war.
*
Der Kühler frißt Mittelstreifen. Ich fahre in diese Richtung, weil es keinen Grund gibt, eine andere zu bevorzugen und weil ich glaube, daß sie dort auf mich wartet. An der Stelle, an der ich sie zum ersten Mal gesehen habe. Dichte Wolken am Himmel, trotzdem fallen ab und zu Flecken von Sonnenlicht auf den Asphalt, der noch schmierig vom gelegentlichen Nieselregen ist. Es ist nicht mehr weit.
*
"Wie lange wird der Test dauern?" Dvorak rieb sich nervös die Hände, beobachtete Lisa, die auf dem Boden in den Schneidersitz ging.
"Wir checken alles von vorn bis hinten. Sie müssen doch wissen, wie lang ihr Programm ist?", fragte ich ihn mißtrauisch.
Er blickte auf, wie aus einem Traum erwacht."........oh ja. Etwa zwanzig Minuten."
"Irgendwelche Extras?" Er sah mich nicht an, antwortete nicht einmal. "Haben sie Besonderheiten eingebaut, oder Standardroutinen modifiziert. Wie steht es mit ungefilterten Aufzeichnungen?"
Ein kommerzielles Cyberprogramm wir erstellt, in dem die Darsteller wie in alten Filmen Szenen durchspielen und ihre gesamten Wahrnehmungen über Aufzeichnungschips in ihren Gehirnen auf die Hardware transferiert werden. Dabei sorgen Filter für die Heraustrennung von emotionalen Belastungen, sprich dafür, daß sich eventuelle krankhafte psychische Besonderheiten eines Darstellers nicht auf den späteren Konsumenten übertragen. Nimmt man diese Filter raus, nun, dann kann das den, der sich arglos einklinkt, in einen sabbernden Vollidioten verwandeln. Ich bezweifele allerdings, daß das bei den meisten eine besonders auffällige Veränderung wäre.............
"Nein", murmelte Dvorak abwesend, beinahe als wußte er nicht, wovon ich rede.
Ich warf Lisa einen Blick zu. Sie nicht knapp zurück.
Lisa hatte ihn ebenfalls beobachtet, war genauso gewarnt. Mit einem raschen Kopfschütteln beförderte sie ihr langes rotes Haar zurück und band es zu einem Pferdeschwanz, während ich die Selfcheckroutinen der Konsole aufrief. Wir benutzten grundsätzlich eine eigene mit zusätzlichen Kontrollalgorithmen, hauptsächlich um sicher zu gehen, daß niemand Hardwarebasteleien an unserem Verstand testete. Lisa nickte mir noch einmal zu und ich aktivierte den Kontrollscreen des MEDOB - die höchste Investition, die wir hatten machen müssen. So etwas fand man normalerweise nur in Krankenhäusern (natürlich nicht in denen für Sozialfälle) - der mir Lisas Biodaten und ihr EEG zeigte, dann schob sie den Stecker in ihre Stirnbuchse. Ich beobachte Dvorak, wie er zu atmen vergaß, als sie sich in seine Cyberware schaltete. Das waren die Augen eine Künstlers, der auf die Beurteilung seiner Kreation wartete. Aber da war auch noch etwas anderes..................... Ich hätte einfach nachdenken sollen. Dummerweise sehe ich Lisa auch jetzt noch so vor mir, wie sie dasitzt, ganz professionell, ganz cool und mir eine Sekunde lang den nach oben gerichteten Daumen zeigt. Aber eben nur für eine Sekunde. Was danach passierte..............ich weiß es, aber ich wünschte ich könnte vergessen.
*
Ich überhole einen Volvo. Für einen Augenblick sehe ich den Fahrer. Seine Gesicht ist rot angelaufen, mit beiden Händen greift er sich an den Hals und ringt nach Luft. Er erstickt. Schon wieder einer. Ich beschleunige, sehe noch einmal in den Rückspiegel. Der Fahrer des Volvo sitzt wieder ganz entspannt am Steuer und stiert gelangweilt auf die Straße. Ein Mann auf dem Weg nach Haus. Am Leben. Auf meinem Konto ist das Geld. Meines und Lisas. Zu dumm: Jetzt, wo ich es habe, ist es mir scheißegal.
*
Ich sah was passierte, noch bevor der Krisenalarm des MEDOB desinteressiert los piepste. Lisas EEG tickte aus, verwandelte sich in eine zerklüftete scharfkantige Berglandschaft, die mich auf fatale Weise an eines dieser uralten Telespiele erinnerte, in denen man winzige Flugzeuge über plötzlich steil hochschießende Felswände steuern mußte. Einen Sekundenbruchteil später wurde ihr Herzschlag unregelmäßig, genau in der Sekunde, in der das Notunterprogramm die Konsole herunterfuhr. Ich mußte mich zusammenreißen, wollte den Stecker aus ihrer Stirnbuchse reißen, hielt das Kabel in meiner Panik bereits in Händen, war bereit den typischen Fehler eines Amateurs zu machen. Etwas stimmt nicht, nur raus mit dem Kabel. Das abreißende Signal hätte einen Induktionsschock ausgelöst, eine winzige Stromspitze, die sich wie eine Feuersbrunst durch die Hirnrinde gefressen hätte. Ein zerstörerisches Gewitter elektrischer Signale, die einen Atemstillstand auslösen konnten , oder irgendeinen schlimmeren Anfall. Nein, mir blieb nichts anderes übrig als zuzusehen, während die Konsole behutsam die künstliche Realität aus ihrem verstand ausblendete. Fade Out. Es war nicht mal, was ich erwartet hatte. Sie zuckte nicht, übergab sich nicht. Ich versuchte mir Hoffnung zu machen, daß es ein gutes Zeichen sei, vor allem, als sich ihr Herzschlag stabilisierte und das EEG flacher wurde. Doch tatsächlich wußte ich es. Die Konsole blendete das Programm aus, genauso wie das Programm Lisas Verstand ausgeblendet hatte. Als Ich das Deck abschaltete , sackte sie zurück nach hinten, kippte aber nicht um. Sie blieb im Schneidersitz, glich einem Baum dessen Wurzeln vom Sturm halb aus dem Boden gerissen worden waren und der in seiner Neigung erstarrt war.
Ich riß den Stecker aus der Stirnbuchse, sprach sie an. Keine Reaktion.
Ich schüttelte sie. Keine Reaktion.
Ich schrie sie an. Keine Reaktion.
Ich gab ihr eine klatschende Ohrfeige, nicht weil ich mir davon Hilfe versprach, nur aus purer Hilflosigkeit. Doch sie war schon viel zu weit weg, um mich noch wahrzunehmen. Ich kniete neben ihr, gaffte in ihren leeren Augen und wußte, daß sie fort war.
Die Stimme hörte ich kaum, Erst eine ganze weile später, vielleicht nach fünfzehn Minuten, begriff ich, was Dvorak gesagt hatte.
"Wenn wir die Parameter nur ein wenig reduzieren, müßte es funktionieren." Er stand einfach nur da mit gefalteten Händen, sah bedauernd, fast Mitleid heischend auf mich herunter, so als wäre er es, der etwas verloren hatte. Den Kopf schräg gelegt lächelte er schwach und bittend. "Es ist wichtig."
*
Ich bin mir sicher, daß sie dort auf mich wartet. Wo sollte sie sonst sein?
*
"Die Emotionen sind es, worauf es hierbei ankommt." Dvorak gestikulierte, nahm die Hände zur Hilfe, um es mir armseligen, geistlosen Kreatur klar zu machen. Er hatte Verständnis für meine Situation, für die Wut, die ich empfand, das sagte er mir, doch er bat mich genau nachzudenken, dann würde ich vielleicht ein wenig vom Ganzen sehen. Ich hatte schon begriffen:
Dvorak hatte die Filterroutinen aus dem Aufzeichnungsdeck gelöscht und so prasselte mit alle den Wahrnehmungen noch ein Hagelschauer fremder Emotionen auf den Benutzer ein. Das hatte Lisas verstand in irgendeinen Winkel ihres Gehirns gequetscht, bis nur noch ein strukturloser Klumpen blieb, der das darstellte, was von ihrer Persönlichkeit übrig geblieben war.
Ich sprang auf, rutschte auf der Folie aus, kam wieder auf die Beine, griff nach Dvorak, der nicht mal Anstalten machte, mir auszuweichen. Ich wollte ihn meine Emotionen spüren lassen, mit bloßen Händen, ohne Filter. Doch etwas bohrte sich in meine Nieren, noch bevor ich dieses ganz besondere Programm starten konnte.
Ich kippte nach hinten, sah über schwarze Wogen hinweg ein Sonnyboygesicht , in das ein blonder Pony baumelte. Dvoraks Bodyguard war nicht mal besonders groß, aber schneller als ich. Ein sympathischer Bursche, er hatte eben nur diese eine dumme Angewohnheit es lustig zu finden, wenn er jemandem in die Rippen trat. Seine Schuhspitze traf, der Schmerz raubte mir die Luft, farbige Blitze flackerten vor schwarzem Samt. Als sich der Vorhang nach schmerzvollen Sekunden wieder hob, sah ich beide über mir aufragen. Sonnyboy, der mich aus seinem sommersprossigem Gesicht gehässig anlachte, Dvorak, der beschwichtigend nach seiner Schulter griff. "........schließlich arbeitet er für uns. "
Er sah auf mich herab. "Sie werden mir doch helfen, die Parameter anzupassen? Sagen wir für das doppelte ihres ursprünglichen Honorars?" Sein Sarkasmus schien tatsächlich unbeabsichtigt zu sein. Er sah auf mich herunter, wie auf ein bockiges Kleinkind, dem man gut zureden mußte. "Das werden sie doch tun, oder?" Ich gaffte ihn an, glaubte nicht mal, daß ich wirklich hier war. Schließlich brachte ich ein wenig überzeugendes "Vergiß es" über meine Lippen. Dvorak nickte gönnerhaft.
"Ich kann es ihnen nicht verdanken, aber es wird zu unserem beiderseitigen Vorteil sein, das versichere ich ihnen." Eine knappe, an den Sonnyboy gerichtete Geste und Dvorak verschwand im Nebenraum. Der Strahlemann lächelte zu mir herunter. "Ist dein Glückstag Ratte. Du wirst heute Teil eines großen Kunstwerks sein." Dann packte er eine Ecke der Folie und zog sie mitsamt der sterblichen Überreste meines Körpers und meiner Seele hinter sich her.
*
Ich verabscheue Tests. Das Gefühl, das jemand meinen Geist auslotet, meine Fähigkeiten abschätzt, wie das Gewicht eines Fleischbrockens. Zu wissen, daß man ein numeriertes Einzelstück in einem großen Katalog ist. Dvorak hat geglaubt mich katalogisieren zu können. Es war sein Fehler. Es beginnt zu regnen, ich muß die Scheibenwischer einschalten. Lisa haßt es im Regen zu warten, aber es dauert nicht mehr lange. Ich frage mich, wo Dvorak wohl sein mag.
*
Verlaß dich auf deinen Verstand. Vergiß was du siehst, oder hörst, oder riechst, oder fühlst. Vergiß es, es ist nicht real, jedenfalls ist es das jetzt nicht mehr. Es ist schwer, sich davon zu überzeugen, wenn man den heißen Wind auf seinem Gesicht spürt, über die Wände der engen Gassen streicht, den Boden unter den Füßen fühlt und Sand zwischen seinen Zähnen schmeckt. Meine Augen versuchten, die Dunkelheit zu durchdringen, die, wenn überhaupt, nur von aufloderndem Feuer erhellt wurde, immer dann wen sich der Boden unter meinen Füßen in die Membran einer Baßtrommel verwandelte, der Sand in Mustern tanzte.
Etwas explodierte, viele schrien und so wie es klang, waren es die letzten Geräusche, die sie von sich geben würden. Und obwohl ich mir doch einzureden versuchte, daß ich immer noch in Dvoraks Arbeitszimmer war, blieb über alledem diese eine hartnäckige Frage.
Wann würde ich schreien?
Jemand stieß mich an, ich fuhr herum, starrte in ein verschleiertes Gesicht, jemand brüllte mir arabische Wortfetzen zu, die ich verstand, obwohl ich in meinem Leben kein einziges Wort dieser Sprache gelernt hatte. Wir mußten in die andere Richtung, von vorn näherte sich die Eliteeinheit. Jemand hatte ihnen die Position unseres Stützpunktes verraten. Ich hatte Angst, nicht Beunruhigung, nicht Sorge, nein Angst. Ein Gefühl, daß man in so reiner Form nur selten kennenlernt, nur dann wenn um sein eigenes Leben fürchten muß. Und es war nicht mal meine eigene Angst. Du bist nicht hier, es ist eine Illusion - aber mein Gehirn ließ sich nicht einfach überreden.
Die Angst blieb, egal, wem sie gehörte. Immerhin: Ich wußte, was ich hier durchlebte. Mann nannte es Exploy. Menschen lassen sich gegen Geld einen Aufzeichnungschip in den Kopf pflanzen und stellen die Rechte daran einem Cyberwareproduzenten zur Verfügung. Söldner, Guerillas, Straßenkinder u.s.w. Real soll es sein. Aber darum geht es gar nicht. Real steht für das, was sich am besten verkauft. Je dreckiger, je abstoßender, je verstörender, um so besser. Dvorak hatte das ganze nur gesteigert, indem er die Emotionen dieses Burschen ungefiltert auf den Block ließ. Das hier war Angst, die irgend jemand, irgendwann tatsächlich durchlebt hatte.
"Rufen sie, wenn sie es nicht mehr ertragen."
Die Stimme kam von überall. Aus der Realität - aus meiner wahren Realität. Ich versuchte mich daran festzuhalten, aber es funktionierte nicht. Immer noch war ich in einem Wüstenkaff, immer noch spürte ich es in meinem Nacken: Jemand war hinter mir, nicht mehr weit weg, wollte mich tot sehen. Wieder hörte ich die allumfassende, allmächtige Stimme.
"Ich fahre das Programm ganz langsam hoch. Sie melden sich, sobald es sie überfordert."
In Dvoraks Stimme schwang Fürsorglichkeit mit. Ein großzügiger Mann, der nur ungern unnötige Opfer forderte. Aber manchmal war es eben nötig. Schließlich schuf er etwas wirklich großes. Das hier um mich herum war diese eine große Kunstwerk. Ein ungeheurer Knall gefolgt von einer Druckwelle schob mich vor sich her, schleuderte mich gegen etwas hartes. Im ersten Augenblick war nur völlige Substanzlosigkeit um mich herum. Aber dann spürte ich etwas, war sicher in die Realität des Arbeitszimmers zurück zu erwachen. Doch ich fand mich im Schatten eines zweistöckigen Gebäudes, den Mund voller Sand, hustete, spuckte aus, spürte etwas Warmes an meiner linken Hand. Warmes Wasser, erhitzt vom Feuer. Doch da war kein Wasser, nur etwas anderes nasses, das zu identifizieren sich mein Gehirn weigerte. Ich zuckte zurück, schrie, kicherte, kreischte alles vermengt zu einem bizarren Gejaule. Und rannte los - direkt in die falsche Richtung. Aber das war mir egal . Nur weg von dem ,was da lag, viel schlimmer noch, was ich berührt hatte. Die Muskeln bewegten meine Beine, aber glaubte auf der Stelle zu rennen, auf einem unsichtbaren Laufband, einem Instinkt folgend, der danach schrie zu überleben. Ich glaube in diesem Augenblick war ich auf dem Weg in den nicht endenden grauen Schacht, in den Lisas verstand gestürzt war, versuchte nicht mal einen Halt zu finden, obwohl ich ins Nichts stürzte.......
"Ist es noch erträglich?"
Dvoraks Stimme, die Stimme eines Menschen, in der anderen, der wahren Realität. Es war tatsächlich so: Aber einen irren Sekundensplitter war nichts als Dankbarkeit in mir, während ich mich an dem Nachhall seiner Stimme in meinem Kopf festkrallte - jedoch nur für einen Sekundenbruchteil, dann brüllte eine neue, kraftvolle , zornige Stimme quer durch meine berstende Seele.
Lisa ist ein leere Hülle, da ist nichts mehr, was für dich noch wichtig wäre.
Dvorak ist dafür verantwortlich und jetzt schickt er dich auf dieselbe Reise.
Du hast nichts mehr zu verlieren, Ratte.
Du bist vergewaltigt worden, Ratte.
Einer dieser Großkotze hat dich erledigt, Ratte.
Aber noch kannst du dich revanchieren.
Eine Idee war das und ich hielt mich daran fest, wie vorher an einer Reihe simpler Worte, die bewiesen, daß nur Illusionen auf mich einstürzten. Ich begriff die Konsequenzen meines Handelns, aber das konnte mich nicht mehr abhalten. Dvorak wollte sein Kunstwerk, er würde es bekommen. "Können sie es noch ertragen?" Länger als du es ahnst, Künstler.
*
Über mir hängt eine dichte Wolkendecke am Himmel, die erst zum Horizont hin aufreißt, den Blick auf tiefes Purpur freigibt, das wie eine gewaltige Welle in feuriges Rot schwappt. Nur hier sind die Sonnenuntergänge so beeindruckend. Nur hier, wo die Schornsteine der Verbrennungsanlagen eine Aschewoge hochschleudern, die den versinkenden Feuerball der Sonne auf so einzigartige Weise reflektiert und bricht. Viele fordern, daß die MVAs stillgelegt werden, sprechen von einer unverantwortlichen und unzeitgemäßen Entsorgungsmethode, die jeder Vernunft widerspricht. Ich kann diese Typen nicht verstehen. Nichts ist so großartig, wie auf so einen Sonnenuntergang zuzufahren. Aber manchen fehlt eben jeder Sinn für Schönheit.
*
"Wie fühlen sie sich?" Dvorak biß auf seiner Unterlippe herum, stierte in meine Augen, als wären sie Glasbehälter in denen leblose Untersuchungsobjekte steckten. Hinter ihm saß Sonny auf einem kunststoffüberspanntem Stuhlskelett, die Beine lässig übereinander geschlagen und musterte mich gelangweilt. Als ich nicht antwortete streckte Dvorak die Hand aus. Er versuchte meine Wange zu tätscheln, aber ich griff nach seinem Handgelenk , bevor es dazu kam. Sonny war wirklich schnell. Noch während ich hoch griff legte er einen Großteil der Strecke zwischen sich und mir zurück. Dvorak war zurückgezuckt, begriff jedoch schnell, daß ich ihn nicht angreifen würde.
"Können sie sprechen?"
"Mhhhhhhhhhhh" Ich nickte. "Denke schon."
Seine Miene hellte sich auf. "Und?", fragte er aufmunternd. "Wie finden sie es?"
Ich ließ ihn zappeln. Er wollte meine Meinung, er wollte gelobt werden. Künstler wollen im Lob ihres Publikums baden, das war ihr Lebenselixier. So wie er auf seiner Lippe herum kaute, würde er sie durchbeißen, wenn ich ihn lang genug warten ließ. Doch das wäre zu wenig Blut.
"Es ist...............", ich seufzte, machte eine hilflose Geste".............ungewöhnlich."
Besorgnis verzerrte seine Züge. "Ungewöhnlich?" Das reichte ihm nicht. Natürlich. "Faszinierend.................", ich verschluckte mich an meinem eigenen Speichel , schnappte nach Luft, spürte seine helfende Hand auf meinem Rücken. "Ja.......", hustete ich hervor."......das ist es auf jeden Fall."
"Er macht einen Idioten aus dir." Sonnyboy starrte fassungslos gegen Dvoraks Hinterkopf, doch der winkte ungeduldig ab.
"Mikael, laß den Kerl von Mizar durchchecken, bevor du mit dem Zeug...........", jetzt verschluckte er sich beinahe an seiner Freudschen Fehlleistung. "............mit dem Werk an die Öffentlichkeit trittst."
Es interessierte Dvorak nicht. Der Blick den wir austauschten machte ein langes Gespräch überflüssig. Mein entrücktes Lächeln bestätigte ihm, was er glauben wollte: Er hatte ein großes Kunstwerk geschaffen. Ich ließ ihn glauben, deutete ein Nicken an und lächelte. Lange genug bis auch Dvorak nickte, mit einem Selbstgefälligkeit , die mich beinahe laut lachen ließ.
"Mikael, der ..............", setzte Sonny an.
"Er ist nicht dumm............", erstickte Dvorak jeden weiteren Einwand. "Hätte es sein Bewußtsein überfordert, dann hätten wir ihn schreien hören." Er führte den Zeigefinger an meinen Augen vorbei, dann wieder in die andere Richtung. "Schließlich will er doch nicht seinen Verstand verlieren, oder?"
Natürlich nicht. Dvorak richtete sich auf, stemmte die Hände in die Hüften und atmete tief durch, während sein Blick zu dem Terminal mit seinem Meisterwerk wanderte. Sonny beobachtete all das mißmutig. Als Dvorak mit drei langen Schritte zur Konsole hinüber strebte wurde aus Mißmut Unglaube. "Du willst es doch nichts ernsthaft selbst ausprobieren?"
Dvorak lächelte ihm zu. Und er überraschte mich.
"Nein."
Sonnys Gesichtszüge entgleisten vollständig, als er verstand, was das bedeutete. Protestierend fuchtelte er mit den Armen herum. "Das mach ich nicht." Dvorak schob die Hände in die Hosentaschen und ließ ihn keine Sekunde aus den Augen. "Möchtest du zurück auf die Straße? Wieder Kampfhahn für gelangweilte Großkotze spielen?"
"Aber......"
"Sieh ihn dir an!" Dvorak griff nach Sonnys Schulter deutete auf mich, wie auf den Heilsbringer der Menschheit.
"Er lebt, ist bei Bewußtsein, offensichtlich kerngesund...." Sicher war ich das und ich lächelte bekräftigend, obwohl............ Ich hörte ihre Stimmen, aber ich sah sie nicht mehr. Sie verschwanden in einer dunklen Wolke aus blutegelähnlichen Kreaturen, die ihre Körper einhüllten, sich durch ihre Haut fraßen. Beide wurden zu schwarzen, organischen Kreiseln, die sich im Todeskampf um ihre Achse drehten. Nahrung für die Parasiten, die solange an ihnen nagen würden, bis kein Gewebe mehr übrig war. Biologische Waffen im Einsatz. Ich hatte diese Todesart in Dvoraks Programm gesehen und mit ihr noch ein Dutzend anderer, nicht minder entsetzlicher Übergänge von einer Daseinsebene zur Nächsten. Dvoraks Meisterwerk. Nichts weiter als die Aufzeichnung eines Massakers, das irgendwo im Nahen Osten stattgefunden hatte, als eine Eliteeinheit ausgerüstet mit den modernsten und letalsten Boshaftigkeit einen Rebellenstützpunkt ausgeräuchert hatte. Wogegen die rebelliert hatten, wußte ich nicht. Aber wenn man danach sucht, dann findet sich immer etwas, wofür umgebracht zu werden sich lohnt.
Dvorak mußte die Aufzeichnung dem armen Schwein abgekauft haben, dessen Wahrnehmungen ich aus erster Hand nacherlebt hatte - oder zumindest dem, der den Chip aus dessen Kopf entfernt hatte. Wahrscheinlicher war letzteres. ".......................kann nichts passieren, er ist in Ordnung, da ist gar kein Risiko, aber ich brauche eine zweite Meinung. Du kannst selbst abschalten ,wenn du damit nicht klarkommst."
Sonny nickte nicht weniger zuversichtlich.
Ihm schien entgangen zu sein, daß ein Job ziemlich nutzlos war, wenn man vorher zu einem hoffnungslosen Fall für die Psychiatrie wurde. Ich lächelte beide an. Schließlich ging es mir gut.
Zögerlich setzte sich Sonny zurück in seinen Stuhl, während ihm Dvorak das Interfacekabel reichte. Sonnyboy ergriff den Stecker wie den Kopf einer Giftschlange. Einen guten Instinkt hatte er, das mußte man ihm lassen. Vorsichtig schob er den Stecker in die Stirnbuchse, so behutsam, als befürchtete er, die Metallspitze könnte sich verselbstständigen und in seinen Schädel bohren
"Du warst doch mal Offizier." Dvorak zwinkerte zuversichtlich. "Es wird dir gefallen."
Er startete das Programm und mein Lächeln wurde breiter. Ich beobachtete das EEG, wußte worauf ich zu warten hatte. Ich war nicht mal ungeduldig, aber bereit, meiner Sache sicher. Es gab keinen fließenden Übergang. Aus sanften Wellen auf dem Display wurden scharfkantige, gezackte Grate. Sonny verkrampfte sich, seine Fingerknöchel traten weiß hervor, als er die Kanten der Sitzfläche umklammerte und aussah wie ein Möchtegernpilot, der auf einem Bürostuhl Fliegeras spielt. Er japste, schlug mit den Armen um sich, als wollte er einen unsichtbaren Hornissenschwarm zu vertreiben. Er war nicht vorbereitet auf das, was mit ihm geschah. Und noch etwas unterschied ihn von mir: Er besaß keine implantierten Schockpuffer.
Es traf ihn ohne Abmilderung . Dvorak glotzte weniger überrascht, als enttäuscht auf Sonny, der zu schreien versuchte. Die Überlastung des Gehirns paralysierte sein Sprachzentrum, ließ sinnlose Befehlsimpulse durch sein Nervensystem flackern., wie Blitzlichtgewitter bei Dvoraks letzter Performance. Einem Metronom gleich tickte Sonnys Oberkörper vor und zurück und im selben Rhythmus schlug sein Hinterkopf gegen die Wand. Als gefiele es ihm so gut, daß er seine Schädeldecke zum applaudieren benutzte. Ich sprang auf, meine Konsole in der rechten Hand, stürzte auf ihn zu und hämmerte sie ihm mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte gegen die Stirn.
Programmabbruch.
Ich lachte laut auf, als mir einfiel, daß er darüber mit Gewißheit nicht unglücklich sein würde.
Der Schlag hatte ihn vom Stuhl in die Ecke gefegt. Jetzt beugte ich mich zu ihm herunter, riß den Stecker aus seiner Stirn. Das war für den Tritt, den er mir verpaßt hatte, mit der Genugtuung, daß mein Gegenschlag direkt in seinem Kopf explodierte.
Sonny hörte nicht auf zu atmen, wie ich gehofft hatte. Statt dessen hatte der Induktionsschock seinen Beißreflex stimuliert. Seine Zungenspitze zuckte zwischen seinen Scheidezähnen wie ein Wurm im Maul eines Fisches - aber nur kurz. Bis er sie endgültig abgebissen hatte.
Er verlor das Bewußtsein, während sich ein dunkler Fleck in seinem Schritt ausbreitete. Seine Zungenspitze hätte man möglicherweise replantieren können, deswegen zerquetschte ich sie mit meiner Schuhspitze und stellte mir vor, wie er die wenigen Worte, die seinen Verstand in Zukunft hervorzubringen vermochte, lispeln würde.
Endlich hatte ich Zeit, um mich mit Dvorak zu beschäftigen. Das Kabel zwischen meinen Händen gespannt ging ich auf ihn zu, ließ mir sogar Zeit, wollte den Augenblick so lange als möglich auskosten. Meine Revanche war das letzte, was mir geblieben war.
Dvorak sah sich um nach einer Fluchtmöglichkeit. Er riß die Augen auf, als er realisierte, daß er in einer Sackgasse steckte. Er starrte mich an. Hilflos, entsetzt, verängstigt, ohne Zweifel darüber, was ihm bevorstand. Schwer zu sagen, wie mein Gesichtsausdruck war. Ich vermute voller Hohn.
"Bitte, es ist wichtig."
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Uniforme sechsstöckige Gebäude erstrecken sich beiderseits entlang der Straße. Eintöniger sozialer Wohnungsbau, der sie Bezeichnung höhnisch klingen läßt und dessen zerfallende Fassaden im äußeren auch den inneren Verfall widerspiegeln. In Gassen und Plätzen, die sich zwischen brüchigen Beton quetschen, haben sich Plastik- und Holzkonstrukte ausgebreitet, die Metastasen gleich über asphaltierte Motivationslosigkeit wuchern. Diese bunten Hütten und Zelte sind es, die der Enklave Leben ein hauchen. Während ich den Wagen langsam die Straße entlang rollen lasse, rührt sich nichts außer Folien, die Dächer ersetzen sollen, losen Holzteilen und Papierfetzen, die im Wind flattern. Kein Wunder. Sie alle sind gerade in der Kirche. Willkommen in der neofundamentalistischen Enklave. Ein Schild dieses Wortlauts gibt es zwar nicht und ich würde auch nicht den Fehler machen, das hier so zu nennen, wenn mich mehr als einer von ihnen hören kann.
Christentum und Islam verschmolzen zu einer mehr oder minder friedlich frömmelnden, paradoxerweise überhaupt nicht kosmopolitischen Gemeinschaft. Armut, desillusionierende Umgebung - und religiöse Verbohrtheit - verbinden eben. Angeblich ist die Gemeinschaft das Ergebnis eines aus dem Ruder gelaufenen soziologischen Experimentes Deutsche und Ausländer zu einer Gemeinschaft zusammenschweißen. So ganz mißlungen ist das ganze dann wohl doch nicht. Auf jeden Fall funktioniert es irgendwie. Auseinandersetzungen reduzieren sich auf ein Minimum. Zumindest intern. Fremde schätzt man allerdings weniger, eine Konsequenz aus schmerzhaft gewonnenen Erfahrungen.
Ich halte an, lasse den Motor laufen. Möglicherweise muß es gleich sehr schnell gehen. Aus einem Fenster - eher einem Fäulnisloch in der blassen, brüchigen Fassade - beobachtet mich eine alte Frau mit westeuropäischen Zügen. Ein Späher. Eine ganze Menge von Rassisten, Faschisten und ähnlichen Krankheiten mit dem Anhängsel isten sind erpicht drauf den Leuten hier eine Lektion in pathologischem Nationalismus zu erteilen.
Der rote Punkt eines Laserzielsuchers wandert über das Gesicht der Alten und ich wende mich ab, denn ich weiß, was geschehen wird. Dennoch höre ich den Schuß, kurz darauf ein Geräusch wie ein Pfannkuchen, den man gegen eine Wand wirft, als sie auf dem Asphalt aufschlägt.
Der Kofferraum ist nicht abgeschlossen.
Dvorak, der Wegbereiter der Cyberwarekunst, der Visionär, der bahnbrechende Künstler gleicht einem verkabelten Fötus in einem Blechuterus. Seine Hände und Füße sind mit Klebeband fixiert. Sein Programm läuft in einer Endlosschleife.
Vielleicht kann er ja wirklich nicht genug davon bekommen. Ich spreche ihn an. Er reagiert nicht, was mich nicht sonderlich überrascht. Ein wenig enttäuscht bin ich aber trotzdem. In dieser Verfassung wird er das Finale verpassen. Seine weit geöffneten Augen könnte man für Nachbildungen halten. Lebensecht, aber leblos. Wenn die Augen die Spiegel der Seele sind, nun, dann gab es da wohl nichts mehr, was sich noch spiegeln konnte. Ich frage mich, ob ihm sein Werk gefallen hat. Mit einem Ruck zerre ich ihn aus dem Wagen und lasse ihn auf den Asphalt fallen.
Die Alte im Fenster hat ihren Tod erstaunlich gut verkraftet und beobachtet mit überraschend neutraler Miene das Schauspiel. Sie bewegt den Mund, hält dabei ein kleines Funkgerät in der Hand. Ich springe in den Wagen. Zeit zu gehen.
Die Straße ist breit genug, um zu wenden, dann gebe ich Gas. Früher gab es in dieser Gegend eine Menge Dealer, die von der desillusionierten, willigen Kundschaft angelockt wurden Doch die Neofundamentalisten dulden keine Drogen. Diesem Prinzip folgend haben sie ihre Straßen von Dealern und Junkies gesäubert. Vertrieben wie es heißt, aber die Verbrennungsanlagen sind so verlockend nah. Ihr sollt nicht töten.............jedenfalls nicht , wenn ihr nicht wißt, wohin mit den Überbleibseln. Den Cyberspace dulden die Fundamentalisten nicht. Gott- Allah hat schließlich nur die eine, wirkliche Realität geschaffen, in der, der Gottesfürchtige sich zu bewährend hat. Allerdings ist es jedem gestattet der Gemeinschaft beizutreten. An manchen von ihnen, jenen, die früher Mitglieder der technischen Gesellschaft waren, der sie nun den Rücken gekehrt haben, habe ich die Spur der Säuberungszeremonie gesehen. Ihre Stirnbuchse wird entfernt, die Wunde dann mit einer glühenden Münze berührt - das Böse muß ausgebrannt werden - auf daß die Narbe sie ein Leben lang an ein düsteres, heidnisches und abgeschlossenen Kapitel ihrer Vergangenheit erinnern möge.
Ich sehe Dvoraks zusammengerollten , zwar lebendigen, doch vermutlich mittlerweile recht geistlosen Körper im Rückspiegel.
Ich weiß ja nicht.
Aber ich fürchte Typen mit einem Kabel in der Stirn können die Fundamentalisten überhaupt nicht leiden.
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Es ist ein billiges Motel mit einem verschwitzten übergewichtigen Burschen am Schalter, der mit dem Eintragen von Namen in sein speckiges Buch schon fast überfordert war, aber die lobenswerte und für sein Geschäft so wichtige Eigenschaft besitzt, keine Fragen zu stellen. Nicht mal, als ich die Leiche an ihm vorbeitrug.
Ich versuche diese Wort selbst in meinen Gedanken zu vermeiden. Aber wann immer ich sie ansehe, drängt es sich mir unaufhaltsam auf.
Lisa sitzt vor mir, sieht mich an. Aber sie weiß nicht, daß ich da bin. "Vielleicht doch", flüstere ich mir zu. Schließlich muß ich doch daran glauben, sonst würde ich das nicht versuchen.
Ein alter Freund hat die Konsole für mich präpariert. Wozu ich das brauchen würde, hatte er mich mit einem skeptischen Seitenblick gefragt, während er verschiedene Chips entfernte, andere einsetzte und zum Abschluß seiner Arbeit widerstrebend alle Sicherungssperren löschte.
"Ist nicht wichtig", hatte ich beiläufig geantwortet, ohne etwas von Lisa zu erwähnen. Hätte ich es getan, hätte er sich vermutlich geweigert mit die modifizierte Konsole auszuhändigen.
Viele vor mir haben versucht jemandem per Cyberware aus dem Labyrinth des Komas zurück ans Tageslicht zu holen. Mit dem Resultat, daß sie im selben Zustand endeten. Man sagt, das Koma ist ein schwarzes Spinnennetz, in dem man sich hoffnungslos verfängt, versucht man nur einen Blick darauf zu werfen.
Das Kabel mündet von Lisas Kopf in die Konsole, sendet diesmal nicht, sondern überträgt in Gegenrichtung all das, was in ihr vorgehen mag auf die Neuronik. Mit einer Konsole aus dem Laden ist das nicht machbar, aber wenn man die Sicherheitssperren deaktiviert............Sicherheitssperren heißen wohl nicht umsonst so., aber was soll's.
Du kannst deinen Verstand verlieren, sage ich mir.
Und ?
Gehe ich auf die Straße , sehe ich den Leuten beim Sterben zu.
Als der Elektroniker an der Konsole herummanipulierte krepierte er vor meinen Augen am Giftgas - ich hörte ihn reden, aber ich sah ihn gleichzeitig sterben. Meine Augen machen was sie wollen. Sie lassen mich, wann immer ich ein lebendes Wesen ansehe, zusehen, wie es einen der Tode erleidet, deren Zeuge ich durch Dvoraks Kunstwerk wurde. Aber so ist es wohl mit großen Kunstwerken. Etwas davon soll ein Teil von einem werden. Betrachtet man das also als Definition von Kunst ist............war Dvorak ein begnadeter Künstler
. Den Verstand verlieren? Ich schätze, daß ich mir darüber keine Sorgen mehr machen muß, oder?
Das Kabel ist dünn, aber immer noch mächtig genug , um meine Seele sich hindurch zwängen zu lassen. Bevor ich mich einstöppsele sehe ich noch einmal in Lisas Gesicht. In einer Maschine traf ich sie zum ersten Mal, Getrennt durch hunderte von Kilometern. Erst viel später, begegneten wir uns physisch, doch schon vorher waren wir eine Einheit. Irgendwo da drin ist die Seele, die ich kenne. Es muß sie nur jemand herausholen. Ich schalte ein. Es ist.........................
ENDE