Veteran
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- 15.10.2015
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Die letzte Saison
Ein Schritt. Ein einziger Scheißschritt. Ich müsste ihn nur machen, und zwar jetzt.
Aber ich komme wieder mal nicht vom Fleck. Björn zieht an mir vorbei zum Korb: eins, zwei, Absprung. Als ich mich endlich bewege, ist es längst zu spät, meine Hand trifft seinen Unterarm, der Ball springt sonstwohin. „Foul!“, rufe ich.
„Schon wieder Kino!“, höre ich Schmitt zischen. Ich muss lächeln. Nee, Reinhard, das hier hat nichts mit Kino zu tun. Ich bin einfach nicht mehr so schnell. Die alten Knochen.
Kino. Wie ich das Wort gehasst habe. Reinhard Schmitt, mein alter Mathelehrer und Basketballtrainer, hat es geprägt, weil ich als Jugendlicher manchmal so unerklärlich tatenlos dastand, statt den Gegner energisch anzugreifen oder mir nach einem Wurf sofort die beste Reboundposition zu sichern. Mentale Blockade, eine Sekunde Denkpause, einfach so. Und keine Ahnung, woher das kam oder was ich dagegen tun sollte.
Ich bin das nie ganz losgeworden, weder dieses Kino-Syndrom noch Schmitts Stimme in meinem Kopf. Dabei liegt das alles schon vierzig Jahre zurück, und der alte Mann lebt vielleicht gar nicht mehr. Aber mir geht es wie dem schizophrenen Professor in A Beautiful Mind, der seine eingebildeten Freunde auch dann noch sah, als er wusste, dass sie nicht real waren. Wir konnten beide nur lernen, so gut wie möglich damit klarzukommen. Und alles in allem war ich dabei ganz erfolgreich.
„Kann's weitergehen, Timo?“ Björn reißt mich aus meinen Gedanken.
„Oh. Klar.“
„Na bestens, dann mal los.“ Er macht seinen Einwurf, und das Spiel läuft weiter.
Unter der Dusche lasse ich das Wasser so heiß über meinen geschundenen Körper laufen, wie es gerade noch erträglich ist. Nach dem Training bin ich jedes Mal völlig fertig. Es macht eben keinen Spaß, wenn man sich nicht richtig reinhängt, egal ob heute in der Freizeitgruppe oder damals als Beinahe-Profi. Zweite Bundesliga, immerhin, das hätte wohl keiner dem unsportlichen Streber zugetraut, der ich mit dreizehn noch war. Dann sprach mich Vitali auf dem Pausenhof an, einfach weil ich damals schon eins neunzig groß war und sie noch einen Center für das frisch gegründete Team brauchten. Mein Leben veränderte sich. Und bald wird es sich wieder verändern.
Scheiße, ist das wirklich schon so lange her? Unvermittelt habe ich einen Song im Ohr.
glory days, in the wink of a young girl's eye,
glory days, glory days ...
Am nächsten Tag ertappt mich Sanela, als ich mir im Schlafzimmer Schmerzgel aufs Knie schmiere. Zu blöd. Warum habe ich das nicht im Bad gemacht? Sie runzelt die Stirn, stellt den Wäschekorb aufs Bett und öffnet den Schrank. „Sag nichts“, sage ich.
„Tue ich doch gar nicht.“ Sie dreht mir den Rücken zu, ich kann nicht sehen, ob sie amüsiert oder missbilligend guckt. Eine Weile sehe ich ihr zu, wie sie die Bügelwäsche einräumt.
Ich war vom ersten Moment an verknallt wie ein Pennäler, als wir uns in den Neunzigern an der Uni trafen. Zwei Spätstudenten: Ich hatte die Ausbildung wegen des Sports vernachlässigt, ihr Lebenslauf wurde vom Krieg in ihrer bosnischen Heimat durcheinandergebracht. Damals hat sie selbst noch gespielt, Twin Towers nannten sie uns im Mixed-Team, weil Sanela fast so lang ist wie ich. Mit der ersten Schwangerschaft hat sie aufgehört, seitdem hält sie sich mit Yoga und Pilates fit. Und wie fit! Anmutig wie eh und je, kein Stück gealtert, kein Gramm zugelegt. Ich dagegen mit meinem Waschbärbauch ...
„Ich hör ja auf. Haben wir doch besprochen.“ Zum Saisonende, neunzehnter Juni, das ist die Marke, die ich mir gesetzt habe. Bloß nicht zu Silvester oder zum Geburtstag, da bin ich auch so schon depressiv genug.
„Hauptsache, du hältst dich auch dran. Ist ja nicht dein erster Versuch.“ Sie hat Recht, wie immer. Ich habe nie geraucht, aber damit aufzuhören, stelle ich mir ähnlich vor. Man weiß, dass es einem nicht guttut, aber man greift trotzdem immer wieder zum Glimmstengel. Oder eben zum Ball. Ich kann einfach nicht anders. Dabei haben zwanzig Jahre Leistungssport mehr als genug Spuren an meinem Körper hinterlassen. Der Rücken tut fast jeden Tag weh. Die Schultern auch, obwohl sie beide operiert sind. Drei Finger waren nacheinander gebrochen. Ebenso das linke Handgelenk, auf dem mal so ein Fettwanst gelandet ist, nachdem er mich umgerannt hatte. Wenigstens hat der Schiri das Foul gegen ihn gepfiffen.
Und die Knie, mehr als alles andere. Die sind einfach verschlissen, haben mein Gewicht zu lange durch die Gegend wuchten müssen. Rennen, springen, Richtungswechsel – alles Gift, wenn die Knorpel abgenutzt sind und Knochen auf Knochen reibt. Nein, Basketball ist nicht mehr. Sechs Wochen noch, dann endet meine letzte Saison.
„Komm mal her.“ Ich greife Sanelas Handgelenk und ziehe sie aufs Bett. Sie lässt sich neben mich fallen und lacht ihr wunderbares Lachen, tief aus der Kehle. Ich kicke den Korb von der Matratze.
Wollen doch mal sehen, ob nicht irgendein Körperteil noch funktioniert.
„Du kannst ja 'nen anderen Sport machen“, sagt Lukas. Mein Bruder ist zum Angrillen gekommen. Wir haben uns fast ein halbes Jahr nicht gesehen, vierhundert Kilometer schaffen doch eine ziemliche Distanz. „Wir haben jetzt zusammen Nordic Walking angefangen. Macht echt Spaß.“
„Bleib mir vom Leib, das ist doch für alte Leute! Warum nicht gleich Seniorengymnastik?“ Ich bin wohl eine Spur lauter, als ich sein sollte. Sabine, Lukas' Frau, schnappt nach Luft.
Aber Lukas lächelt nachsichtig. „Werd du auch mal sechzig, dann sprechen wir uns wieder. Sind ja nur noch ein paar Jahre.“ Sanela stellt die Salatschüssel auf den Tisch. Ich kann ihren Hinterkopf förmlich feixen sehen, als sie zurück in die Küche geht. „Nee, wirklich, dabei kann man sich echt auspowern, wenn man's richtig macht. Hab ich vorher auch nicht geglaubt. Und es geht nicht so auf die Knochen, low impact und so.“
„Ich denk mal drüber nach.“ Ich versuche, das Thema zu wechseln, aber ich komme nicht weit. „Wie geht's Papa?“
„Ach. Alzheimer ist scheiße. Aber körperlich ist er nicht totzukriegen. Letzte Woche ist er in Unterhose durch die Gänge getapert und hat den Trainingsraum gesucht. Als sie ihn wieder einfangen wollten, hat er erst rumgepöbelt und dann eine Pflegerin ausgeknockt.“ Lukas kichert. „Na ja, nicht ganz, aber sie hat immerhin geblutet. Hat eben seinen berüchtigten linken Jab nicht kommen sehen.“
Wir schauen in unsere Bierflaschen, während unser Grinsen langsam verblasst. „Er hat halt zu oft einen auf die Murmel gekriegt“, sage ich.
„Ja, meinen die Ärzte auch. Keine Indikation, dass wir das auch kriegen müssten.“
„Besser ist das.“
„Aber vergesslich seid ihr alle beide“, wirft Sabine ein. „Will vielleicht mal einer das Fleisch umdrehen? Das qualmt doch schon wieder!“
Beim nächsten Training ist ein Neuer dabei. Er stellt sich als Niklas vor, dreiundzwanzig, Student, macht sein Praktikum in unserer Stadt. Will nur unter der Woche ein bisschen mittrainieren, hat zuhause seinen Stammverein. Bezirksliga.
Wir spielen wie immer einfach Hell gegen Dunkel. Ich trage heute ein schwarzes Shirt, Niklas ein gelbes. Gleich bei seinem ersten Ballbesitz bringt er mich mit einer Körpertäuschung aufs falsche Bein, schiebt sich dann mit einem schnellen Dribbling an mir vorbei zum leichten Korb. Anfängerglück!
Doch ich merke schnell, dass dieser Niklas richtig was draufhat. Gute Sprungkraft, feine Wurftechnik, kluges Stellungsspiel. Ordentlicher Körpereinsatz unterm Korb. Ein bisschen wie ich damals, er spielt ebenfalls Center, hat auch ungefähr meine Länge. Und die weiß er einzusetzen, macht im Angriff einen Korb nach dem anderen und hält in der Verteidigung seine Zone sauber. Nachdem er meine Standwürfe zweimal in Folge geblockt hat, ist mir klar, dass ich meine Strategie ändern muss. So locker wie sonst in unserer Freizeittruppe wird das heute nicht.
Natürlich ist Niklas schneller als ich, beweglicher. Ich muss meine Erfahrung ausspielen, immerhin kenne ich nach vierzig Jahren Basketball die Pass- und Laufwege blind, habe alle Tricks schon gesehen. Wenn ich ihm in die Augen schaue, weiß ich, wohin er spielt, bevor seine Hände sich bewegen. So kann ich mehrere seiner Pässe abfangen und ihm einfach den Ball wegtippen, wenn er ihn nicht gut genug schützt.
Und ein paar Körbe kriege ich auch hin. Als Vitali zum linken Flügel dribbelt, sinke ich rechts so weit ab, dass Niklas den Körperkontakt zu mir verliert. Seine Augen hat er auf dem Ball, er will keinen Pass zulassen. In seinem Rücken stehle ich mich Richtung Freiwurflinie, er merkt es zu spät, und als Vitali zu mir passt, kann Niklas meinen Wurf nicht mehr verhindern. Und drin. Yes!
„Hey, Mister T.!“ Vitali haut mir in der Trinkpause auf die Schulter, so dass ich mich an meinem Wasser verschlucke. Das hat er schon früher gerne gemacht. Der einzige Kumpel aus Jugendzeiten, den es in dieselbe Stadt verschlagen hat. „Du spielst ja heute wie neugeboren. Was trinkste denn da – Jungbrunnen?“ Ich versuche zu grinsen, während ich huste. Er hat schon Recht, heute fühle ich mich richtig gut. Ich kann kaum erwarten, dass es weitergeht.
Beim nächsten Angriff kriege ich am Zonenrand den Pass. Niklas steht eng bei mir, will mir keinen Raum zum Schießen geben. Aber ich habe noch ein paar Asse im Ärmel. Mit einem langen Schritt Richtung Grundlinie setze ich meinen Hakenwurf an, den Arm abgewandt vom Gegner, am höchsten Punkt abgedrückt, unmöglich zu blocken. Diesen Skyhook habe ich mir in den Achtzigern von Kareem Abdul-Jabbar abgeguckt, als der in der NBA gerade seinen dritten Frühling erlebte; den kennen die Jungen heute gar nicht mehr. Treffer!
Vom Kino-Effekt ist heute nichts zu spüren, ich bin hellwach. Was meine Knie mir an Schnelligkeit versagen, mache ich durch Antizipation wett. Mein Bauchgefühl sagt mir, wo ich nach einem Wurf stehen muss, um den Rebound zu kriegen. Und als Niklas an der Zonenecke Vitali ausfintet und zum Korb zieht, stehe ich schon mitten in seinem Laufweg. Er prallt voll in mich hinein, ich lande schwungvoll auf dem Hosenboden, aber es ist sein Foul. Ich muss laut lachen. Nimm das, Schmitt!
Mir tut heute nichts weh, ich bin ganz im Wettkampfmodus, und Niklas scheint es nicht anders zu gehen. Wir liefern uns jetzt einen offenen Schlagabtausch, der alte Hase gegen den jungen Hüpfer. Routiniert streife ich ihn an seinem eigenen Mitspieler ab, kriege den Pass und mache den leichten Korb. Im schnellen Gegenangriff gibt Björn den langen Pass nach vorn auf Niklas, der mich natürlich im Sprint abhängt und zum Slam Dunk hochsteigt. Ich muss erst mal wieder zu Atem kommen und lasse meine Mannschaft einen Angriff ohne mich laufen.
Doch bei Niklas' nächstem Wurf bin ich wieder voll da, schraube mich mit aller Kraft in die Luft. Ich werde schwerelos, steige immer weiter und schlage am höchsten Punkt den Ball zur Seite weg. Ein Block für die Galerie! Wo sind Zuschauer, wenn man welche braucht?
Noch bevor ich lande, merke ich, dass das nicht gutgeht. Niklas und ich sind uns zu nahe, ich bin fast auf ihn gesprungen. Und er ist vor mir wieder unten, mein Raumgefühl sagt mir, dass seine Füße genau dort stehen, wo meine hin wollen. Keine Chance mehr auszuweichen.
Ich komme auf. Ein schnalzender Laut, ein stechender Schmerz, und ich kugele über den Hallenboden. Fuck!
Björn kniet als Erster neben mir. „Lass mal sehen.“ Aber er braucht gar nicht zu gucken, ich spüre schon, wie der Knöchel anschwillt. Ich trommele vor Frust auf den Boden, bis die Faust mehr wehtut als der Fuß.
„Hat irgendjemand Eisspray dabei?“
„So, Herr Wilms, hier sind die MRT-Bilder.“ Der Arzt hat die Ausdrucke vor sich auf dem Schreibtisch liegen. Er lächelt schwach, während er auffordernd auf den Stuhl zeigt, seine Stirn ist leicht gerunzelt. Mir ist klar, was jetzt kommt, diesen professionell-betroffenen Blick habe ich oft genug gesehen. Und mein Knöchel ist über Nacht nicht gerade dünner geworden.
Ich werde nicht enttäuscht. „Ein glatter Bänderriss, wie ich befürchtet habe. Außenband, hier, sehen Sie das? Diese Lücke da sollte nicht sein, das müsste ein Stück sein.“ Mit der Spitze seines Kugelschreibers zeigt er irgendwas auf dem Papier.
Ich habe da schon früher nie viel erkennen können. Was soll's, dafür ist er ja der Spezialist. „All die Jahre ...“, denke ich halblaut. Er sieht mich fragend an. „Ich hab schon viele Verletzungen gehabt, aber nie an den Sprunggelenken. Komisch eigentlich. Ganz untypisch.“
Er blickt kurz in seine Notizen. „Basketball, hatten Sie gesagt?“ Ich nicke. „Hm. Vielleicht sollten Sie mal eine andere Sportart ausprobieren? Die weniger auf die Gelenke geht?“
„So was wie Nordic Walking?“
„Gute Idee.“ Er sieht mein Gesicht und weicht ein paar Zentimeter zurück. „Das machen heute ganz viele. Auch junge Leute.“
„Ich denk mal drüber nach.“
„Hm. Gut. Also ... für Ihren Knöchel werden wir erst mal eine Orthese nehmen. So eine Art Schiene, haben Sie ja bestimmt schon mal gesehen, die kriegen Sie im Sanitätshaus. Eine OP braucht es normalerweise nicht, das beobachten wir erst mal, da können wir später noch umentscheiden, falls es nötig sein sollte.“
Kurz darauf stehe ich auf dem Flur, mit einer Verordnung für die Orthese und einem Rezept für Schmerzmittel in der Hand. Ich verlasse die Praxis und schleppe mich auf eine Bank unter dem nächsten Baum.
Es ist ein Maitag wie aus dem Fotoalbum. Gut zwanzig Grad, fast windstill. Die Sonne wechselt ab mit weißen Wolken. Blühende Rhododendren in den Rabatten. Ein paar Kinder radeln an mir vorbei durch die Fußgängerzone, brav mit Helm auf dem Kopf. Ich rechne. Sechs Wochen Schiene, dann Krankengymnastik. Das wird locker Mitte Juli, deutlich jenseits des Saisonfinales.
Ich atme tief ein. Der Frühling riecht nach Aufbruch und Neubeginn, nicht nach Ende und Abschied.
Nicht auf diese Weise.
Verdammt! Sanela wird mir den Kopf abreißen.