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Die letzte Patrone

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19.08.2003
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Die letzte Patrone

Oberhalb von Makarska, einer Bezirksstadt im Süden Kroatiens, gibt es einige fast verlassene Dörfer mit halb zerfallenen, mehr als hundert Jahre alten Steinhäusern. Die Besitzer leben zumeist unten am Meer in der Stadt. Einige betreiben oben noch ein wenig Landwirtschaft, haben dort ihre Olivenbäume, halten Schweine oder Ziegen. Gerade im Sommer werden dort viele Feste gefeiert, von Hochzeiten bis hin zu kleinen Grillpartys, wie die, zu der Dodo gerade unterwegs war.
Ein Freund hatte ihn mit seinem pinkfarbenen Zastava am oberen Rand des Dorfes am Ende der Straße abgesetzt. Er musste noch etwa hundert Meter einen Schotterpfad hinauf.
Oben angekommen, wurde er mit großem Hallo empfangen. "Wie geht's Alter, was macht das Auge? Schön, dass du endlich zurück bist? Hast du von Mates Unfall gehört? Vor zwei Tagen ist er die Klippen runter, zugedröhnt und komplett abgefüllt, hat aber Schwein gehabt. Er ist schon wieder zu Hause, kann aber noch nicht laufen."
Peros Begrüßung war herzlich. Er legte freundschaftlich den Arm um seine Schultern und sie gingen zum Feuer, wo schon seit zwei Stunden eine Ziege über einem Holzfeuer gedreht wurde.

Es war fast dunkel geworden. Ein Hauch von orangefarbenem Sonnenlicht lag noch über dem Meer und beschien, vermischte mit dem Flackern des Holzfeuers die Szene. Die Partygäste waren neben dem Feuer im Kreis versammelt. Sieben Männer, alle schwarz gekleidet, kahlgeschoren, einige mit Tüchern eng um den Kopf gebunden. In der Mitte dieses Kreises, auf einem kleinen Felsen, lag ein Totenschädel. Nacheinander standen sie auf, gingen ins Zentrum und jeder nahm einen der Briefumschläge, die in dem umgedrehten Schädel steckten. Dodo stopfte den seinen unter das Hemd.
"Das war für mich das letzte mal", sagte er zu Pero, als sie zurück den Berg hinunter gingen.
"Ich sehe auf dem einem Auge fast nichts mehr, und die Kopfschmerzen werden wieder schlimmer, ich kann nicht mehr."
"Aussteigen ist nicht," war die Antwort, „wenn du in Zukunft schlecht drauf bist, bleibst du eben zu Hause, und ich bringe dir deinen Umschlag. Den für Mate habe ich heute auch genommen."
"Es geht nicht ums Zuhausebleiben", erwiderte er, "der Krieg ist vorbei."
"Für uns ist der Krieg nie zu Ende, der Kampf geht weiter", Pero wurde laut.
„Du steckst vom ersten Tag an mit drin, und du bleibst drin."
Etwas leiser und beschwichtigend sprach er weiter.
"Kuriere dich erst mal aus. Ich werde dann zu dir kommen. Abgesehen davon, du weißt wie die Chancen stehen, acht zu eins."

Dodos Freund, der mit dem pinkfarbenen Zastava, war pünktlich aber nur zwei Bier davon entfernt Sturz besoffen zu sein. Selber zu fahren war für Dodo unmöglich, sein Kopf schien zu zerplatzen. Er presste die Daumenballen gegen die Schläfen und mit verzerrter Stimme brachte er heraus: "Junge, fahr bloß langsam."
Er hielt die Augen geschlossen, denn das Licht entgegen kommender Autos stach wie Nadeln in sein Hirn. Er hatte den Sitz etwas zurückgedreht und versuchte die wild auf ihn einströmenden Gedanken zu verdrängen.
Nach ein paar Kilometern war der Schmerzanfall so plötzlich vorbei, wie er begonnen hatte. Vorsichtig öffnete er die Augen und starrte in unmittelbar vor ihm gleißendes Scheinwerferlicht. Der fast gleichzeitige, dumpfe Schlag gegen ihr Fahrzeug warf ihn gegen die Beifahrertür. Sein Kopf zerschlug die Seitenscheibe und er verlor das Bewusstsein.

Ein paar Tage müsse er wohl im Krankenhaus bleiben, hatte ihm der Arzt gesagt. Er habe einen Bruch des rechten Augenbodens. Zudem waren bei der erfolgten Operation Glassplitter aus seinem noch gesunden Auge entfernt worden, doch nicht alle. Eine weitere Operation wäre erforderlich. Auch müsse er für ein paar Tage einen Verband und eine Augenklappe tragen.
Würde er wieder sehen können? Er hatte Angst, große Angst. Es war so anders als bei seiner Verwundung in der Krajina, bei der letzten großen Schlacht in Kroatien. In vorderster Front waren sie auf Knin gestürmt, das Gebiet zu befreien, dass die Serben von Anfang des Krieges an besetzt hatten.
Der Widerstand des Feindes war schon gebrochen, als sie den Stadtrand erreicht hatten. Nur noch vereinzelt war Gewehrfeuer auszumachen. Die eigene Artillerie hatte eine Granate nach der anderen in die serbischen Stellungen gejagt und so ihren Vormarsch vorbereitet.
Es waren noch etwa zehn Meter bis zur Straße, die sich aus den Bergen in Serpentinen hinab in die weite Hochebene zur Stadt schlängelte. Ein Kamerad zu seiner Linken war wie er in geduckter Stellung gegangen, mit dem Maschinengewehr im Anschlag.
"Mine", hatte der gerufen, neben sich gedeutet und war weiter gegangen. Was er nicht bemerkt hatte war der Draht, der mit dem Auslöser verbunden und in einer Höhe von etwa 30 Zentimetern vor ihm von Gras getarnt gespannt war. Die Mine war explodierte und hatte den Mann zerrissen. Dodo hatte versucht sich in letzter Sekunde schützend auf den Boden zu werfen. Es hatte nicht gereicht, er wurde von den Granatsplittern am Kopf getroffen. Er hatte sich wieder aufgerappelt und sie waren in Knin einmarschiert.
Immer wieder hatte er sich das Blut aus dem Auge wischen müssen aber keinen Schmerz verspürt. Eine halbe Stunde später, kurz bevor er einen Sanitätswagen erreichen konnte, war er zusammengebrochen.

Schäden würde er keine zurückbehalten, hatte ihm damals die Ärzte nach der Operation gesagt. Zu Hause war er als Held gefeiert worden und fühlte sich fast wieder wie früher. Verschwunden war alle Trauer, die Angst vor der Zukunft, der Todeswunsch. Wer oder was konnte ihm nach alle dem noch etwas anhaben? Nach dem Krieg würde er in seinem Haus eine Ferienpension einrichten, sein Boot instandsetzen und es an Touristen vermieten. Vielleicht würde er auf seinem Grundstück an der Küstenstraße eine Waschstraße für Autos bauen, dort würde es das ganze Jahr hindurch Arbeit geben. Er war voller Ideen und Zuversicht.
Als nach Wochen, er war schon wieder im Einsatz, seine Kopfschmerzen stärker und stärker wurden, hatte man im Militärkrankenhaus in Splitt einen Tumor hinter seinem rechten Auge festgestellt. Die Geschwulst war entfernt worden und weitere Granatsplitter. Seitdem war er auf diesem Auge fast blind. Selbst das hatte ihn damals kaum berührte. Er war ein Held und ein Mann mit Zukunft.

Dodos Onkel war aus Zagreb gekommen, um ihn vom Krankenhaus abzuholen. Der ehemalige Bürgermeister war nun Abgeordneter im Kroatischen Parlament.
„Hier, das gehört ihnen und Gott sei mit ihnen," verabschiedete sich die Krankenschwester und reichte Dodo eine Plastiktüte mit seinen Kleidern, die er am Tag des Unfalls getragen hatte.
Hastig griff er ins Innere und ertastete den Umschlag, den er in den vergangenen Tagen völlig vergessen hatte. Erleichtert über dessen Vorhandensein, ließ er sich von seinem Onkel zum Auto führen.
„Ich habe vorhin noch mit deinem Arzt gesprochen", begann der Onkel, „in etwa vier Wochen sollten die restlichen Splitter entfernt werden. Die Operation ist aber völlig gefahrlos."
„Ich werde sicher nicht daran sterben," erwiderte Dodo.
„So meinte ich das nicht", antwortete der Onkel, „du hast volle Sehkraft auf dem Auge und einige Splitter brauchten eigentlich nicht entfernt zu werden. Andere liegen jedoch so, dass es irgendwann zu Schwierigkeiten kommen könnte."
„Wann irgendwann?", fragte Dodo.
„Das wissen die Ärzte auch nicht. Das kann morgen sein oder in einigen Jahren."
Der Onkel sprach noch einige Zeit weiter und hatte dabei nicht bemerkt, dass Dodo in Gedanken versunken war.

Seit dem frühen Tod seines Vaters, hatte der Onkel für ihn gesorgt. Der Onkel war immer für ihn da gewesen und nun der Einzige aus der Familie, der ihm geblieben war. 34 Jahre alt war Dodo, und was für ein kaputtes Leben hatte er hinter sich. Er dachte zurück an seine geschiedene Frau, die ihn mit seinem kleinen Sohn wegen eines Anderen verlassen hatte. Ein wehmütiges Lächeln lag auf seinem Gesicht beim Gedanken an Renata, derentwegen er nach Kanada gegangen war, um Geld für eine gemeinsame Zukunft zu verdienen. Es war eine verdammt harte Zeit gewesen. Er hatte für die Alaska Eko Petrol gearbeitet, vorwiegend mit einem Reparaturtrupp Pipelines und Pumpstationen gewartet, drei lange Jahre in Schnee und Eis. Er hasste die Kälte, und doch hatte er durchgehalten.
Nach drei Jahren war er zurückgekehrt, zu Beginn des Krieges. Seine Mutter war gestorben. War seine Trauer auch groß, so war er andererseits voll freudiger Erwartung gewesen seine Renata wieder zu sehen. Er hatte jeden Cent gespart und brachte eine Menge Geld mit nach Hause, genug für einen sorgenfreien Anfang.
Und dann hatte sie vor ihm gestanden, ein kleines Mädchen im Arm, vielleicht ein Jahr alt. Niemand hatte ihm etwas erzählt, doch er hatte sofort verstanden. Er war unfähig gewesen etwas zu sagen, hatte seine Enttäuschung herausschreien wollen und sich doch nur umgedreht und war gegangen. Niemand hatte ihn je weinen sehen und so sollte es auch bleiben.
Er war in die Berge hinaufgegangen, ziellos umhergewandert. Es war schon dunkel, als er zurückgekehrt war. Sein Onkel hatte ihn vor dem Haus empfangen, einen Arm um seine Schulter gelegt und die wenigen Meter bis zum Strand geführt.
„Es ist alles in Ordnung, Onkel", hatte er beruhigen wollen, „ich kann sie verstehen, drei Jahre sind eine lange Zeit. Es gab ja auch keine Nachricht von mir, keine Briefe, keinen Anruf."
Der Onkel hatte ihn fest an sich gedrückt und Tränen standen in seinen Augen.
„Junge, es gibt noch etwas. Deine Großmutter, es ist wohl zu viel für sie gewesen."
„Was ist mit Großmutter, was ist denn?"
Dodo hatte sich aus der Umarmung gelöst und seinen Onkel angstvoll fragend angesehen.
„Sie ist heute Mittag gestorben, Junge, viertel vor eins."
Er war in die Hocke gegangen und hatte die Hände vor das Gesicht gepresst. Ein Schwall von Tränen hatte seinen Körper beben lassen. Dann hatte er sich wieder aufgerichtet, seine Arme gegen den Himmel gestreckt, nach oben geblickt und gerufen: „Gott, mein Gott, was machst du mit mir?"

Solange Dodo den Verband tragen musste, war er an das Haus gebunden und hatte viel Zeit nachzudenken. Damals war für ihn alles zusammengebrochen, er hatte kein Ziel mehr. Es gab nichts wofür es sich gelohnt hätte weiter zu machen. So hatte er beschlossen sich freiwillig zur Kroatischen Garde zu melden und in den Krieg zu ziehen. Wenn es schon für ihn keinen Grund mehr gab zu leben, dann sollte doch zumindest sein Tod einen Sinn haben. Selbst nach drei Wochen Training in der Kaserne waren sie ein bunt zusammengewürfelter, disziplinloser Haufen. Dennoch waren sie zur Verstärkung an die Front geschickt worden. Wäre da nicht Pero gewesen, hätte er schon die ersten Stunden nicht überlebt.
Nach einer endlosen Anfahrt und weiteren drei Stunden Fußmarsch nahe entlang der Serbischen Linien, hatten sie ihre Stellung oben in den Bergen zwischen Ploce und Dubrovnik erreicht. Der Feind lag nicht einmal 300 Meter entfernt auf der gegenüberliegenden Talseite. Er war erschöpft, hatte sich auf einen Felsen gesetzt und begonnen eine Zigarette zu drehen. „He, du, bist du lebensmüde", hatte ihn Pero angerufen, „bewege deinen dämlichen Arsch und komm hierher!"
Er war zu ihm hinunter geschlendert und hatte dabei seine Zigarette fertig gedreht.
„Ich bin Dodo; was gibt es?"
Pero stand ihm gegenüber, breitbeinig, die Fäuste in die Hüfte gestemmt.
„Was es gibt", brüllte Pero, „sagt dir das Wort Scharfschütze etwas? Da drüben," er zeigte mit dem ausgestreckten Arm in Richtung der Serben, „da drüben gibt es einen ganzen Arsch voll davon!"
„Na und?", hatte er achselzuckend reagiert und Pero herausfordernd angesehen. Pero hatte ihm die Zigarette aus dem Mund gerissen, ihn am Kragen gepackt und nah an sich herangezogen.
„Pass jetzt gut auf, Dodo. Warum auch immer du hierher gekommen bist, vergiss es und zwar schnell. Hier denke ich für dich. Seit dem ich diesen Haufen führe, habe ich keinen Mann verloren und das wird auch so bleiben. Bei mir muss man sich seinen Tod verdienen und den verdienen zur Zeit nur die da drüben. Also strenge dich an mein Freund zu sein, sonst knipse ich dich aus, ich höchst persönlich!"
Es brauchte wirklich nicht lange und die Befehle hatten das Denken ersetzt. Pero hatte sie ganz schön auf Trab gehalten und das war auch gut so. Sie saßen zwischen diesen verdammten, weißen Felsen, oft tagelang ohne Nachschub an Lebensmitteln und Munition. Es gab nur einige kleinere Scharmützel mit den Serben, ansonsten hieß es Wache schieben, schlafen oder Stöckchen holen.
Da das Denken abgeschafft war, gab es keine Diskussion darüber ob 'Stöckchenholen' eine militärische Übung unter verschärften Bedingungen oder nur ein perverses Spiel war. Unfreiwillig erfunden hatte es Rude, ein Mitte Vierziger.
Er gehörte zu einer weiteren Verstärkung. Wie üblich war der größte Teil von ihnen bei der Ankunft betrunken, so auch Rude. Keiner von ihnen hatte erwartet sofort für zwei Stunden zur Wache eingeteilt zu werden. Unter Murren gehorchten sie jedoch. Nur Rude hatte den starken Mann gespielt.
„Ich war schon in der Armee, als du noch in die Hosen geschissen hast," machte er Pero an.
„Ich nehme jetzt eine Mütze Schlaf. Mit den Kleinen kannst du es ja machen, aber nicht mit mir. Ich bin freiwillig hier, und ich kann sofort wieder gehen, wenn ich will."
Wie zur Bestätigung seiner Worte warf er seinen Karabiner in hohem Bogen den Berg hinunter und stemmte ebenfalls breitbeinig die Fäuste in die Hüfte.
„Du gehst jetzt da runter und holst das Ding zurück."
Pero war beängstigend ruhig.
„Du hast doch ein Rad ab, Kleiner, ich bin doch kein Hund. Abgesehen davon legen die mich von da drüben doch sofort um!", grinste Rude.
Pero zog seine Pistole aus dem Halfter, lud sie durch und richtete sie auf Rudes Unterkörper. Ebenso grinsend sagte er: „Da unten hast du eine Chance, bei mir nicht. Entweder du bringst den Stock zurück oder ich schieße dir die Eier weg."
Rudes Lachen erstickte mit dem Knall aus Peros Pistole. Die Kugel pfiff ihm zwischen den Beine durch und Pero hob den Lauf der Waffe ein wenig an.
Steifbeinig mit weit geöffneten Augen stakste Rude auf den Abhang zu.
„Gebt ihm Feuerschutz", befahl Pero und sie gingen in Stellung. Die Serben reagierten prompt auf den Schuss. Fast eine halbe Stunde schwirrten ihnen die Kugeln der Scharfschützen um die Ohren. Rude schaffte es. Bis zur Dunkelheit hatte er hinter einem Felsen gehockt und war dann mit seiner Waffe zurückgeklettert.
Der Tag danach begann wie immer mit großer Langeweile. Er, Dodo, hatte Wache, ganz außen am Rande ihres Bereiches. Pero war zu ihm gekommen und hatte gefragt: „Alles ruhig?"
„Zu ruhig?", hatte er geantwortet."
„Zu ruhig?", provozierte Pero, „ich lasse dich jetzt ablösen und du gehst Stöckchen holen, o.k.?"
„Habe ich kein Problem mit, wenn du das Stöckchen runter bringst!"
Sie hatten es durchgezogen, bei Tageslicht. Später verschärften sie die Bedingungen. Einmal vergrößerten sie die Entfernung und zum anderen machten sie die Serben wach, indem sie einige Garben MG-Feuer zu ihnen hinüber schickten.

Dann, einen Tage nach dem ersten serbischen Angriff auf die Altstadt von Dubrovnik kamen Munition und Waffen im Überfluss. Es kamen die ersten Uniformen, und es kam die erste Offensive. Sie sollten die Frontlinie überrollen, die feindliche Artillerie vernichten und fünf Kilometer in serbisches Gebiet eindringen, somit eine Schutzzone für Dubrovnik schaffen. Von der eigenen Artillerie und aus der Luft unterstützt waren sie losgestürmt, zur anderen Seite den Berg hinauf. Der Feind hatte dem massiven Druck nichts entgegen zu setzen, und bevor sie die andere Seite erreichten, hatten sich die Serben von dort zurück gezogen.
Nach etwa drei Kilometern stießen sie in einer weiten Senke auf eines dieser kleinen Straßendörfer, es schien verlassen. Im Gänsemarsch waren sie den Hügel hinuntergekommen. Pero bedeutete ihnen auszuschwärmen und Deckung zu suchen. Auf sein Zeichen hin näherten sie sich vorsichtig der Ortsgrenze. Er hatte sich gerade aus geduckter Haltung aufgerichtet, als Pero schrie: „Deckung!", und mit seiner Kalaschnikow auf das Haus direkt vor ihnen gefeuert. Aus der offenen Tür taumelte ein Tschetnik mit dem typischen, zerzausten Vollbart und begann ebenfalls zu schießen. Er, Dodo, hatte auch sofort den Abzug seiner Automatik gezogen und so lange auf den Serben gehalten, bis das Magazin leer war.
„Das war dein Erster oder?", hatte Pero gefragt.
Er hatte nur stumm genickt und ein neues Magazin eingesetzt.
Nach dem erfolgreichen Abschluss dieser Aktion wurde eine Spezialeinheit, die ‚Vierte Garde’, gegründet und er und Pero waren dabei. In der Nähe von Zadar im Norden wurden sie von amerikanischen Marines ausgebildet, das heißt, sie wurden geschliffen und geschunden. In nur sechs Monaten hatte man den letzten Rest an Menschlichkeit aus ihnen herausgepresst und das Vakuum mit Stolz gefüllt. Stolz, der doch nichts anderes war als ein Deckmantel für die Gier zu kämpfen, das Handwerk auszuüben, das sie nun professionell gelernt hatten, das Handwerk des Tötens. Wo auch immer es im Verlaufe des Krieges am schlimmsten war, sie waren dabei, allen anderen voran. Als dann nach Jahren der Krieg vorbei war, hatten sie alle dieses bedrückende Gefühl von Leere. Bald waren alle Heldentaten erzählt und es blieb nichts, an das es sich zu erinnern gelohnt hätte. Pero hatte sie einige Wochen später zusammengerufen, die acht, die sich später hin und wieder zum Grillen versammelten.
„Wir sind Kämpfer", so sprach er, „welchen Sinn hat unser Leben noch. Wir sitzen hier auf unserem Arsch und die Feinde Kroatiens laufen überall frei und ungestraft herum. Keiner von uns hat im zivilen Leben auch nur die geringste Chance einen Job zu kriegen, es gibt keine. Für mich habe ich bereits entschieden, für mich geht der Krieg weiter. Wer sich anschließen will, ist willkommen, wer nicht, der soll aufstehen und gehen."
Sie waren alle geblieben, sie würden weiter kämpfen, obwohl sie nicht einmal wussten gegen wen, wann oder wo.

Die erste Grillparty kam sehr bald, nicht einmal zehn Tage nach ihrem Treffen in der Kaserne. Alle waren nervös, gespannt auf das, was Pero ihnen zu sagen hatte. Als alle versammelt waren, war Pero aufgestanden, hatte den Totenschädel aus seinem Rucksack genommen und ihn auf den kleinen Felsen gelegt.
„In diesem Knochen war früher auch nicht viel mehr drin als jetzt", begann er.
Alle lachten und die Anspannung hatte sich gelöst. Jetzt würden sie erfahren welchen Feind sie bekämpfen sollten und wann es endlich losgehen würde.
„Hier sind acht Briefumschläge", fuhr Pero fort und steckte sie in den Schädel, „jeder von uns wird sich gleich einen davon herausnehmen und geschlossen mit nach Hause nehmen. In jedem Kuvert ist die gleiche Menge Geld und ein Zettel. Sieben dieser Blätter sind unbeschrieben, auf einem steht ein Name und eine Adresse. Es ist der Name eines Feindes Kroatiens, einer verdammten Sau, eines Verräters und Gegners unserer Sache. Ich selber kenne den Namen auch nicht, nur derjenige, der den richtigen Umschlag zieht wird wissen, um wen es sich handelt, das ist der Glückliche, der das Serbenschwein umlegen kann. Wie und wo er das macht, bleibt ihm überlassen. Es muss allerdings in den darauf folgenden vier Wochen passieren."
„Woher hast du den Namen?", hatte Dodo damals gefragt und zur Antwort erhalten: „Ich kenne keine Namen. Diese Umschläge mit dem Geld kommen mit der Post zu mir, mehr braucht ihr nicht zu wissen. Wenn niemand etwas weiß, kann auch niemand etwas ausplaudern. Und auch ihr solltet immer daran denken, wenn zwei etwas wissen, weiß es einer zuviel. Der Zettel mit dem Namen wird natürlich verbrannt!"
Dodo fand in seinem Briefumschlag dreieinhalb tausend Mark und ein leeres Stück Papier. Irgendwie war er froh, nicht der Glückliche gewesen zu sein.
Drei Wochen später gingen Berichte über die Ermordung eines kroatischen Oppositionspolitikers durch die Medien.
„War dessen Name auf dem Zettel gewesen?", hatte sich Dodo gefragt. Wenn ja, war er kein Soldat mehr, dann war er nur ein bezahlter Killer, denn dieser Mann war kein Serbe, nicht sein Feind.

Zwei Tage war er nun schon ohne Augenverband. Sein Onkel war zurück nach Zagreb gefahren, wichtige Termine hatten seine Rückkehr erforderlich gemacht. Zum Wochenende könne er ihn zurück erwarten, hatte der Onkel gesagt.
„Also, noch vier Tage", ging es Dodo durch den Kopf, „noch vier Tage!“
Er saß im Bingo, einer Kneipe direkt am Strand.
„He, Dodo, sieh mal da, Malevic ist im Fernsehen, he, das ist dein Onkel!"
Dodo drehte sich um und konzentrierte sich auf das Fernsehgerät.
„Die Sicherheit unseres Landes steht ohne Frage ganz oben an", klang es aus dem Lautsprecher, „dennoch gibt es keinen Bedarf mehr für verschiedene Kampfeinheiten. Worauf die Vertreter des Militärs bestehen, dient einzig und allein dem Erhalt und der Festigung ihrer Position. Macht ist das Stichwort. Wir stehen am Anfang einer demokratischen Entwicklung und riskieren bei der geringsten Kleinigkeit einen Umsturz, eine Militärherrschaft."
„Bla, bla, bla," murmelte Dodo und kippte seinen fünften Doppelten hinunter.
Er war in den Krieg gegangen, um zu sterben, erinnerte er sich. Wie viele er im Kampf getötet hatte, wusste er nicht und erst jetzt war ihm bewusst, dass er mit Freude getötet hatte. Es war zu einer Art Droge geworden, ein Zwang, dem er sich nicht hatte entziehen können, ja es nicht einmal gewollt hatte. Die Serben waren die Verbrecher, sie hatten den Krieg begonnen, sie hatten seine Heimat überfallen. Alles hatte einen Sinn gemacht. Jetzt sollte er wieder töten, jetzt im Frieden. Bei der letzten Grillparty hatte er das Los gezogen. Es war, als sei er gerade erst aufgewacht, als sei der Krieg nur ein böser Traum gewesen. Mit einem Mal war er wieder er selbst und ihm war kotze übel, er ekelte sich vor sich selbst. Er knallte ein paar Scheine auf die Theke und leicht schwankend verließ er das Lokal.

Es war Freitag Abend. Niemand hatte Dodo in den letzten Tagen nüchtern gesehen. Ganz anders war das heute. Er ging, nach allen Seiten grüßend, zum Fischrestaurant am kleinen Fischerhafen. Da er keinen seiner Bekannten dort antraf, machte er sich zum Bingo auf. Er spendierte drei Lokalrunden und wechselte zum nächsten Lokal, das mit dem Bingo Tür an Tür lag. Auch hier bezahlte er die nächsten Lagen. Sein Zweiter Versuch im Hafenrestaurant war erfolgreicher, einige seiner Freunde waren inzwischen dort. Sie saßen draußen, und wieder war es Dodo der die Leute zum Trinken animierte und zahlte.
„Junge, was ist los, kann ich dir helfen," fragte jemand.
„Alles paletti," antwortete Dodo und warf ein Bündel Geldscheine auf den Tisch.
„Das Leben ist schön," schrie er, „was für ein Leben, feiern wir!"
Für alle unvermittelt zog er eine Pistole unter dem Hemd hervor und richtete sie auf das Hafenbecken. Fünf, sechs Mal knallte es. Einige waren erschrocken aufgesprungen, andere kamen von innen heraus, um zu sehen was geschehen war. Dodo war aufgestanden und lachte.
„Keine Sorge", sprach er, das sind die letzten Schüsse in meinem Leben. Er küsste die Waffe wie zum Abschied und steckte sie zurück in den Hosenbund.

Es war halb zehn, als er die Libelle betrat, eine Kneipe nahe beim Haus seines Onkels. Viele junge Leute waren dort versammelt und spielten Karten. Dodos Freund, der, der ihn zur Grillparty gefahren hatte, arbeitete dort als Kellner hinter dem Tresen.
„Gib was zu trinken, verdammt noch mal, gib all den Säcken hier was zu saufen," rief er, legte auch hier wieder ein Bündel Geldscheine auf die Theke, zog erneut seine Beretta und richtete sie auf den Mann hinter der Theke.
„Mann, Dodo, das ist kein Spielzeug," sagte jemand hinter ihm, „stecke das Ding weg."
„Das ist ein feines Ding," flüsterte Dodo und wandte sich in Richtung Schankraum.
„Das bedeutet Freiheit, habt ihr das schon vergessen?" Wieder lauter fuhr er fort: „Seht her ihr Pfeifen!"
Aus dem Radio klang das Lied 'Schönes Dalmatien'. Dodo steckte sich die Pistole in den Mund, biss auf den Lauf, riss die Hände in die Höhe und begann zu tanzen. Wieder griff er nach der Pistole und mit trockenem Knall löste sich ein Schuss. Blut und Fleischfetzen spritzten gegen die Decke. Die Kellnerin, die schon zuvor hinter die Theke geflüchtet war, brach mit einem schrillen Schrei zusammen. Dodos Körper schlug auf den Steinboden und ein Schwall von Blut ergoss sich rings um seinen Kopf. In Panik stürzten die Gäste hinaus.

Seine Beerdigung war die größte, die dieser Ort je gesehen hatte. Unter militärischem Ehrengeleit, sein Sarg mit der kroatischen Flagge geschmückt, trugen sie ihn hinauf auf den Berg. Salutfeuer erschall, als sich der Sarg in die Gruft senkte. Onkel Jure war nicht dabei. Er lag im Krankenhaus in Zagreb. Die Nachricht von Dodos Tod hatte eine Herzattacke ausgelöst. Später wurden ihm die Dinge überbracht, die Dodo an seinem letzten Abend bei sich gehabt hatte. Das waren ein Taschenmesser, seine Militärmarke, seine Uhr und ein Zettel, der in einem Bündel von dreieinhalb tausend Mark eingewickelt war. Auf diesem Zettel stand sein Name: Jure Malevic, Gradac, Strandpromenade 111!

 

Hi Jadro

Endlich mal wieder eine Geschichte, die ich nur loben kann :)
Sind zwar einige Rechtschreibfehler drin, aber nur kleinere, die mich nicht so sehr gestört haben... Daher werde ich sie auch nicht alle auflisten :)

Die Geschichte hat meiner Meinung nach alles, was eine gute Story haben muss. Sie befiehlt dem Leser nicht, was er denken muss und reißt ihn trotzdem mit. Die vielen kleinen Details und das ganze Hintergrundwissen lassen mich vermuten, dass du die Gegend und die politische Situation auf dem Balkan gut kennst.
Was die Geschichte besonders faszinierend macht, ist der ständige Wechsel zwischen den Kriegsszenen und dem Alltag außerhalb der Kampfzonen, wo der Krieg nur unter der Oberfläche tobt.

Die Unterschiede zwischen den beiden Hauptcharakteren Pero und Dodo hast du sehr gut rausgearbeitet, besonders Dodo wirkt sehr menschlich, mit all seinen Problemen und Konflikten, obwohl nur angedeutet, finde ich die Szene, wo er in sein Dorf zurückkommt und seine Freundin mit dem Kind sieht.

Den Schluss find ich auch ganz stark, durch den Zettel gibts auch eine Verbindung zum Anfang. Zuerst hatte ich gedacht, Dodo erschießt sich weil er zu betrunken ist, aber im nächsten Abschnitt wird dann der wahre Grund klar. Man kann sich dann selbst überlegen, ob es vielleicht bei Mates "Selbstmordversuch", der am Anfang erwähnt wird, um eine ähnliche Sache ging.

Klasse Geschichte, ich wünsche dir viele Leser :)

Gruß
wolkenkind

 

Hi wolkenkind!

Danke für Deinen Beitrag. Du liegst in allem vollkommen richtig. Ich (Deutscher) habe mit meiner Frau (Kroatin) von 1990 bis 1997 in Kroatien gelebt und den Balkankrieg somit Vorort miterlebt (daher die Kenntnisse über Land und Leute). Die Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Dodos (Name geändert) Schwester ist die beste Freundin meiner Frau.

Diese Geschichte habe ich noch in Kroatien geschrieben. Eigentlich wollte ich damit (Dodo und Mate sind hier die Stellvertreter) die wahre Gesinnung dieser extremen ‚Kämpfer’ beschreiben. Es waren und sind liebenswerte Menschen, die jeweils zum richtigen Zeitpunkt das von ihnen Erwartete getan haben und zwischen Kriegs- und Friedenszeiten sehr wohl zu unterscheiden wussten.

Es freut mich, dass Dir meine Geschichte gefallen hat.

Grüße aus Hamburg
Jadro

 

Hallo Jadro, schreib doch mal einem Moderator dieser Sparte eine PM, dass er deinen Titel auch in der Rubrik-Übersicht ändert. Ein Rechtschreibfehler bereits im Titel ("patrone") wirkt zumeist abschreckend.
Grüße,
...para

 

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