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Die letzte Nacht
Ernst:
Das ist die letzte Nacht in meinem Haus. Jetzt muss ich ins Altersheim. Die Kinder sagen, es wäre das Beste, aber ich weiß nicht. Hoffen wir es. Hilde ist am 15. September 2006 gegangen. Wir haben uns 51 Jahre, drei Monate und 5 Tage gekannt. Vorgestern haben sie mir das eingerichtete Zimmer im Altenheim gezeigt, es ist wirklich groß. 28 qm haben sie gesagt. Ich komme nur so schnell da rein, weil jemand gestorben ist.
Die letzte Nacht in meinem Haus. Ich habe den Grund 1964 von meinem Vater geerbt. Wir haben zu bauen angefangen, als Gisela zwei Jahre alt und Paul unterwegs war.
Mir geht’s schlecht. Mein Leben ist weg. Sie haben Möbel ins Zimmer gebracht, sogar meine Kaffeetassen. Mir ist schwindelig wegen der Tabletten. Sie sagen, ich muss sie morgen früh wieder nehmen, aber das will ich nicht.
Letzte Woche bin ich gestürzt und konnte nicht mehr aufstehen. Ich musste zum Telefon kriechen, um Gisela anzurufen.
Das Wetter am Wochenende war schön, aber nun regnet es. Ich hätte draußen arbeiten sollen. Der Garten ist voller Unkraut. Die Bäume gehören beschnitten, aber ich hab’s nicht geschafft.
Es ist alles so viel Arbeit, so viel Arbeit.
Sie sagen, das Heim wäre das Beste für mich, vielleicht haben sie recht. Aber, ich weiß nicht. Am Donnerstag bin ich die Treppe ins Schlafzimmer nicht mehr hochgekommen und musste auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen. Oben ist alles wie immer. Ich habe nichts weggeräumt, Hilde kann jederzeit wiederkommen. Ihre Kleider hingen bis letzte Woche im Schrank, jetzt haben sie sie der Caritas gegeben. Hilde hat viel zu viele gekauft. Und nichts mehr angezogen. Als sie mit Krebs im Krankenhaus lag, hat sie nur Gymnastiksachen angehabt. Die würden nicht so einschneiden.
Sie haben das Haus verkauft. Viel zu teuer. Die Leute haben wohl nicht gesehen, dass es renoviert werden muss. Die Fenster sind alt. Der Garten ist auf Erbpacht, da müssen sie auch noch zahlen. Und das Gewächshaus wollten sie haben, aber es ist doch nichts mehr wert. Die wissen nicht, wie viel Arbeit das alles ist, soviel Arbeit. Von Hildes Blumenfenster haben die Kinder die Rosenkugeln mitgenommen. Und die alten Kaffeemühlen, die im Regal über dem Herd gestanden haben. Hilde hat sie gesammelt. Alles wird weggeschmissen. Sie sagen, ich habe viel Geld und kann das Heim bezahlen bis ich 120 Jahre alt bin. Aber ich weiß nicht. Gestern habe ich ein neues Unterhemd angezogen. Über das andere drüber. Ich rufe jetzt alle an, dass ich morgen nicht mehr hier bin.
Das ist die letzte Nacht in meinem Haus.
Holger:
Für Ernst ist es die letzte Nacht in seinem Haus. Meine Frau Gisela telefoniert gerade mit ihren Geschwistern und versucht, alles Weitere zu regeln. Immerhin machen sie ihr den Vorwurf nicht mehr, den Vater ins Heim abzuschieben. Sie sind alle weggezogen, nur Gisela blieb am Ort. Als die anderen am Wochenende ihren Vater besuchten, schimmerten ihre Augen wässrig. Seitdem helfen wir alle zusammen und räumen das Haus aus. Ernst hat nie etwas weggeworfen. Paul und ich haben Wagenladungen Müll in den Bauhof gebracht, während Gisela mit ihren Schwestern alles Wertvolle aussortiert hat. Wir spenden es dem Tierschutzverein.
Ich habe Angst, dass Gisela bald zusammenbricht. Tränen hat sie schon lange keine mehr.
Ernst ist seit dem Tod von Hilde immer schrulliger geworden, aber ich hätte nie damit gerechnet, dass es nun nach all den Jahren derart eskaliert.
Er hat oft mitten in der Nacht angerufen. Immer war irgendetwas. Einmal meinte er, sein Stromzähler sei von den Nachbarn manipuliert worden. Gerade sitze er im Keller und beobachte, dass sich die Scheibe viel zu schnell drehe.
Wir zeigten ihm die alten Stromrechnungen und verglichen die Zahlen mit dem aktuellen Stand; es war alles im normalen Bereich. Er hat uns nicht geglaubt und immer wieder bei den Nachbarn angerufen. Fünfmal mussten wir ihn in die Notaufnahme bringen. Dreimal dachte er einen Herzinfarkt zu haben, die anderen Male einen Darmverschluss. Es war nie etwas.
Ich habe versucht, ihm die Gartenarbeit abzunehmen, aber ich konnte ihm nichts recht machen. Manchmal wurde er richtig böse und hat mich angeschrien. Auch als wir ihm sein fertig eingerichtetes Zimmer gezeigt haben, hatte er an allem lautstark etwas auszusetzen. Das Sofa stand verkehrt, da der Abstand zum Fernseher zu groß war und beim Mittagsschlaf würde ihm die Sonne genau ins Gesicht scheinen. Und überhaupt könne er sich mit den Alten hier bestimmt nicht vernünftig unterhalten.
Wir haben uns wirklich bemüht. Er hat das größte und schönste Einzelzimmer im besten Seniorenheim der Gegend. Mit Blick auf den Fluss. Und er kann sich das alles auch leisten, er hat das Geld. Gisela hat ihm angeboten, zu uns zu ziehen. Wir haben genug Platz. Aber er wollte nicht. Ich habe es Gisela nicht gesagt, aber ich war erleichtert. Es wäre hier mit uns allen einfach nicht gut gegangen. Er war auch gegen den ambulanten Pflegedienst und eine Haushaltshilfe. Er wolle keine fremden Menschen bei sich haben.
Nun ist er die letzte Nacht in seinem Haus.
Eva:
Onkel Ernst hat gerade angerufen. „Eva, ich wollte dir nur Bescheid geben. Das ist die letzte Nacht in meinem Haus. Morgen gehe ich ins Altersheim. Ich komme nur so schnell da rein, weil jemand gestorben ist. Mein Leben ist weg.“
„Onkel Ernst, das stimmt doch nicht.“ habe ich dagegengesprochen. „Es ist doch gut, dass du jetzt schon ein Zimmer kriegst. Gisela hat gesagt, dass wahrscheinlich erst in drei bis vier Monaten ein Platz frei wird.“
„Also ich weiß nicht. Die Kinder kommen alle und zerren hier Sachen raus. Sie lassen mir gar nichts.“
„Aber du hast doch gemeint, dass alles viel einfacher wäre, wenn das Zeug endlich weg ist.“
„Die haben das Haus viel zu teuer verkauft. Die Leute wissen nicht, wie viel Arbeit das ist.“
„Ach, Onkel Ernst. Sei doch froh, dass du diesen Ballast nicht mehr hast. Das hat dich doch immer so erdrückt.“
“Ja ja. Ich wollte dir nur sagen, dass ich heute Nacht zum letzten Mal in meinem Haus schlafe. Morgen komme ich ins Altersheim.“
„Ich werde dich bald besuchen.“
„Wer weiß, was bis dahin ist. Also dann, Eva grüß alle von mir. Ade.“
Ich sitze auf dem Balkon und der zunehmende Halbmond spiegelt sich im schwarzen Bildschirm meines Laptops. Was soll ich schreiben? Emotionen überwältigen mich und Tränen tröpfeln auf die Tastatur.
Das ist die letzte Nacht in seinem Haus.
Wie muss er sich fühlen? Er hat 42 Jahre dort gelebt, vier Kinder großgezogen und nun kommt er ins Altersheim. Die letzte Station. Er sitzt jetzt wahrscheinlich im Wohnzimmer in seinem abgewetzten Lieblingssessel und sieht fern. Vielleicht ist er eingedöst. Die Standuhr wird schlagen, aber das stört seinen Schlaf schon lange nicht mehr. Morgen früh wird er zum letzten Mal vor seinem alten Spiegelschrank stehen und sich kämmen. Sich das letzte Mal in seinem eigenen Schlafzimmer anziehen.
Vor zwei Wochen bin ich den langen Weg zu ihnen gefahren. Meine Cousine Gisela hat mich gebeten, mir Sachen auszusuchen und mitzunehmen. Ansonsten würde alles im Sperrmüllcontainer landen.
Ich habe sie vorigen Sommer noch besucht und war erschrocken, wie stark sich seitdem alles verändert hat. Gisela funktionierte wie ein Roboter und organisierte alles Notwendige wie unter Betäubung. Holger hatte nicht nur an Humor, sondern auch an Substanz verloren. Sie sahen beide fürchterlich mitgenommen aus. Und in den Augen von Onkel Ernst leuchtete es noch wach, aber sein Körper schlich wie ein Geist durch die Zimmer.
Simon kommt auf den Balkon und schaut mich besorgt an.
„Ist es so schlimm?“ Ich zucke die Achseln und wieder fließen diese salzigen Perlen an meinem Gesicht hinunter. Ich weiß selbst nicht, warum mir das alles so nahegeht.
Der Gedanke, dass mein lieber, starker und immer präsenter Onkel nun gramgebeugt im Altersheim landet, macht mich traurig. Es ist ein anderes Gefühl, als beim schnellen Krebstod meiner Tante Hilde. Sie wurde als aktiver Mensch aus dem Leben gerissen, während Onkel Ernst vor sich hinwelkt und langsam nichts mehr von seiner Person übrig bleibt.
Und nun ist es die letzte Nacht in seinem Haus.
Simon drückt mich fest an sich „Ich glaube, du nimmst das alles viel tragischer als deine Leute.“ Ich schaue in den Nachthimmel und betrachte die Sterne. Es sind Bilder der Vergangenheit.
Vielleicht hat er recht.
Aber, ich weiß nicht.