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Die letzte Nacht vorm grauen Schleier

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21.12.2016
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Die letzte Nacht vorm grauen Schleier

Langsam ratterte die U-Bahn durch den engen Tunnel. Für einen kurzen Moment flackerte das Licht im Waggon, und hüllte die Insassen in vollkommene Dunkelheit. Nur ein flüchtiger Augenblick, bevor sich die Wagenbeleuchtung wieder normalisierte und den Raum grell bestrahlte. Ralf blinzelte, er war eingenickt und brauchte ein paar Sekunden, um sich zu orientieren. Die Bahn fuhr langsamer. „Endhaltestelle, bitte alle aussteigen“, dröhnte es krächzend aus den Lautsprecherboxen. Es war die abendliche Rushhour. Ein hektischer Schwall Menschen ergoss sich auf dem U-Bahnsteig. Ein Mann mit rot schimmernder Krawatte und schwerer Aktentasche rempelte den sitzenden Ralf auf seinem Weg zur Tür grob an. „Blödes Arschgesicht!“, schrie dieser dem Mann hinterher, und begutachtete die eingedellte Bierdose in seiner Hand. Ein erheblicher Teil klebriger Flüssigkeit war nun auf seinem speckigen Parka und dem dreckigen Fußboden verteilt. „Verdammte Scheiße“, fluchte Ralf und schaute sich suchend um. Das Abteil war mittlerweile leer, auf dem Bahnsteig herrschte nervöses Gedränge. Langsam rappelte er sich auf und schwankte zur Tür. Eine Flasche Rum und fünf Bier. Der Inhalt des Stoffbeutels in seiner Hand klirrte, als er sich an der U-Bahntür festhielt, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Sein Kopf fühlte sich taub an. Er versuchte sich zu konzentrieren, sich zu erinnern, doch die Gedanken wirbelten durch seinen Kopf, wie Fische durch ein undichtes Fischernetz. Aber etwas war geblieben, hatte sich tief eingemeißelt und durchbrach die nebelverhangene Alkoholamnesie. Es durchzuckte ihn. Ein klarer Blitz erhellte das trübe Tal. Heute war sein letzter Tag, der 30. November 2011, sein letzter … sein letzter verdammter Tag in dieser Welt. Sein Puls beschleunigte sich, schlug pochend gegen die fahle, fleckige Schläfe. Er atmete heftig, zog die Luft in sich ein, als wäre er gefangen in einer kleinen Holzkiste, tief unter dicker, brauner Erde begraben. Seine größte, dunkelste Angst. Doch Ralf erkannte die Anzeichen, wusste sie zu deuten, denn er litt seit Jahren an heftigen Panikattacken. Angefangen hatte es, als er damals am Fenster stand, und zusah wie das Auto des Jugendamtes vom Hof fuhrt. Frank und seine kleine Lea waren weg, weg von seinem Hof—ihrem Zuhause—und er war Schuld. Schuld, dass sie nun bei fremden, weit entfernten Leuten wohnen mussten. Schuld, dass Frank schon in der Grundschule aggressiv aufgefallen war und andere Kinder schlug. Und Lea, ach seine kleine Lea … sie litt unter Dyslalie, einer kindlichen Sprachstörung, die mittlerweile so schlimm geworden war, dass sie sich kaum noch traute zu sprechen. Er hatte es verpasst, sich rechtzeitig um den Platz für die wichtige Therapie zu kümmern. Nun waren sie fort. Als er die Rücklichter des Wagens in der Ferne erlischen sah, fühlte er eine tiefe, markerschütternde Verzweiflung. Er hatte seine Kinder im Stich gelassen. Diese nagende, sich tief einbrennende Erkenntnis der persönlichen Niederlage—des totalen Scheiterns seiner väterlichen Pflichten—ließ ihn würgen. Ein schweres, lähmendes Gefühl breitete sich in seinen Körper aus, wie ätzendes Schlangengift schoss es durch seine Glieder. Sein Herz raste, er ächzte und hustete. Mit weit aufgerissen, wild zuckenden Augen sank er auf die Knie; erdrückt von der Verzweiflung, die in ihm brannte und den Schuldgefühlen, die ihm die Luft zu rauben schienen. So etwas hatte er nie zuvor gefühlt und war während der ersten Panikattacken, die ihn damals so heftig trafen, beinah an seinem eigenen Erbrochenem erstickt, als er am Boden liegend, halb bewusstlos mit seiner sauren Galle kämpfte. Jetzt, Jahre später, erkannte er die ersten Anzeichen, griff sofort in den Stoffbeutel und holte die Flasche Rum heraus. Er setzte an, und ließ die brennende Flüssigkeit seine aufgewühlten Sinne betäuben. Heute war sein letzter Tag, da musste er stark sein. Er hat sich die Sache selbst eingebrockt, also musste er das jetzt auch durchstehen. Er nahm einen letzten Schluck aus der Rumflasche und trat aus der U-Bahntür.

Der Schnellimbiss befand sich nur ein paar Meter vom U-Bahnausgang entfernt. Die gelbe Neonreklame auf dem Dach, wackelte leicht, wenn sich Renate in ihrem umgebauten Containerwagen mit Fritten und Bratwürsten abmühte.Vor 20 Jahren war dieser Container ihr ganzer Stolz gewesen, doch nun sah man immer deutlicher, dass er den Zenit seiner Glanzzeiten überschritten hatte. Die dunkelgrüne Farbe schälte sich an vielen Stellen der Außenverkleidung und bildete ein unregelmäßiges, abgehacktes Muster. Schwerer Rost fraß sich durch das Untergestell, und ließ den Container bei jeder Bewegung ächzten. Noch zwei Jahre dann würde Renate in Rente gehen und den Wagen verschrotten lassen, doch heute Abend musste sie nochmal ran. Kalt war es geworden. Der heulende Novemberwind pfiff durch die dünnen Plastikwände und Renate bereitete sich langsam auf ihren Heimweg vor. Die dreißigminütige S-Bahnstrecke durch die südliche Vorstadt. Der kurze Weg durch den kahlen Birkenwald. Ein Pfefferminztee mit einen Schuss Rum. Wohlverdiente Ruhe, nach einem langen Arbeitstag im ungemütlichen, schlecht gedämmten Wagen. Noch eine Stunde, dann würde sie dichtmachen.

Guido und Herr Baum standen an einem der verbeulten Aufstelltische vor dem Imbiss. Das billige Papierdeckchen war verrutscht und hatte sich bereits halb in einer verschütteten Bierpfütze aufgelöst. Die beiden Männer warteten seit einer dreiviertel Stunde. Sieben leere Bierflaschen standen vor ihnen. Der Imbiss war seit Jahren ihre regelmäßige Anlaufstelle. Eine Zuflucht für viele, die sich abgehängt durchs Leben schlugen und im Alkohol einen treuen Begleiter gefunden hatten. Renate war die Oberin des Imbissplatzes, herrschte in ihrem Territorium mit rauem, striktem Ton und hatte dennoch, ein offenes Ohr für jeden, der sich ihr in einer einsamen Schicht anvertraute. Für Guido und Herrn Baum war dies die letzte Nacht am Imbiss, das hatten sie in stiller Übereinkunft beschlossen. Ein unglamorouses, klangloses Ende für eine jahrelange Tradition, das wussten die Beiden und machte sie gleichermaßen nervös. Bei Guido äußerte sich die innere Unruhe in der Angewohnheit, seine Umgebung aller paar Sekunden mit gehetztem, sorgenvollem Blick zu fixieren. Er war ein Kaufhausdieb mit kleptomanischen Zügen und hatte seine Paranoia vor Polizei und Ladendetektiven mittlerweile auf seinen Alltag übertragen. Herr Baum starrte apathisch auf sein Bier. Wenn er sich unwohl fühlte, verfiel der breitschultrige Hüne in eine träge Lethargie, in der er kaum mit seiner Umwelt interagierte und minutenlang seinen Gedanken nachhing. „Glaubst er kommt noch?“, fragte Guido jetzt und blickte sich angespannt über die Schulter. „Weiß nich“, antwortete Herr Baum nach längerer Stille, „war schließlich abgemacht, .. dass wir ihn hinbringen … wird wohl kaum alleine gehen ... kommt schon noch ... schätz ich.“ „ Vielleicht isser ja abgehauen, hat die Fliege gemacht, oder hat sich sogar...naja...weißt schon“, Guido verstummte und nahm einen großen Schluck aus seiner Bierflasche. „Kennst doch Ralf ... ist'n harter Hund ... aufgeben kommt nich in Frage ... der wird’s schon durchziehen.“, erwiderte Herr Baum, obwohl der Ton seiner Stimme eine gewisse Unsicherheit erkennen ließ. Als Guido ein paar Minuten später wieder über seine Schulter zum U-Bahnausgang schaute und die strömende Masse fixierte, entdeckte er ihn. Gedrungene Gestalt, leicht hinkender Gang und der alte, zerfledderte Stoffbeutel, verkrampft mit der rechten Hand umschlossen.

Langsam schälte sich Ralf aus den Strom der hastig eilenden Menschen und bewegte sich auf den alten Imbisswagen zu. „Guten Tag gehabt, Jungs?“, begrüßte er seine wartenden Freunde. „Dachten schon, du tauchst nich auf“, antwortete Guido mit hastiger, aufgekratzter Stimme. „Musste noch paar Dinge regeln. Für morgen.“, entschuldigte er sich knapp. Tatsächlich hatte Ralf in den letzten Tagen viel nachgedacht. Nächtelang hatte er sich in wilde, abstrakte Gedankenwelten geflüchtet—befeuert vom klaren, beißenden Korn—um einen Ausweg zu erfinden, und hatte schlussendlich doch resigniert aufgegeben. Was waren schon seine Alternativen? Abhauen? Wohin ohne Geld, ohne Plan; am Ende würden sie ihn doch kriegen. Auch Selbstmord hatte er kurz in Betracht gezogen, aber dann schnell wieder verworfen. Das konnte er nicht, würde er nie können. Dafür fehlte ihn der Mut—sich selbst das Licht ausknipsen—da würde er es lieber aussitzen und am Ende dem Krebs, der kaputten Leber oder irgendeinen verrückten Streithahn überlassen. Vielleicht starb er ja auch an Altersschwäche, in Anbetracht der nahenden Umstände hielt er das allerdings für kaum wahrscheinlich.

Mit Frank oder Herrn Baum, wie er aufgrund seiner Körpergröße oft genannt wurde, unterhielt sich Renate gern. Er war meistens einer der Ersten, die ihre Abendschicht im Imbiss einläuteten. Ein ruhiger, sehr zurückhaltender Charakter, ehemaliger Profischwimmer in der DDR. War einige Zeit in der Psychiatrie gewesen, nachdem seine Frau und seinen zweijährigen Sohn bei einem Autounfall zu Tode kamen. Hatte sich monatelang Zuhause eingeschlossen, bis sie ihn komplett verwahrlost aus seiner Wohnung tragen mussten. Das hatte ihr Guido mal erzählt. Auch mit ihm redete sie öfters, obwohl er eine angespannte, nervöse Art zu sprechen hatte und es manchmal schwer war, seinem Gesprächsverlauf zu folgen. Der jahrelange harte Alkoholkonsum machte sich bei ihm deutlicher bemerkbar als bei anderen. „Hallo Renate, gibste mir zwei Bier und drei Kurze, bitte“, Ralf war vor dem Imbissfenster aufgetaucht und hatte sie aus ihren Gedanken gerissen. Mit ihm war sie nie wirklich warm geworden, dachte Renate während sie unter der kalten Fritteuse nach den Bierflaschen kramte, auch nicht nach all den Jahren, die das Dreiergespann nun schon zu ihr kam. Früher hatte er Renate Angst gemacht. Seine kalte, mürrische Art erinnerte sie an Harald, ihren ersten Ex-Mann aus Halle. Mit 19 hatte sie ihn geheiratet. Die erste Liebe sollte ewig bestehen—sie war jung und blind gewesen. Er hatte sie jahrelang verprügelt, bis er dann Mitte der Achtziger zuerst in den Knast und dann aus ihrem Leben verschwand. Renate schauderte bei dem Gedanken. Als sie die Bierflaschen auf die Theke stellte und Ralf ihr die Hand mit den Münzgeld entgegenstreckte, sagte sie: „Passt schon. Hab gehört heut is dein letzter Abend“, und stellte noch drei zusätzliche Bierflaschen hinzu. „Woher weißt's?“, fing Ralf an, wobei er sie mit einem durchdringenden, fast schon herausfordernden Blick fixierte. „Guido hat's mir erzählt“, sagte Renate und versuchte sich, von dem Blick nicht verunsichern zu lassen. Dann bemerkte sie die kurze Veränderung in Ralfs Gesicht. Ein flüchtiges Zucken der angespannten Gesichtsmuskeln, eine verletzliche Regung auf dem sonst so ausdruckslosem Gesicht. Sie hat es genau gesehen. „Ja, Guido hat Recht, morgen isses soweit. Werd wohl ne Weile weg sein. Danke dafür“, Ralf griff nach den Flaschen und wendete sich ab. Den Rücken bereits zu ihr gekehrt, sagte er noch mit rauer Stimme: „Alles gute Renate ... und bis bald mal“. Renate blickte ihm nach, wollte etwas sagen, aber Ralf war schon wieder am Tisch seiner Kumpels angelangt. Als sie diese Nacht im Bett lag, konnte Renate nicht schlafen. Sie dachte an Ralf, an diesen kurzen Augenblick am Imbiss. Als er die harte, ausdruckslose Maske kurz lüftete, die er seit langer Zeit so überzeugend trug, hatte sie das tief berührt. Sein morgiger Weg würde eine schmerzliche Erfahrung werden, das ahnte sie jetzt. Sein Gesicht war so verändert gewesen, voller tiefer Verzweiflung und reißendem Kummer, dass es sie den langen Heimweg bis ins Bett verfolgt hatte, und sie nun nicht ruhen ließ. Als sie sich aufgekratzt und nervös in den Kissen wälzte und darüber nachdachte, wie es Ralf wohl ergehen würde; fiel sie in einen unruhigen, erschöpfenden Dämmerschlaf.

Noch vor ein paar Monaten war der Platz bevölkert von lustvoll kreischenden Kindern, ungeduldig rufenden Mütter, unverständlich krakeelenden Säufern, unruhigen Drogendealer und kiffenden Studenten. In den lauen Sommernächten blühte dieser kleine, versteckte Winkel, etwas außerhalb des Zentrums, und bot eine Oase des vielschichtigen Lebens der Großstadt. Nun war der Platz kalt und gespenstig still; das einzige Geräusch in dieser windigen Novembernacht, kam von dem summenden Straßenlaternen und dem Verkehr der rauschenden Autobahn, die sich durch die Vorstadt wand. Ralf schaute auf seine abgenutzte Armbanduhr. 01:56 Uhr. Nicht mehr lang, dachte er. Sie saßen jetzt auf einer Bank, nahe dem U-Bahnausgang. Durch die Gitter der Lüftungsschächte drang ein Schwall warme, abgestandene Tunnelluft. Der Imbiss war schon lange zu, Renate längst Zuhause. In den letzten Stunden hatten die drei Männer kaum ein Wort miteinander gewechselt. Sie wussten was kommen würde, wussten es schon lange. Jetzt wo nur noch ein paar Stunden blieben, hingen sie ihren düsteren Gedanken nach, jeder für sich. Die eindringliche Stille war ein stetiger Bestandteil ihrer Freundschaft. Selbsttherapeutische Zusammenkünfte, ganz ohne große Worte. Es war die niederschmetternde Einsamkeit in ihren kalten, dämmrigen Wohnungen, die sie zu diesen regelmäßigen Sitzungen zog und ihren Kummer in Alkohol ertränken ließ. Manchmal fluchte einer von ihnen, schrien die Ursache seiner Wut mit benebelter Stimme in die dunkle Nacht; ansonsten trugen sie ihr Los mit stiller Fassung. „Wann solln wir los, Ralf?“, durchbrach Herr Baum die bleierne Stille. Ralf brauchte eine Weile bis er die Frage beantworten konnte. Auf dem zerknitterten Schreiben, das in seiner Jackentasche steckte, stand Fristende 08:00 Uhr. Sie würden eine halbe Stunde brauchen, vielleicht auch länger. Bei dem Gedanken an diesen letzten Weg, wurde ihm übel. Er riss sich zusammen und nahm einen großen Schluck aus der Rumflasche: „Halb 6 sollten wir los … schätz ich“.

Eine schmale Straße außerhalb der Stadt. Die S-Bahnanbindung reichte gerade bis hier her. Olivfarbene Reihenhäuser mit kleinen Vorgärten erstreckten sich zu beiden Seiten der Straße. Herbstliche Fensterbilder. Fahrräder mit Stützen an den Seiten. Junge Familien, die in der vorstädtischen Idylle ihr erstes Eigenheim bezogen hatten. Hinter den Häusern konnte man mit Raureif bedeckte Feld sehen, dahinter die helle Skyline der Großstadt. Die Fenster in der Straße schimmerten dunkel, es war ein nebelverhangener Morgen. Nichts bewegte sich und niemand sah die drei Gestalten, die langsam die Straße entlanggingen. Eine orange melierte Katze mit grünen Augen kreuzte ihren Weg, blieb kurz stehen und verschwand dann in den Büschen eines Vorgartens. Ralf war schweißgebadet. Seinen abgewetzte Parka hatte er um den Bauch gebunden, obwohl es kaum vier Grad waren. Langsam schritt er voran. Schritt für Schritt. Das einfachste der Welt, wollte ihm heute nicht gelingen. Immer wieder geriet er aus dem Takt, strauchelte; blieb kurz stehen. Wieder schaute er auf seine Armbanduhr, sie zeigte 07.05 Uhr. Weniger als eine Stunde. Das drückende Rauschen in seinen Kopf war wieder stärker geworden, seit sie aus der S-Bahn gestiegen waren. Die Umgebung verschwamm vor seinen Augen. Alles drehte sich. Ein schweres Dröhnen, wie das Horn eines schwerbeladenen Containerschiffs auf hoher, peitschender See, durchbrach die dumpfe Leere in seinem Kopf. Ralf knickte ein. Guido konnte ihn gerade noch stützen, bevor er vornüber auf den kalten Asphalt geknallt wäre. Sie waren fast am Ende der kleinen Siedlung angelangt, die geteerte Straße ging in einen breiten Feldweg über. Zu beiden Seiten erstreckten sich die kargen Felder. Der Boden war gefroren, nichts wuchs mehr. In einiger Entfernung konnte man bereits die hohe Mauer erkennen. Der hochrote, verschwitzte Kopf. Das zu einer schmerzverzerrten Grimasse verzogene Gesicht. Ralf gab nach, es brach aus ihm heraus. „Ich kann es nicht. Schafft es nicht.“ Sein Arm entglitten Guidos Schulter. Er fiel zu Boden, schlug sich den Nasenrücken auf. Nervenzerreißender Kollaps der körperlichen Funktionen. Tragischer Zusammenbruch aller Systeme. Der Himmel war eine graue Wand, aus dem nun ein leichter Nieselregen zu tröpfeln begann. Als Ralf wieder zu sich kam, spürte er die warme Flüssigkeit sein eingefallenes Gesicht herunterrinnen. Seine Tränen vermischten sich mit dem Blut auf seiner Nase. Er blickte in die blassen, besorgten Gesichter seiner beiden Freunde, die über ihm knieten. Herr Baum reichte ihm ein Taschentuch. „Ich pack's nicht, Jungs“ keuchte Ralf und schloss wieder die Augen. Er atmete schwer, krächzte die Worte. „Hab mich nichmal von Frank un meiner kleinen Lea verabschiedet, diese Jugendamtfutzis haben's nich erlaubt. Hab gefleht und gebettelt am Telefon. Nur noch einma kurz ihre Stimmen hören. Wissen, dass alles gut is. Zumindest sie sollns gut haben, wenn ich schon mein beschissenes Leben an die Wand gefahren habe. Aber naja … is nich drin, haben sie gesagt … Sorgerecht entzogen … hab kein Recht mit ihnen zu reden. Verdammt, ihr Vater verreckt im Bau un sie ham keine Ahnung.“ Seine Stimme war zu einem hohen, klagenden Jaulen geworden, wie ein geprügelter Straßenhund schrie er die drückende Einsicht seiner Niederlage heraus. Zusammengesunken saß er da, die Tränen flossen in langen, dünnen Fäden über sein Gesicht. Herr Baum legte die Hand auf Ralfs Schulter, mit tiefer Betroffenheit wissend, dass er nichts tun konnte, um seinen leidenden Freund zu besänftigen. Mit erschreckten, beschämten Blicken beobachtete Guido und er den heftigen Zusammenbruch. Überfordert von der traurigen Szene, hüllten sie sich in ohnmächtiges Schweigen. Ralf schlug die Hände vors Gesicht, geschüttelt von einem neuen, erbitterten Heulkrampf—die Rotze aus den Nasenlöchern tropfend—fiel er vornüber.

Sie standen nun vor dem massiven, grünen Stahltor. Zu beiden Seiten erstreckte sich die trostlose Mauer, mindestens neun Meter hoch und schier endlos breitete sie sich zu beiden Seiten in die karge Landschaft aus. Es war 07:50 Uhr. Die Tränen waren getrocknet, das Blut auf der Nase geronnen. Die verquollenen Augen saßen tief in Ralfs dunklen, faltigen Augenhöhlen. Sein apathischer Blick glitt entlang der furchteinflößenden Wand. Er suchte nach etwas, einen kleinen Spalt—dem letzten Funken Hoffnung,wie er seinem drohendem Schicksal doch noch entgehen konnte, aber da war nichts. Nichts, an das er sich klammern oder halten könnte, nur drückendes Grau. Die Mauer, der Himmel, seine Zukunft; ein einziger grauer Schleier, der ihm von nun an umgeben würde. Tag für Tag. Hier endete die Reise, wohl auch sein Leben, das wusste er jetzt. Sieben Jahre und fünf Monate sollte er hier verbringen. Der Arzt gab ihm vier, maximal. Ohne intensive Therapie würde das Ösophaguskarzinom, das seit drei Monaten in ihm wuchs, seine Speiseröhre dann zerfressen haben. In der harten Diagnose sah Ralf zunächst einen Funken bittere Hoffnung. Er schrieb Briefe, kämpfte für den krankheitsbedingten Hafterlass, und hofft—doch vergebens; am Ende kam das Schreiben. Ladung zum Strafantritt. 30. November 2011. 08:00 Uhr.

Ralf drückte die unscheinbare Klingel neben dem Tor. Ein kurzes Piepen. Ein stämmiger, uniformierter Beamter öffnete die kleine Tür, die in die grünstählerne Pforte eingelassen war. „Hallo, bin Ralf Schähler. Muss heute rein“, sagte Ralf mit brüchiger, erstickter Stimme und suchte nach dem Schreiben der Staatsanwaltschaft in seiner Jacke. Er fand den Brief und reichte ihm dem Beamten, der nickt mit ernster Miene. Ein letztes Mal wendete Ralf sich an seine zwei Begleiter. Schaute in die starren, betroffenen Gesichter, die ihn so lange begleitet hatten. Alte, vom Leben gezeichnete Männer, nun mit Tränen in den Augen. Niemand sagte etwas, die bedrückende Stille hing schwer über dem trostlosen Gefängniseingang. Der Beamte schaute gelangweilt zu Boden und scharrte mit den Füßen. Zeit zu gehen. Ralf fixierte eine alte Eiche im Hintergrund, konnte seinen Freunden nicht in die Augen blicken: „Bis bald ma Jungs. Danke für alles.“ Er drehte sich um, ein erstickter Seufzer ausstoßend, und trat über die abgetretene Schwelle. Das spärliche, blonde Haar klebte ihm am Kopf, das Gesicht war nass von Tränen und Schweiß. Guido rief ihm etwas nach, Ralf verstand es nicht. Sein Kopf war leer, nur ein schweres, nebliges Rauschen. Die Tür fiel ins Schloss.

 

Hi, maxismilus,

ich bin nicht grundsätzlich gegen starke Erzähler, die mir noch ein paar Infos extra vermitteln, wenn es denn einen Mehrwert gibt, das Erzählte über das Gezeigte hinausgeht oder bspw eine clevere Mindermeinung vermittelt wird. hier in deiner Geschichte stört mich der Erzähler oft. erklärt mir als Leser, wie ich Situationen zu verstehen habe, die ohne Erklärung stärker wären, besser wirken könnten. kann dir da Beispiele liefern, wenn du nicht weißt, was ich meine. zieht sich durch den gesamten Text. was mich noch gestört hat, war die Aneinanderreihung von Düsternis, Schuld, Schrecken. wenn die ganze Wand grau gestrichen ist, wirkt es nicht so stark, als wenn es zwischendurch noch Kontraste gibt, Farbtupfer, die es in jedem Leben gibt oder wenigstens geben kann. deine Figur als Säufer, Knasti und Totalversager darzustellen und ihm nichts Eigenes beizufügen, ihn nur von vager Reue, Todesangst und Schuldempfinden erfüllt zu zeigen - das ist schade, also mir ist das zu wenig.
ich finde, die Geschichte hat gute Momente, einige Beobachtungen, die Kurzbeschreibungen der Nebenfiguren, kleine Ausflüge in andere Realitäten, auch manche Beschreibungen sind stimmungsvoll. in der aktuellen Konzeption wirkt der Text aber wie eine Collage mit 'Abgehängten' und dem schlimmen Schicksal lebensunfähiger Kleinkrimineller. sowohl was die Figuren denken und sagen, als auch die gezeigten Umgebungen: alles etwas viel, in dieser Form rutscht der Text mitunter hart am Klischee lang. zu viel Gräue, zu viel Tragik, zu viel atmosphärische Kniffe. diese düstre, lebensfeindliche Atmosphäre in Medien zu benutzen, um eine Geschichte zu erzählen, ist ja mittlerweile auch eine Form des Mainstreams. was an sich kein Problem ist, führt aber automatisch dazu, dass ich mehr erwarte und genauer kucke, wenn ich so eine Geschichte lese. denn diese Gegenstände kriege ich so oder so ähnlich immer wieder zu lesen und zu sehen und zu hören. deswegen weiß ich, es geht besser.
ausdifferenziertere Figuren, die nicht nur aus Versagen und Leid bestehen, wären schon mal ein Anfang. und warum eigentlich keine letzte große Aktion, ein Aufbäumen all dessen, was schön und gut ist in ihm? wenn der eh abgeht, um im Knast zu sterben (echt ne Taschentuchszene), kann der doch vorher noch mal was reißen.
falls du mit der Rückmeldung was anfangen kannst und willst, müsstest du viel des von mir Kritisierten relativ schnell und leicht anpassen können. ich bin sicher, der Text würde dadurch gewinnen.

Grüße
Kubus

 

Hi Kubus,

vielen Dank für dein Feedback und dafür, dass du die Geschichte gelesen hast.
Ich werde die Kurzgeschichte nochmal überarbeiten und dabei auf jeden Fall deine Anmerkungen berücksichtigen.

Liebe Grüße und fröhliches Fest,
Maxus

 

Hallo maxusmilus,
ich mochte die Art, in der die Dialoge geschrieben sind. Die klangen sehr authentisch und ich konnte mir die Personen gut vorstellen. Auch die Welt in und um Renates Imbiss hast Du sehr glaubwürdig und bildhaft beschrieben. Allerdings hältst Du Dich m.M.n. zu sehr an der jeweiligen Geschichte der Protagonisten fest. Dass Renate von Harald verprügelt wurde z.B. hätte für mich eher im Dialog vermittelt werden müssen, statt dem Ganzen einen extra Absatz zu widmen. Sätze wie:"... war einige Zeit in der Psychiatrie gewesen..." klingen fast wie ein Polizeibericht, bzw. wie ein Gespräch zwischen zwei Polizisten, die die Liste der Verdächtigen durchgehen. Ich finde, dass zuviel Hintergrundinfo die Geschichte überladen, das wirkt dann eher wie ein Zeitungsartikel und ich kann mir auch ohne diese ganzen Infos ein gutes Bild von den Charakteren machen.Irritierend fand ich, dass der Name Frank zweimal auftauchte. Sowohl bei seinem Sohn als auch bei seinem Saufkumpanen. Und ja, die Geschichte ist zu überbordend tragisch, das habe ich auch so empfunden wie Kubus. Je mehr Mitleid ich mit den Personen haben soll, desto weiter entferne ich mich von ihnen, weil es keine Fallhöhe gibt. Sie sind von Anfang an zum Scheitern verurteilt, ohne Hoffnung oder Träume, für deren Zerbrechen ich sie bemitleiden könnte. Alles ist schon Scheiße und wird nur noch beschissener. Dadurch bleiben sie klischeehaft.
Schon am Anfang hast Du zu dick aufgetragen, als Ralf auf die Knie sinkt und seine Augen wild zucken. Als es dann noch hieß, dass er bei seinem ersten Anfall fast an seinem Erbrochenen erstickt ist, war mir das zu viel der Reizüberflutung. Ähnliches empfand ich am Schluss. Sätze wie:"Nervenzerreißender Kollaps der körperlichen Funktionen. Tragischer Zusammenbruch aller Systeme...", sind mir zu viel. Da kriege ich das Gefühl, dass ich als Leser auf keinen Fall verpassen darf, wie schlecht es Ralf geht und das ruft bei mir eher eine Verweigerungshaltung hervor.
Ein paar Sachen sind mir noch aufgefallen.
1)..."bevor sie die Wagenbeleuchtung wieder normalisierte..."
bevor sich
2)"Blödes Arschgesicht",
hier würde ich statt Komma ein ! setzen.
3)..."dass sie nun bei fremden, weit entfernten Leuten wohnen mussten..."
Da würde ich "... weit entfernt, bei fremden Leuten..." vorschlagen, sonst klingt es, als wären die Leute entfernt worden.
4)..."als er die Rücklichter des Wagens in der Ferne erloschen sah..."
"Als er in der Ferne die Rücklichter des Wagens erlischen sah, " käme mir dazu in den Sinn, denn "erlischen" klingt, als hätte er Lichter gesehen, die nicht mehr da sind.
5) ..." blasen besorgten Gesichtern..."
blassen
Oft hast Du dem\den, ihm\ ihn usw. verwechselt.
Das war erstmal alles von mir. Ich hoffe, Du kannst mit meiner Kritik etwas anfangen.
Viele Grüße,
Chai

 

Nochmal zu 4). Da meinte ich:"erloschen" klingt, als hätte er Lichter gesehen, die nicht mehr da sind

 

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