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Die letzte Meile
„Verdammt bist du klasse drauf, ja, elegantes Outfit, der Blick eines Gewinners, und, hey, wäre doch gelacht, wenn du heute nicht zum Zug kommst, ja, ein Sieger erobert die Welt.“
Und dann kommt das, was immer kommt, unausweichlich, wie diese Happy-Party-Gute-Laune-Musik im Radio. Der Blick in den Spiegel, das Platzen der Seifenblase.
Ich könnte kotzen.
Der Schimmer Euphorie versickert im schier unendlichen Meer geistiger Resignation. Und wieder taucht diese Lethargie auf, wie aus dem Nichts, diese scheiß Erfindung, die mich in ihren schwarzen Mantel hüllt, auf mich drückt, mich isoliert abgrenzt, unerbittlich. Die unbekümmerte Leichtigkeit des Seins verfliegt so erschreckend schnell, und dann findest du dich wieder in einem Tal der Tränen, du wirst von Schmerz übermannt, fällst in ein Loch, schwarz, tief, und am Ende wartet immer das Gleiche. Diesmal ist der Heulkrampf besonders schlimm, ich liege auf dem Boden, zusammengekrümmt, und vor mir noch immer dieses Arschloch, dieser Blindgänger, der alles verursacht. Purer Hass steigt in mir auf, Wut auf den Abschaum, der sich vor mir aufbaut, warum, schreie ich immer wieder, warum, warum, warum, ich prügle auf ihn ein, dieser verdammte Feigling, hat mich zerstört, zerstört mich immer noch, komm heraus, schreie ich, stell dich, und meine Schläge werden fester, ich steigere mich in einen Rausch, er soll büßen er... Ernüchterung. Was jetzt folgt, ist Ernüchterung. Die Überreste des Spiegels liegen vor mir. Zerbrochen in Tausende kleiner Stücke. Ich habe ihn besiegt, denke ich, doch tief in meinem Innersten weiß ich, das dies nicht so ist. Er wird wiederkommen. Ich glaube, dass ich ihn immer mehr zerstöre, doch in Wirklichkeit zerstöre ich mich, das habe ich eigentlich schon längst erkannt. Aber immer, wenn es wieder so weit ist, wenn er erscheint, geht es wieder los, und ich kann es nicht aufhalten.
Ich könnte kotzen.
Schwermütig stehe ich auf, schüttle die Scherben ab, und verlasse das Haus. Es geht ins Theater.
Theater.
Nichts ist mir gleichgültiger. Ein Haufen dummer Menschen, die sich etwas rein fiktives anschauen, weil sie glauben, dass sie dadurch unterhalten werden. Identifikation mit Trugbildern. Spaß an Dingen, die es gar nicht gibt. Belustigung für Narren.
Ich steige in den Bus und hoffe, dass mich der Abend wenigstens für ein paar Stunden die unglückliche Situation, in der ich mich befinde, vergessen lässt. Die Busfahrt verbringe ich ganz mit den Gedanken, die mich umspülen, ich denke darüber nach, was aus mir werden soll, Selbstmord vielleicht, ja, das ist durchaus eine Variante. Tabletten? Nein, zu unauffällig. Ich will, dass wenigstens Mein Tod Aufsehen erregt, nachdem ich mein ganzes Leben lang ignoriert worden bin. Kleiner Mann, ganz groß. Die Hemingway-Variante reizt mich, ja, Selbstmord als dramaturgische Inszenierung, faszinierend...
Die Stimme des Fahrers reißt mich aus meinen Träumen.
Endstation.
Zum Glück liegt diese direkt vor dem Theater. Vielleicht ist doch nicht alles schlecht auf dieser Welt. Die ist vielleicht in Ordnung, nur mit dem Verlierer in ihr scheint etwas nicht zu passen. Ich betrete das Foyer. Menschen überall.
Ich mag keine Menschen.
Ich mag überhaupt alles nicht, was um mich herum passiert. Das ist mir so gleichgültig, im Grunde genommen habe ich abgeschlossen. Da vorne neben dem Plakat für die heutige Aufführung stehen diese zwei Spinatwachteln. Verlogene Waschweiber, und wenn ich so darüber nachdenke, symbolisieren sie genau das, was mich an dieser beschissenen Kugel so ankotzt. Was soll es. Es ist mein Geburtstag und meine beiden gütigen Schwestern haben mir diese Karte geschenkt, natürlich ohne auf meine Begleitung ihrerseits zu verzichten. Das Linoleum ist frisch gebohnert, der Stuhl steht unter Strom, kommen sie, es ist angerichtet. Ich begrüße sie hastig, will nur schnell in den Zuschauerraum, da ist es dunkel, Zuflucht für den Todgeweihten.
Erster Rang.
Warum begreift denn niemand, dass mein Problem nicht mit materieller Fürsorge zu lösen ist. Wieder dieses Gefühl, die Frage, warum ich nur missverstanden werde, egal, was ich tue, und wieder Wut, Wut auf meine Schwestern, denen es scheißegal ist, was mit mir passiert, was nützt mir denn ihr beruhigtes Gewissen. Durchhalten, sage ich mir, nur noch ein bisschen, bald ist es vorbei, Erlösung für den Todgeweihten. Ich suche meine Reihe, suche und finde, und während ich mich auf meinen Platz zu bewege, übersehe ich die jungen Mädchen, die einer Gruppe von Schülern anzugehören scheinen. Zu spät. Die erste stößt einen Schmerzensschrei aus. Ich fahre zusammen. Das passt wieder. Ich fühle mich wie der letzte Idiot, der ich bin. Schnell ein „´tschuldigung“ gehaucht, weiter, nur weg, zeig ihr bloß nicht das Gesicht, das hat sie nicht verdient. Mein Anflug von Sicherheit ist zunichte gemacht, und zu spät sehe ich das zweite Mädchen der Gruppe und das Dritte und das Vierte, ich möchte schreien, alle beschweren sie sich, halten sich die Füße, warum´, frage ich immer wieder, warum, warum, warum, warum kann ich nicht einmal einen ganz normalen Tag verbringen, ohne Fettnäppchen, warum muss denn immer ich der Loser sein, die fette Niete, ungeschickt, dümmlich, der Idiot, über den jeder lacht, mit dem man es ja machen kann. Ich sehe wieder den Spiegel vor mir, und diesmal sehe ich nicht mich, sondern die anderen, und sie rufen alle im Chor, Versager, Versager, und dann verschmelzen ihre Gesichter, ich sehe meine Schwestern, meine Mutter, meinen Vater, dann mich.
Mich.
Es scheint, als bin ich die Zielscheibe für all das, was die anderen stört, sie sind wie ich, sie hassen diese Welt, aber sie stoßen ihren Schmerz aus, und da liege ich, am Boden, der fette Sack, den sie in der Schule immer mit nassen Handtüchern verprügelt haben. Ich muss ihr Leid ertragen, ich bin wie ein Traumfänger, ich sammle ihre Emotionen, Gedanken, speichere sie, und gehe daran zu Grunde, weil ich sie nicht verkraften kann. Ich musste immer nur einstecken, war immer nur der Sandsack, der ihren Hass abfangen musste. Aber so nicht.
Nicht mit mir.
Das Spiel muss ein Ende haben.
Wird ein Ende haben.
Während der Vorstellung bemerkt niemand das Lächeln, das meine Mundwinkel umspielt. Ich löse mich ab, von der Realität, Hemingway, das Gewehr, den Fußzeh am Abzug oder Cobain, die Schrotflinte am Kopf, Hemingway, Cobain, Hemingway. Hemingway. Ich bin fast sicher. Erschrocken stelle ich fest, wie viel Freude ich an diesen Gedanken finde. Tod als Dramaturgie. Ich bin begeistert. Begeistert von... mir. Wie schnell sich die Dinge doch ändern. In der Pause schnappe ich mir drei Gläser Sekt, ich gebe sie den Mädchen. Sie halten es für eine Entschuldigung, und sie freuen sich, Freude über mich, und sollen sie es doch für eine Entschuldigung halten. Ich weiß, dass es Dank ist. Tiefster Dank dafür, dass mir ihre zarten Füße geholfen haben, Geholfen, eine Entscheidung zu treffen, geholfen, den Schleier der Demut zu lüften. Ich weiß, dass ich es kann. Ich kann mich selbst kurieren. Dafür danke ich ihnen zutiefst. Mit einem Lächeln um die Mundwinkel bin ich bereit für den letzten Akt. Hamlet. Sein oder Nichtsein.
Ich für meinen Teil, habe diese Entscheidung getroffen.