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Die letzte Herbstnacht
Die letzte Herbstnacht
Wenn bei Nacht sich der gelbe Laternenschimmer in dem regenbenetzten, dunklen Asphalt spiegelt. Kühle, feuchte Luft und nur die zarten Geräusche des fallenden Regens. Danach verzehrt sich mein Herz. Nach Herbstnächten in der Stadt. Nicht nach Sommer, nicht nach der Sonne, die bis zum Verbrennen den weißen Sand am Strand aufheizt. Nicht nach drückender Hitze, grellem Licht und trockener Luft. Nein, der Herbst ist es. Und wenn ich daran denke, sind es immer wieder die gelben Spiegelungen im Asphalt, der leise auf die Erde tropfende Regen und die kühle, reine Luft.
Nie wieder werde ich nachts durch die Stadt gehen.
Der Sommer dieses Jahr war ganz gut. Kühl und regnerisch. Ich weiß ja, dass viele das nicht mögen. Und ich gönne allen anderen ihre Sonne und ihre Hitze. Aber nur weil ich den kalten Sommer gut finde, bin ich noch lange nicht schuld daran. Und Sonne gab es ja trotzdem.
Nach einem anderen, viel zu langen, viel zu warmen Sommer waren es die Herbstnächte, die meine Wanderungen bestimmten. Es wurde früh dunkel und dunkler Nieselregen fiel auf den Asphalt, auf die Pflastersteine und die Gehwege der nächtlichen Stadt.
In dem langen Mantel war ich jede Nacht herum gegangen und hatte nachgedacht. Traurig und gedrückt waren die Nächte mir der Trost. Allein mit dem fallenden Regen und der großen Stadt, ganz für mich allein. Als sei nur ich übrig auf der Welt. Als sei am Abend die ganze Menschheit ausgestorben, nur um mir die Straßen zu überlassen. Das Problem war, dass sie, wenn es hell wurde, wieder auferstand und die Stadt mit sich voll machte.
Meine Freunde und meine Familie hatten gesagt: „Das ist doch nicht gesund. Nachts schläft man und streunt nicht durch die Stadt. Denk an die Banden! Denk an die Kriminalität!“ Aber auch die Gangster schliefen um diese Uhrzeit lieber.
Die von elektrischem Licht nur leidlich erhellte Dunkelheit sah mich also jede Nacht herumstreifen wie einen hungrigen Hund auf der Suche nach Nahrung. Und eines Nachts, da machte sie mir ein Geschenk.
Es war an der großen Holzbrücke, welche die Dominsel mit der Neustadt verband. Ein solider Fußgängerweg in einer Wohngegend über einem ruhigen Seitenarm des Flusses, vor Ewigkeiten als eine Art Burggraben angelegt. Als ich ruhig über die Brücke schritt, wobei sie unter meinen Tritten dumpf und hölzern klang, aber irgendwie beruhigend, da stand eine Gestalt an ihrem Höhepunkt und sah hinaus auf das Wasser. Wenn man am frühen Abend herkam, konnte man in dieser Richtung die Fenster der am anderen Ufer liegenden Häuser erleuchtet erblicken, doch jetzt waren die Lichter gelöscht und die Menschen schliefen friedlich hinter den Fenstern, nicht ahnend, dass ich so ruhelos meine Runden zog.
Als ich näher kam, sah ich, dass die Gestalt die weiche und runde Figur einer Frau hatte. Es war selten genug überhaupt jemandem um diese Zeit zu begegnen, doch jemand, der an der Brücke stand und hinaus sah, war einmalig. Als ich vorbei ging, drehte sie sich in meine Richtung; einen Moment blieb ich stehen und sah ihr Gesicht. Das Laternenlicht erhellte schwach ihre dunklen Augen, doch der Rest blieb im Schatten. Erschrocken, fast peinlich berührt wandte ich den Blick ab und eilte weiter, als hätte ich sie nicht gesehen. Doch ihr Blick verfolgte mich, auch bis in den Tag, den ich wie immer herumzubringen versuchte, um schnell wieder die Nacht zu sehen, bevor es zu kalt würde oder der weiße Schnee das Dunkel und die gelben Spiegelbilder verdecken würden.
Als ich am Abend erneut, zum hundersten oder tausendsten Mal durch die Straßen ging, da dachte ich an sie und trat, zur selben Zeit wie in der Vornacht, zu der Brücke und hoffte, sie wäre wieder dort. Eine schwache Hoffnung, zu glauben, jemand wäre so verrückt und so seltsam, dass er ebenfalls meine abnormale Leidenschaft teilen könnte. Doch, meine Hoffnung wurde nicht enttäuscht. Sie stand abermals an der Brücke und sah abermals auf den friedlichen Fluss. Ich blieb vor der Brücke stehen und lauschte dem Regen. Wenn ich lief, waren es meine Schritte, die zu dem Regen hallten, mein Mantel, der bei aller Stille doch leise Geräusche machte, wenn der dicke Stoff fiel oder die Ärmel an der Seite rieben. Ich horchte, wie ganze leise die winzigen Regentropfen auf meine Kleidung und die Steine plumpsten. Ich hörte meinen eigenen Atem und glaubte ganz leise den Atem der unbekannten Frau zu vernehmen.
Unversehens machte ich mich weiter. Lauschte wieder dumpf dem Holz der Brücke, als ich sie betrat. Die Frau drehte sich zu mir und wie beim letzten mal erhellte das spärliche Licht ihre dunklen Augen. In einem Meter Entfernung zu ihr blieb ich stehen und sah sie einfach nur an. Sie schien zurück zu sehen. Es machte ihr nichts aus, dass ich sie musterte. Vermutlich sah sie mich genau so an. Nach einer Ewigkeit - vielleicht waren es sogar Sekunden - riss ich mich los und ging schnurstracks an ihr vorbei. Diese Augen, diese dunklen Nachtaugen. Wunderschöne Augen. Augen wie die Nacht.
Der Tag wurde mehr und mehr zur Qual denn zur Erholung. Konnte ich den Tag sonst nutzen, um meine seltene Leidenschaft zu finanzieren und mit Schlaf vorzubereiten, so verfolgten mich in der Helligkeit Gedanken an die fremde Frau, wohin ich auch ging. Diese Augen, diese dunklen Augen gingen mir nicht aus dem Kopf. Fragen über sie schossen mir ins Gehirn und machten jeden Schlaf zur Qual.
Aufgewühlt und gar nicht ruhig war ich an diesem Abend als ich zum unzähligsten Mal durch die Straßen stromerte. Nicht gemächlich sondern schnell, ungeduldig. Heute würde ich sie ansprechen, würde herausfinden, wer sie war und was sie tat, mitten in der Nacht.
Und als ich an die Brücke kam, mir selbst die Haare raufend und an den Knöpfen des Mantels herumspielend, da stand sie da, als sei sie an die Brücke genagelt.
Ich schritt auf sie zu, hörte wieder das Holz, spürte die Brücke die mir guten Abend sagte. Sie sah mich an und das fahle Licht schien auf sie wie das Licht auf Kirchenmalerei den Heiligen ins Gesicht scheint. Ich blieb vor ihr stehen, ganz nah. Und sah zum ersten Mal, was für ein schönes Gesicht sie hatte. Ich hatte mir oft versucht ihr Gesicht auszumalen, und immer dann war es ein strenger Blick, der mich fragte was ich hier täte und was ich von ihr wollte.
Doch ihr Blick war mild und ruhig. Mit einem ganz leichten Lächeln. Sie legte ihren Arm auf den meinen und ich spürte ihre Energie, die meinen Körper durchfloss und in jeden Winkel meiner Seele kroch.
Sie nickte und mir was alles klar. Ein Moment völliger Klarheit. Das fahle, gelbe Licht erstrahlte hell, die kühle Luft brodelte unsichtbar. Und ich lächelte. Erleuchtung erlebte ich, wie noch nie zuvor. Die Nacht selbst hatte sich mir offenbart und alle Geheimnisse mit mir geteilt die sie kannte.
Am nächsten Morgen fiel der erste Schnee.
Ich war nie wieder in Herbstnächten aus dem Haus gegangen.
Doch wann immer ich an der Brücke stand, da dachte ich an die fremde Frau und an das Holz und an den Regen und an das elektrische, schöne, gelbe Licht, das sich auf dem feuchten Pflaster spiegelt, um es zu erwärmen und doch konnte es nur erleuchten.