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Die letzte Erinnerung

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13.08.2001
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Die letzte Erinnerung

Die letzte Erinnerung


Nancy saß auf der kleinen Bank gegenüber dem Kino und starrte auf die Straße.
Sie wollte nicht mehr hierher kommen, sie war sich sicher, die Kraft dazu niemals aufbringen zu können.
Nie wieder in ihrem Leben wollte sie diesen Ort sehen, nie wieder wollte sie an diesen Ort denken.
Aber jetzt saß sie da, auf der Bank, deren Farbe in der Sommerhitze ganz stumpf geworden war und abblätterte, sie hatte die Hände ineinander verschränkt, damit niemand, der vorbeiging sah, wie sehr sie zitterten. In ihrem Kopf hörte sie nur das Rauschen der Wacholderbüsche um sie herum; das Singen der Blätter, das sie so sehr an monotone Trauergesänge erinnerte.
Es war ein heißer Sommertag. Der Himmel war stahlblau und wirkte wie gemalt, die Sonne stand als helle, gleißende Scheibe über den Dächern der Stadt und sendete all ihre Wärme erbarmungslos in die Schluchten der Straßen hinab.
Aber Nancy erreichte die drückende Hitze nicht. Sie fror. Sie zitterte am ganzen Leib, und auf ihren Armen hatte sich eine dicke Gänsehaut gebildet.
Menschen gingen an ihr vorbei. Männer in dunklen Anzügen, auf deren Stirn dicke Schweißperlen standen und in deren Augen die Freude auf den Feierabend und die Familie glänzte. Alte Frauen, die unter der Hitze litten, immer wieder anhielten und sich mit einem Taschentuch über die Stirn rieben. Dennoch genossen sie die Sommertage.
Und junge Pärchen gingen an ihr vorüber. Sie hielten sich an den Händen, sie redeten miteinander und lachten über die gleichen Dinge. Nancy konnte Liebe in ihren Augen erkennen und ein Funkeln, das ihr verriet, daß es das perfekte Glück anscheinend doch noch auf Erden gab.
Nur war dieses Glück nicht für sie bestimmt gewesen.
Sie blickte den Pärchen hinterher, wann immer sie ihre Bank passierten und ihr einen teilnahmslosen Blick zuwarfen. Und obwohl sie die jungen Leute nicht kannte, verspürte sie jedesmal ein Gefühl in ihr, das sie mit Neid, ja sogar mit Haß assoziierte.
Sie schämte sich für dieses Gefühl, das ihr Tränen in die Augen trieb. Aber sie hatte keine Kraft mehr, dagegen anzukämpfen. Das Gefühl in ihr war ebenso neu geboren worden wie so viele andere, an die sie früher keine Gedanken verschwendet hatte. Diese Gefühle waren für andere bestimmt gewesen, und sie hatte sich einen Dreck darum gekümmert, wenn es diese anderen erwischt hatte.
Aber das war früher gewesen.
Früher...
Wie lange lag das zurück?
Früher bedeutete für Nancy vor fünf Tagen.
Fünf Tage, in denen ein neues Leben für sie begonnen hatte.
Ein Leben, vor dem sie sich fürchtete...

Sie hatte sich etwas zu Essen mitgebracht. Warum wußte sie eigentlich nicht. In den letzten Tagen tat sie nichts mehr mit dem Gedanken, daß sie etwas tun mußte. Sie tat es einfach. Und genauso war es mit ihren Sandwiches. Sie hatte sie gemacht, obwohl sie keinen Hunger hatte, hatte sie eingesteckt, obwohl sie nicht hierher kommen wollte, und aß sie jetzt, ohne etwas zu schmecken.
Während sie lustlos kaute, starrte sie mit leerem Blick auf das Kino. In großen Lettern wurde der neue Film mit Kevin Bacon angekündigt. Ihre Augen hingen wie gebannt auf dem Schriftzug über dem Eingang.
Sie hatte sich darauf gefreut diesen Film sehen zu können. Sie hatte sich darauf gefreut, weil sie ihn zusammen mit Steve sehen konnte.
Jetzt, fünf Tage und ein Leben später war die Ankündigung des Filmes zu einem Synonym der Angst und der Leere geworden.

Der Abend, an dem sie Kevin Bacon sehen sollte, war, im wahrsten Sinne des Wortes zu einem unvergeßlichen Abend geworden. Denn er hatte sich in ihr Gedächtnis eingebrannt wie die Angst vor dem Tod.
Es war einer der wenigen Tage in ihrem Leben gewesen, an dem sie Steve sehen konnte. Er hatte den weiten, beschwerlichen Weg auf sich genommen, um an diesem Tag bei ihr sein zu dürfen. Und damit hatte er ihr endgültig seine Liebe zu ihr bewiesen.
Es war ihr Geburtstag gewesen, und daß sie Steve an diesem Tag sehen durfte, war das schönste Geschenk gewesen, das sie jemals in ihrem Leben bekommen hatte.
Sie erinnerte sich an das Funkeln in seinen Augen, als er ihr die schönsten Blumen der Welt überreichte. Es war die Tiefe und die Wärme seiner Augen gewesen, die sie vom ersten Tag an gebannt hatten, und es sind eben diese Augen, an die sie sich ewig erinnern wird.
Sie hatte seine Arme gespürt. Am Nachmittag, bevor sie zu Kevin Bacon gegangen sind.
Sie waren über den Jahrmarkt spaziert, waren versunken in einer bunten Welt aus Stimmen, Musik, Zuckerwatte und dem Geruch von gerösteten Mandeln. All die Gesichter, das Lachen der Kinder und das Schreien von Mädchen in den Armen ihrer Begleiter...alles hatte sich zu einem wundervollen Nebel vermischt, durch den sie glücklich mit Steve geschritten war. Es war gerade so gewesen, als wenn dieser Tag eigens für sie und Steve geboren worden war.
Sie hörte seine Stimme in ihrem Kopf, fern und sanft, und doch tief in ihr verwurzelt. Er hatte von ihrer Zukunft gesprochen, mit demselben Leuchten in den Augen, das sie vom ersten Tag an verzaubert hatte und das sie daran erinnern sollte, wie glücklich und farbenfroh diese Zukunft werden sollte.
Sie hatte ihm zugehört, hatte sich von der liebevollen Musik seiner Worte treiben lassen und war in diesen Minuten der glücklichste Mensch auf der Welt gewesen.
Früher...
Sie erinnerte sich an den Stoffbären, den Steve für sie gewonnen hatte. Es war ein kleiner gelber Bär gewesen mit einem roten Herzen auf der Brust, auf dem schlicht `Ich liebe Dich´ stand. Einfache Worte, die oftmals zu leichtfertig benutzt werden und die nicht selten voller Heuchelei stecken. Aber für Nancy und Steve waren es die Worte der Zukunft gewesen. Die Worte der Ewigkeit.
Jetzt hatte sie den Bären zu Hause auf dem Sessel neben dem Bett sitzen. Aber seit fünf Tagen konnte sie ihn nicht mehr ansehen.
Vielleicht irgendwann wieder. Aber dieser Tag würde niemals kommen.
In einer stillen Ecke des Jahrmarktes hatte Steve sie plötzlich zur Seite genommen, ihr mit seinen Händen über die Wangen gestreichelt und ihr Gesicht dann zärtlich festgehalten. Dann hatte er sie geküßt. Zum ersten Mal für diesen Tag und zum ersten Mal seit einem Monat, an dem sie sich das letzte Mal gesehen hatten.
Der Kuß war süß gewesen. Es war als würde man vom süßesten Nektar naschen, der eigens für sie gemacht worden war.
Früher...
Heute, in der Erinnerung, brannte der Kuß wie loderndes Feuer auf ihren Lippen.

Sie steckte den letzten Bissen ihres Sandwich in den Mund. Sie hatte nicht gemerkt, wie sie den Rest gegessen hatte. Sie hatte nichts geschmeckt, nichts gespürt. Es war egal. Sie hatte einfach nur gegessen weil...sie wußte es nicht.
Schließlich verschränkte sie wieder die Hände ineinander, damit niemand das Zittern bemerkte.
Ihr Blick fiel wieder auf die Leuchtreklame von Kevin Bacon.
Am Abend erstrahlen Tausende kleiner Lämpchen um den Namen herum und tauchten die Fassade des Kinos in goldenes Licht. Ein Licht...

...von dem Nancy damals begeistert gewesen war. Sie hatte drauf gezeigt und dabei gelacht wie ein kleines Mädchen. Und Steve hatte sie in den Arm genommen, sie hatte seine Wärme gespürt und sich zum Tausendsten Mal an diesem Abend gewünscht die Zeit anhalten zu können.
Für sie war es der schönste Film ihres Lebens gewesen. Obwohl sie bis daher noch nie einen Film mit Kevin Bacon gesehen hatte. Sie hatte zwei Stunden in einem dunklen Raum in Steves Armen gesessen. Niemand, der sie sehen konnte, niemand, der in dieser Zeit in ihre glückliche, heile Welt eindringen konnte. Als das Licht im Kino gelöscht wurde, wurde auch die Welt um sie herum gelöscht. Plötzlich gab es da nur noch sie, Steve und den Film.
Sie hatte sich geschworen, daß dieser Film ihr Lieblingsfilm werden würde. Denn es war ihr Film gewesen. Sie hatte ihn aufgesogen, jedes Wort wie eine süße Frucht, und dabei Steves Berührung gespürt.
Früher...
Der Abend verging viel zu schnell. Und sie wußte, daß mit dem Abend auch der Abschied kommen würde. Er kam immer. Und jedesmal starb ein kleiner Teil von ihr.
So ging es seit Monaten. Seit sie Steve kennengelernt hatte. Aber die Entfernung zwischen ihnen war einfach zu groß. Und die Umstände, diese Entfernung zu verdrängen, waren noch nicht gegeben. Nur in den wenigen Minuten, wenn sie von ihrer gemeinsamen Zukunft sprachen, wenn Steves Augen funkelten und sie sich an seinen Worten berauschte, dann gab es diese Entfernung nicht mehr. Und dann gab es auch nicht mehr die gefräßigen Gedanken an Abschied.
Einen Monat wieder warten. Einen Monat, in dem sie ihr Leben fristen mußte, in dem sie wie ein Roboter ihre Arbeiten verrichtete und in Gedanken in jeder Sekunde bei Steve war. Sie würde noch einmal, den ganzen Monat lang, jede einzelne Sekunde des Tages Revue passieren lassen, würde sich an jedes Wort von Steve, an jedes Augenzwinkern und an jeden Kuß erinnern als wäre es eine Droge. Das war ihr Mittel, die langen Trennungszeiten zu überleben.
Früher...
Doch diesmal war alles ganz anders gekommen.

Als der Film zu Ende war und sie wie eine Prinzessin und ihr Prinz in die Nacht hinaustraten, hing der goldene Schein der Leuchtreklame über dem Kino auf dem Asphalt. Es war immer noch drückend warm und der Himmel hatte eine rötliche Färbung angenommen. Nur noch ein paar Minuten, dann war der unweigerliche Zeitpunkt des Abschiedes gekommen. Und der Beginn der Erinnerungen.
Sie gingen über die Straße, auf die Bank zu, auf der sie jetzt saß.
Die Bank, von der bereits die Farbe abblätterte und die die Geschichten Tausender Pärchen erzählen könnte.
Nur noch ein paar Minuten. Sie war für jede Sekunde dankbar, die der Abschied hinausgezögert wurde. Der Abend war zu schön, um ihn so abrupt enden zu lassen.
Ein sanfter Wind wehte und spielte mit Steves Haaren. Sie sah es immer noch so deutlich vor sich, als ginge er immer noch neben ihr.
Sie sprachen über den Film, Nancy begann von Kevin Bacon zu schwärmen...und dann zerstörte eine einzige Sekunde ihr Leben.
Sie waren beide in ihrer Welt versunken, für beide gab es nur den anderen. Und deshalb hörten beide nicht den Wagen, der plötzlich aus der Dunkelheit auftauchte...ein schwarzer Wagen, erinnerte sich Nancy...beide hörten nicht das Hupen, beide hörten nicht das Quietschen von Gummi auf Asphalt...
...dann wurde ihr Steve abrupt aus dem Arm gerissen. Als würde man ihr eine Puppe wegnehmen. Sie selbst wurde zu Boden geschleudert, sie drückte ihren Stoffbären fest an sich....und sah mit weit aufgerissenen Augen, wie Steve wie eine fallengelassene Marionette durch die Luft wirbelte. Sie hörte noch ein letztes Mal seine Stimme, sah noch ein letztes Mal den Glanz in seinen Augen, das verständnislose Entsetzen...ehe er für immer erlosch...
Früher...

Es war mittlerweile früher Abend geworden. Sie saß seit Stunden auf der Bank, auf der sie an jenem Abend mit Steve sitzen wollte. Jedes einzelne Wort, jeder Augenaufschlag, jeder Schritt hatte sich tief in ihre Erinnerung gebrannt. Erinnerungen, die schmerzten und sie innerlich zerrissen. Es war nicht wie sonst. Es war nicht bloß ein Monat. Diesmal wurde ihre Trennung zur Ewigkeit.
Sie spürte einen Schmerz, ganz tief in sich drin, dort, wohin sie Steves Liebe vordringen gelassen hatte und wo jetzt nur noch Leere war. Dieser Schmerz nahm zu. Er schwoll an wie ein Schneeball, der einen Berg hinab rollt. Er wurde größer und größer, beraubte sie jeglichen Lebens und ließ sie innerlich sterben.
Was war aus ihrer Zukunft geworden?
Was aus Steves Worten?
Was war mit dem Stoffbären, auf dem `Ich liebe Dich´ in einem roten Herz stand?
Früher...
Ihr Blick fiel auf die Straße. Dort, wo Steve vor dem schwarzen Wagen gelegen hatte, hatte ein Mann in einer Uniform den Umriß seines Körpers mit Kreide gemalt.
Mittlerweile war die Kreide verschwunden, von Regen und den Reifen der Autos verwischt. Aber Nancy sah sie immer noch. Sie prangerte auf dem Asphalt wie ein Wundmal.
Es war das letzte, was sie jemals von Steve gesehen hatte, und es sollte die letzte Erinnerung an Steve bleiben.

Sie stand auf, spürte einen protestierenden Schmerz in ihren Beinen und ging bis zum Fahrbahnrand. Dabei ließ sie die Kreidezeichnung, die nur sie sehen konnte, nicht aus den Augen.
Ihre Erinnerung wurde zur Ewigkeit. Die Ewigkeit zu Schmerz.
Jetzt zitterte sie am ganzen Körper. Ein Mann blieb stehen, sah sie ratlos und mit einem Stirnrunzeln an und ging dann weiter.
Diesmal brauchte sie nicht zu verbergen, daß sie zitterte.
Über ihr stand immer noch die Ankündigung von Kevin Bacons Film. Doch die goldenen Lichter waren noch ausgeschaltet.
Und sie würden es auch für immer bleiben.

Als sie das dumpfe Brummen eines Trucks hörte, trat sie einen Schritt vor.
Während die Reifen auf dem heißen Asphalt quietschten, starrte sie wie gebannt auf die Kreidezeichnung mitten auf der Fahrbahn...
Erinnerungen wurden zur Ewigkeit....

 

Hi Micha,

warum hast du diese Geschichte in's Seltsam-Forum gestellt? Kein Wunder, daß sie noch niemand kommentiert hat, denn "Seltsamleser" sind andere Sachen gewöhnt.
Dies ist zwar eine der vielen menschlichen Tragödien, wie sie immer wieder passieren, aber selsam ist daran nichts.

Du hast die Gefühle deiner Protagonistin gut wiedergegeben, ich konnte fast mitfühlen, was in ihr vorgegangen ist und warum diese Geschichte so tragisch enden mußte.

In abgeschwächter Form kennt wohl fast jeder diese Gefühle. Mich haben sie an meine Teenyzeit
erinnert, an die tragische Zeit "danach", wenn wiedermal jemand mit mir "Schluß gemacht" hatte.
Zum Glück ist das schon laaaaange her und abgehakt. :)
Für meinen Geschmack ist der Teil mit dem Jahrmarkts- und Kinobesuch etwas zu ausführlich geraten. Ich habe mich dabei ertappt, wie ich Sätze schnell überspringen wollte. Dafür ist mir die Beschreibung der Beziehung, warum er und sonst keiner, er oder der Tod, etwas zu oberflächlich geraten. Nur wegen seiner schönen Augen?

Naja, gut. Ein sensibler Mensch wird die Geschichte auch so verstehen und ein unsensibler wird sie gar nicht erst lesen, glaub ich. :rolleyes:


Gruß.....Ingrid, die Sensible

 

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