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Die letzte Bahn

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24.10.2002
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Die letzte Bahn

Die letzte Bahn

Es waren wohl schon mehrere Minuten vergangen, seitdem ich mich an dieser Stelle des Bahnsteiges hingestellt, und mich in meine aufgewühlte Gedankenwelt geflüchtet hatte. Der unterirdische Bahnsteig war durch das wuselige Treiben seiner Besucher und durch die surrealen Schatten, die das Kunstlicht an die gelb gekachelten Wände warf, mit Leben erfüllt. Das Reinigungspersonal säuberte die Wege und leerte die Mülleimer von allerlei Unrat, der sich am Vortag angesammelt hatte, und machte aus dem nicht übermäßig verschmutzten Bahnsteig eine annehmbare Umgebung. Nicht dass ich diese Tatsachen und Vorgänge im Einzelnen wahrgenommen hätte, aber in meinem Unterbewusstsein fühlte ich etwas wie Geborgenheit – ich war ein Teil von ihnen.

Vor kurzem war schon eine Bahn eingefahren, aber ich hatte sie verpasst. Nicht etwa, weil ich nicht pünktlich am Bahnsteig gewesen wäre - denn ich war wie immer über alle Maßen pünktlich, sondern vielmehr, weil ich mich nicht rechtzeitig entscheiden konnte, ob es denn die richtige gewesen war. Also starrte ich leicht benommen auf die Anzeige. In 5 Minuten würde die nächste Bahn kommen – ein Langzug.

Ich versuchte mich krampfhaft von dem Gedanken, der mich schon den ganzen Morgen beschäftigte, zu lösen. Versuchte Gesprächsfetzen anderer Anwesender aufzuschnappen, die mich sonst so oft beim Lesen in der Bahn ablenkten. Aber keines dieser Gespräche an diesem Morgen hätte es im Ansatz geschafft mein Interesse zu wecken, und mich von diesem einen dummen Gedanken zu erlösen. Die Vehemenz dieses Gedanken war eigentlich beängstigend – aber nicht für mich. Ich schaute auf die Uhr. Wie spät es war vermochte ich nicht zu sagen, es war eher eine routinemäßige Bewegung, um potenziellen Beobachtern zu zeigen, dass es für mich äußerst wichtig war die aktuelle Uhrzeit zu erfahren. Hätte mich in diesem Moment jemand gefragt wie spät es ist, hätte ich nochmals auf die Uhr schauen müssen.

Dort wo ich stand, ganz am Anfang des Bahnsteiges, direkt vor dem Tunnel aus dem die Bahn in 2 Minuten kommen würde, konnte man bereits leise metallische Geräusche, wie sie nur von einen Bahn erzeugt werden können, hören. Der Fahrtwind, den die Bahn im engen Tunnel vor sich herschob, entfleuchte aus dem dunklen Nichts, und erfüllte den Bahnsteig mit einer unangenehmen Kälte. Bei einigen Bahnsteigen konnte man schon durch den Tunnel weit entfernt die andere Station sehen, und war somit schon darauf vorbereitet, dass die Bahn gleich auch in dieser Station halten würde – nicht so in dieser Station, aber das war mir auch nicht so wichtig.

Laut Anzeige würde es jetzt nur noch eine Minute dauern bis die Bahn, ein Langzug, durch dieses schwarze Loch gefahren kommen würde. Ich versuchte mir klarzumachen, mit welch einem Tempo die Bahn hier direkt vor dem Tunnelloch einfahren würde. Es war immerhin ein Langzug, der ganz bis ans andere Ende des Bahnsteiges reichen würde. Der würde seine Geschwindigkeit vermutlich erst kurz nach Einfahrt in die Station drosseln – somit wäre er hier vorne noch ziemlich schnell.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen. Das metallische Geräusch, das die Bahn auf den Schienen verursachte, war jetzt beinahe unerträglich laut geworden. Der vorausgeschobene Fahrtwind war jetzt nicht nur entsetzlich kalt, sondern auch noch ziemlich stark. Im Tunnel erhellten zwei grellleuchtende Scheinwerfer die Konturen der Tunnelinnereien, und durch die Frontscheibe war die Silhouette des Lokführers zu erahnen. Die Menschen auf dem Bahnsteig begannen sich zu formieren – jeder wollte der erste sein, wenn es um die Sitzverteilung ging. Ich drängelte mich nicht vor, und ich machte auch keine Anstalten, mich in dieses Spielchen einzumischen – zumindest war mir ein Sitzplatz nicht wichtig.

Ich machte drei große Schritte auf die Bahnsteigkante zu. Die Bahn war nur noch wenige Meter entfernt. Meine Berechnungen, die auf keinen mathematischen oder physikalischen Gesetzen beruht, mich aber trotzdem den ganzen Morgen beschäftigt hatten, ergaben, dass es jetzt Zeit wäre. Ich nahm den Schwung, den mir die drei Schritte gaben, stützte mich mit meinem rechten Bein ab, und sprang.

Wäre dies ein Film, und ich ein Regisseur gewesen, dann hätte ich diese Szene wohl in einer Zeitlupe dargestellt. Augenkontakt zwischen Lokführer und Selbstmörder. Ein entsetzter Blick, weil es jemand gewagt hatte, die letzte Dienstfahrt seiner Schicht für das Beenden seines Lebens zu benutzen. Und ein verstörter Blick, weil ich mich das erste Mal im Leben getraut hatte, etwas zu Ende zu bringen.

Aber die Realität kennt keine Zeitlupe. Ich war nur kurz in der Luft. An einen entschuldigenden Blick zum Lokführer oder eine Zeitrafferrückblende meines Lebens, war nicht zu denken. Das Letzte, was ich wahrnahm, war das Kunstlicht, das sich in der Frontscheibe spiegelte, die Scheibenwischer, der dumpfe, schmerzhafte Aufprall.

Es ist dunkel.

 

Hallo Wiese!

Eine mittelmäßige Geschichte, die du sprachlich gar nicht mal schlecht geschrieben hast, die mir aber von der inhaltlichen Thematik her zu altbekannt vorkam und leider nichts Neues beinhaltet. Auch der Schluss war mir persönlich etwas zu einfach gewählt; ein derartiges Ende wird häufig angewandt.
Was die Einordnung anbelangt, hätte ich sie eher in "Alltag" einkategorisiert.
Anfangs fand ich sie etwas langweilig und ich fragte mich, worauf die Geschichte wohl hinausläuft; ab dem Absatz, wo du den Vergleich mit dem Regisseur bringst, war ich dann etwas überrascht.
Gut gelungen ist dir die Beschreibung des Bahnhofes und die Gedanken deiner Kernfigur. Häufig verwendest aber die gleiche Wortwahl.
Etwas merkwürdig fand ich, dass du die Geschichte in der "Ich-Form" geschrieben hast; vor allem, wenn man bedenkt, wie endgültig die Story aufhört.

Nicht das ich diese Tatsachen und Vorgänge im Einzelnen wahrgenommen hätte
dass

Fazit: Keine schlechte Kurzgeschichte, könnte aber noch gesteigert werden. Also dranbleiben und weiterschreiben.

Viele Grüße,
Michael :)

 

Hallo Michael!

Vielen Dank für Deine konstruktive Kritik. :)

Diese Kurzgeschichte ist relativ schnell enstanden. Morgens, während ich mit der Bahn unterwegs war, hatte ich diese Idee, und am Abend hatte ich sie niedergeschrieben. Auch deshalb ist sie vielleicht noch nicht ganz ausgereift.

Ich hatte sie nur meiner Frau zum Lesen gegeben und ihre Anmerkungen berücksichtigt. Übrigens hatte sie auch ein Problem mit der Ich-Form, bzw. sie hatte gefragt, ob sie sich jetzt Sorgen machen müsse. ;)
Nein, ich bin auf keinen Fall suizidgefährdet. Ich wollte aber genau diese Reaktion erreichen, und muss zugeben, dass ich gerne mit den Gedanken an Todessehnsüchte, zumindest was die Benutzung in Geschichten angeht, spiele.

Der Text soll die letzten Gedanken des Selbstmörders beschreiben, und zwar zum Zeitpunkt des Aufpralls (als eine Art Rückblende). Das sollte eigentlich dadurch zum Ausdruck kommen, dass der letzte Satz im Präsenz geschrieben ist. (Hat wohl nicht funktioniert, meine Frau war auch skeptisch. Ich sollte ihr mehr Gehör schenken. :rolleyes: )

Aber insgesamt ziehe ich aus Deiner Kritik sehr viel Positives, zumindest verspüre ich den Drang weiterzumachen. Danke.

Liebe Grüße Jens.

 

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