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Die Leiden eines Lebenden
„Herr Protokollant, die Vorbereitungen für unser Experiment sind nun alle getroffen. Das Versuchsobjekt ist 43 und männlich. Es ist an den Metallstuhl gekettet mit jeweils zwei Sicherungen an den Handgelenken, den Oberarmen, den Oberschenkeln und den Fußgelenken. Es befinden sich zwei weitere Sicherungen sowohl am Bauch, als auch am Brustkorb. Der Kopf ist durch einen Metallhelm speziell gesichert, der jede Bewegung, einschließlich aller Zuckungen der Augenlider, verhindert und uns gleichzeitig mit allen nötigen Informationen über die elektrischen Signale innerhalb des Gehirns versorgt. Der Kopf des Testobjekts ist also fixiert und auf den Bildschirm gerichtet, der die ganze Wand bedeckt. Es ist essentiell, dass keine anderen Reize wahrgenommen werden. Aus diesem Grund ist die Kopfbedeckung vollständig schallgeschützt. Ich habe zusätzlich weite Teile des Körpers betäubt um Bewegungen zu verhindern. Die Sicherungen sind also nur im Notfall von Bedeutung. Die Mundpartie wurde mit einer überdurchschnittlich starken Dosis behandelt um akustische Verfälschungen des Ergebnisses auszuschließen.“
Der Doktor, der eben noch durch die Glasscheibe in das Labor gesehen hatte, richtete seinen Blick nach rechts und beobachtete das eilige Auf und Ab des Füllfederhalters. Nach einigen Sekunden kam dieser zum Stehen.
„Haben Sie alles notiert?“
„Jawohl, Herr Doktor. Sie können das Leinentuch nun entfernen und mit Ihrem Experiment beginnen.“
Der Angesprochene nickte, legte seine Handschuhe an, und betrat den Raum aus stechendem Weiß, der außer dem Stuhl in der Mitte und dem Bildschirm an der einen Wand gänzlich leer war. Er stellte sich hinter den Patienten und überprüfte noch einmal die Konstruktion. Er hatte nichts zu bemängeln. Nun griff er nach dem Tuch, das den Kopf des Testobjekts bedeckte und zog es in einer schnellen Bewegung herunter. Er legte es unter den Stuhl und ging zurück in das Beobachtungszimmer.
„Herr Protokollant, Phase eins unseres Experiments beginnt nun. In 60 Sekunden wird dem Probanden sein eigenes Leben auf dem Bildschirm vorgeführt. Es ist von unnötigen Erinnerungen wie Schlaf, der täglichen Nahrungsaufnahme und dem Stuhlgang befreit. Zudem wurden die meisten Arbeitsstunden entfernt. Ziel war es jegliche Routinehandlungen aus dem Film zu schneiden. Die Erinnerungen sind zudem stark beschleunigt, so dass ein vollständiges Vorspielen des Bildmaterials genau 48 Minuten und 53 Sekunden dauert.“
Als der Schreiber alles notiert hatte, runzelte er die Stirn.
„Herr Doktor, woher haben sie die Daten?“
„Dem Versuchsobjekt wurde kurz nach seiner Geburt ein Sender an den Sehnerv geschlossen, der alle Reize aufgenommen und an Speichermodule innerhalb des Körpers weiterleitete. Um ein Auffallen zu verhindern, handelte es sich um Mikrospeicher, die wir vor allem in die Extremitäten pflanzten. Da das Speichervolumen nicht sonderlich groß war, musste eine Mitarbeiterin, als Frau des Testobjekts getarnt, die Daten jede Woche extrahieren. Davor hatten wir übrigens seine Mutter dafür bezahlt.
Die 60 Sekunden sind gleich vorbei. Ich betätige den Knopf in 4…3…2…1.“
Die Augen noch auf seine Armbanduhr gerichtet, drückte der Doktor auf einen unscheinbaren Knopf auf dem Steuerungsmodul vor ihm. Im Labor sprang plötzlich der Bildschirm an und flackerte in allen vorstellbaren Farben. Ein Sperrfeuer von Bildern prasselte auf den Betrachter ein. Ein Sperrfeuer von verzerrten Erinnerungen, verlebt und gespeichert und nun erneut zum Leben erweckt.
Der Protokollant räusperte sich.
„Herr Doktor, kann der Proband überhaupt erkennen, was ihm gezeigt wird?“
„Ich kann verstehen, dass es Ihnen als Außenstehender schwer fällt Szenen zu erkennen, aber sein Sie beruhigt. Ihm sind die Erinnerungen nicht fremd, weshalb er sie ausnahmslos erkennt. Auch ich kann zumindest erahnen, was sich da abspielt. Ihnen fehlt nur etwas Erfahrung.
Sehen Sie? Das eben war seine Einschulung.“
Nun konzentrierten sich beide auf den großen Bildschirm, starrten auf die aufblitzenden Farben und Schemen im ständigen Versuch die Geschichten zu entschlüsseln. So vergingen die Minuten tonlos bis der Bildschirm schwarz wurde. Gedankenverloren stand der Schreiber vor dem Fenster, unfähig den Blick abzuwenden. Ein Räuspern des Doktors beförderte ihn zurück in die Gegenwart.
„Herr Protokollant, wir werden jetzt mit Phase zwei beginnen. Der Helm hat die Gehirnströme des Probanden aufgezeichnet und die Daten liegen mir hier auf dem Computer vor. Ich werde jetzt analysieren welche Erinnerungen die stärksten Reaktionen hervorgerufen haben und ob sie positiver oder negativer Natur waren. Im Anschluss spielen wir die drei negativsten Erinnerungen 15 Minuten lang vor. Zunächst werden wir sie auf fünfzigfacher Geschwindigkeit vorspielen, die Frequenz im Laufe der Zeit jedoch erhöhen.“
Der Doktor setzte sich an einen Schreibtisch und rückte die Tastatur zurecht. Er fing an zu tippen, während das Geräusch des Füllfederhalters noch durch den Raum drang. Als das Protokoll aktualisiert war, legte es der Schreiber zur Seite. Er trat an die Glasscheibe und betrachtete den Probanden, dessen Augen stark gerötet waren. Ansonsten sah er friedlich aus. Ob dies nur von der Betäubung ausging, vermochte man nicht zu sagen. Der Protokollant schreckte auf als sich der Bildschirm wieder mit Leben füllte und Erinnerungen herunter ratterte. Die Bilder bestanden diesmal aus nur aus Fleischfarben, die auf und ab hüpften. Der Doktor hatte den Blick fest auf das Testobjekt gerichtet, ohne die Erinnerungen auf der Wand zu beachten.
„Herr Protokollant, es hat sich herausgestellt, dass die negativsten Erinnerungen von Liebesnächten mit einer Frau handeln, die nicht unsere Mitarbeiterin ist. Sie sind allerdings von außerordentlicher Negativität.“
Der Angesprochene wandte betreten den Blick vom Bildschirm ab und suchte eine Ablenkung. Er fand sie in seinem Schriftstück, das er aufnahm und weiter bearbeitete. Nach einiger Zeit räusperte sich der Doktor.
„In 60 Sekunden wird der Film zu Ende sein und dann beginnt Phase drei. Ich betätige dann diesen Knopf, der sämtliche Sicherungen und den Helm entfernt. Der Proband ist dann nicht mehr fixiert und seine Gehirnströme werden nicht länger überprüft. Die Betäubungsmittel werden vom Körper dann soweit abgebaut worden sein, dass er sich frei bewegen kann, aber keine Schmerzen mehr verspürt. Dies ist der wichtigste Abschnitt des Experiments. Ich bitte Sie also darum, alles ganz genau aufzuschreiben. Ich betätige den Knopf in 6…5…4…3…2…1.“
Der Bildschirm wurde wieder schwarz und gleichzeitig schnellten alle Sicherungen zurück in den Stuhl und der Helm nach oben. In einem gewaltigen Ruck war das Testobjekt befreit. Auch sein Körper gehorchte ihm nun wieder. Es hielt die Hände an die Augen und rieb sie sich panisch. Ein aufgeregtes Röcheln war zu hören, als es versuchte ein Wort zu bilden, doch es gab nicht auf.
„T-t Ti-“
Das Augenreiben wurde immer schneller. Der Körper bebte. Das Röcheln verwandelte sich in ein Klagen.
„Tier. Ich bin ein Tier“, schrie es plötzlich. Dann Stille. Aufgeregt wandte sich der Kopf nach links und rechts. Hin und her. Was es suchte konnte selbst der Doktor nicht genau bestimmen. Ein gewaltiger Schrei löste sich aus den Lungen. Hoch und schrill. So lang gezogen, dass die Stimme versagte. Es schnappte nach Luft und versuchte gleichzeitig weiterzuschreien. Dies und der Hall des kleinen Labors verschmolzen zu einem Bellen. Eine Verzerrung des menschlich Möglichen. Eine Verhöhnung des Menschen im Ganzen. Der Protokollant erschauerte. Er wusste nicht was hier passierte und suchte Sicherheit in der Reaktion des Doktors, der nun mit dem Gesicht an der Fensterscheibe klebte. Der Körper zum Zerreißen angespannt, sich die Hände reibend in brennendem Interesse.
Auf einmal riss der Proband die Hände von den Augen und biss sich mit aller Kraft ins Handgelenk, so dass ein Knacken von den Wänden hallte. Die Kiefer mahlten sich durch Fleisch und Knochen. Drangen tiefer und tiefer, trafen schließlich die Hauptschlagader. Die beschworene Blutfontäne spritze ihm ins Gesicht und umhüllte den ganzen Kopf. Sie überschwemmte den Stuhl in einem dunklen Rot im sonst so weißen Raum. Das Testobjekt sackte in sich zusammen, die fast erblindeten Augen auf den Bildschirm gerichtet, während sich die Blutlache im Labor ausbreitete. Es hörte Schritte von hinten auf sich zukommen, doch war zu schwach um sich umzudrehen. Eine weiße Gestalt trat in sein Blickfeld und sah auf es herunter. Eine kleine Lampe leuchtete ihm in die Augen. Als das Licht ausging, konnte es ein Gesicht erkennen. Verzogen in einer Mischung aus Enttäuschung und Ekel.
„Ich hatte große Hoffnungen in Sie, Versuchsobjekt Nummer 213. Ihre Reaktionen waren äußerst vielversprechend, doch, es scheint mir, Ihr Ich war einfach nicht stark genug. Es scheint mir fast, als ob Nietzsches "Was mich nicht umbringt, das macht mich stärker" Leitsatz nur für die wenigsten Menschen gilt. Sie dagegen sind wohl auch nicht unser Homo Superior.“, sagte das Wesen.
„Vater?“, war das Einzige, das der Proband noch sagen konnte, bevor ihm die tödliche Spritze injiziert wurde.