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Die Leiden des Cornelius Prons
Eine Fliege schwirrte durch das Wohnzimmer von Cornelius Prons und genoss unwissentlich die letzten Minuten ihres kümmerlichen Daseins. Ab und an landete sie auf einem ungeputzten Teller um ihren Rüssel über einen vertrockneten Brotkrumen zu stülpen und das Wichtigste ihrer Grundbedürfnisse, dicht gefolgt von der penetranten Belästigung größerer Lebensformen, zu befriedigen. Wie es das Schicksal so wollte, dauerte es nicht lange, bis sie sich auf die haarige Hand von Herrn Prons setzte, in der sie eine zuverlässige und komfortable Grundlage für einen Moment des Verharrens vermutete. Doch just als sie, sich in Sicherheit wiegend, begann, ihr vorderes Beinpaar zu aneinander zu reiben, verdunkelte sich der Himmel, sank in Zeitlupe auf sie nieder und zerquetschte sie, noch bevor sie die Möglichkeit hatte zu registrieren, dass es nicht der Himmel war, sondern die andere Hand von Herrn Prons. Eilig lief er ins Bad und wusch sich gründlich die Hände, denn er wollte unter keinen Umständen riskieren, die Bakterien mit der nächsten Mahlzeit in seinen Kreislauf aufzunehmen. Sein Wohlbefinden war ohnehin angeschlagen, seit er mit rumorendem Magen vorzeitig seinen Arbeitsplatz verlassen musste. Den obligatorischen Gang zum Arzt tat er wie gewohnt als überflüssig ab, letztlich erwiesen sich die meisten Allgemeinmediziner als Stümper, die einem Antibiotika verschrieben, sobald sich ein flüchtiges Hüsteln über die Lippen schlich, und sei es nur durch Nahrungsrückstände, die sich auf ihrem Weg in die glucksenden Verdauungsgrotten in der Tür geirrt hatten. Im übrigen fühlte er sich unwohl in Warte- und Sprechzimmern und wurde nervös beim Anblick von Menschen in steriler, weißer Kluft. Während Herr Prons so dasaß und über seinen sich verkrampfenden Magen nachdachte, wurde sein Zustand zunehmend unerträglich. Magensäure rann in umgekehrten Sturzbächen seine Speiseröhre hinauf und in seinem Mund sammelte sich mehr Speichel, als er zu schlucken vermochte. Nachdem sein schmerzender Magen ihm einige Stunden lang den Schlaf geraubt und ihn sich im Bett herumwälzen lassen hatte, schlief er letzten Endes doch noch ein und träumte von einem schmerzenden Magen. Am nächsten Morgen erwachte er benommen und musste konsterniert feststellen, dass die Schmerzen sich verschlimmert hatten, woraufhin er beschloss, sich krank schreiben zu lassen, was seine mentale Verfassung unter die Erde sinken ließ angesichts der Tatsache, dass er nun doch zum Arzt gehen musste. Mürrisch zwängte er sich in seine Klamotten und trabte, leise unter der Nase fluchend, zu seinem Hausarzt.
Nach einer knappen Stunde im Wartezimmer und etwa fünf Minuten beim Arzt kam er mit einer Packung Placebos in der linken Tasche, einer Krankmeldung in der rechten und der unbefriedigenden Gewissheit, dass ihm nichts fehlte, zurück nach Hause. Sein Magen rumorte und verkrampfte sich heftiger denn je. Sogleich hastete er in die Küche und ließ eine Handvoll der kleinen Tabletten geräuschvoll seinen Hals hinuntergleiten. Kurzzeitig ließ der Schmerz in seinem Magen nach, als er abgelenkt wurde von der Befürchtung, sich durch die Tabletten den Rachenraum aufgeschürft zu haben, woraufhin dieser anfing, leicht zu brennen. Doch nachdem er einige Zeit damit zugebracht hatte, jede Mulde seiner Mundhöhle ausgiebig auf Verfärbungen zu untersuchen und feststellen musste, dass alles ganz gewöhnlich aussah, kehrte der Schmerz in seinem Magen zurück als wäre er von den Toten auferstanden. In seinem Misstrauen gegenüber den Ärzten ein weiteres Mal bestärkt, fasste er den Entschluss, die vorherrschende Informationsquelle des 21. Jahrhunderts zurate zu ziehen.
Während er glucksend mit seiner Magensäure rang, scheuchte er rastlos seine Symptome durch die Suchmaschinen des World Wide Web und klickte sich durch diverse Foren und medizinische Ratgeberseiten, bis er darauf stieß, dass all seine Symptome zwar in vielen Krankheitsbildern auftauchten, jedoch am ehesten auf Magenulkus zutrafen, ein Magengeschwür. Die unglückselige Diagnose löste ein überwältigendes Schwindelgefühl bei Herrn Prons aus und ließ einen heftigen Schub Magensäure in seine Speiseröhre schwappen. Halb paralysiert wankte er zu seinem klobigen Medizinschrank, riss dessen schlummernden Schlund mit einer schroffen Bewegung auf, woraufhin dieser seinen unverhältnismäßig umfangreichen Inhalt auf den Boden spie wie ein an Binge-Störung leidender weißer Zwerg, dem sein Essen nicht bekommen hat, und suchte die mannigfache Auswahl an schmerzlindernden, euphorisierenden und wirkungslosen Pastillen hektisch nach einem vertrauenswürdigen Allheilmittel ab, während er seinen ruckartigen Blickwürfen mit dem Kopfe folgte wie ein Spatz auf der Suche nach einem Wurm. Mit zitternden Fingern schraubte er den Deckel einer anheimelnden Arznei ab und beförderte die halbe Flasche in seinen Hals. Unter Ächzen schleppte er sich aufs Sofa, hielt sich den Bauch und krümmte sich um seine Magengrube wie eine Assel, bis er Stunden später in embryonaler Stellung einschlief.
Am nächsten Morgen wachte Cornelius schweißgebadet auf. Sein Magen brannte, als wäre über Nacht ein Kobold in seinen Rachen geklettert und hätte die lichterloh brennenden Flammen mit mehreren Kanistern Benzin gefüttert. Es konnte sich unmöglich um ein gewöhnliches Geschwür handeln, zu überwältigend war das Leiden, das sich von seinem Bauch allmählich auf die umliegenden Organe ausweitete. Den kompletten Tag verwendete Herr Prons darauf, seine sich immer verheerender auswirkenden Symptome durch alle möglichen Suchmaschinen zu schleudern und, je länger der Tag wurde, immer mehr Krankheiten bei sich zu diagnostizieren, bis er zwangsläufig feststellen musste, dass es alles mögliche sein konnte und es vielleicht auch war.
Fröstelnd wickelte er sich in mehrere Decken und begab sich zurück in embryonale Position, um seine Schmerzen auf eine möglichst geringe Intensität zu drücken und ein wenig Ruhe zu schöpfen. So registrierte er das Klingeln des Telefons nur halbwegs. Der schrille und regelmäßige Klingelton, der einerseits in sein Ohr zu dringen und sich andererseits aus seinem Unbewussten den Weg in seinen Kopf zu bahnen schien, verstummte und wich seiner eigenen Stimme, die einen recht vertrauten Text aufsagte, um kurz darauf einer fremden Stimme zu weichen, die von weit her zu kommen schien und es ihm unmöglich machte, mehr als drei aufeinanderfolgende Worte zu verstehen.
„....los mit......uns Sorgen macht.........häufig auftretende Zustände... bitte melden.........besorgniserregender Krankheitsfall.......möglichst schnell.....wiederhören.“
Das Verklingen der Stimme löste eine tiefe Dankbarkeit in Herrn Prons aus, die ihn abermals für kurze Zeit von seinem Schmerz ablenkte, welcher seinen Wirt jedoch noch lange nicht verlassen hatte. Es dauerte nicht lange und er trat wieder ein, heftiger als zuvor, und quälte Herrn Prons, bis er leise wimmernd vor sich hin delirierte. Zwei kleine Männer von ca. 10 Zentimetern Körpergröße, die ansonsten genau aussahen wie er, kamen das Sofa hochgeklettert und trugen jeweils einen großen Gummihammer in der Hand. Wortlos bezogen sie zu beiden Seiten seines Kopfes Stellung, nickten sich zu und begannen, die Hämmer in rhythmischen Abständen gegen seine Schläfen donnern zu lassen. Zähneknirschend griff er nach den kleinen Unholden, doch seine verzweifelten Hände glitten durch die Luft und verfehlten ihr Ziel stets um Haaresbreite, als würden die Gnome ihnen ausweichen, was sie nicht taten, sie blieben an Ort und Stelle und gingen unbeeindruckt ihrer Tätigkeit nach. Herrn Prons Bewegungen wurden immer unkoordinierter, bis er irgendwann, unfähig sich zu bewegen, reglos auf dem Rücken liegen blieb und alles über sich ergehen ließ. Verstört starrte er die Decke an, die immer heftiger pulsierte und in einem beunruhigenden Tempo auf ihn niedersank. Er spürte die trockenen Nutundfeder-Bretter schon an seiner von Schweiß benetzten Stirn und merkte, wie sie die Konsistenz einer knetartigen Masse annahmen, die sich um sein Gesicht schloss und ihm den Atem raubte. In diesem Augenblick verschwand der Raum, in dem er sich befand, besser gesagt, er wuchs um ein Millionenfaches und Herr Prons fand sich als winziges, geflügeltes Wesen auf der dicht bewucherten Hand seines monströsen Abbildes wieder. Verwundert, doch routiniert, rieb er seine Vorderbeine aneinander und nahm die Verdunkelung des Himmels leider etwas zu spät durch seine trüben Facettenaugen wahr. Kurz darauf verschwand der Raum um ihn herum erneut.
Als Herr Prons nach Luft ringend seine verkrusteten Augen öffnete und den dicken Schweißfilm von seiner Stirn wischen wollte, verbrannte er sich beinahe die Finger an etwas, das sich eher nach einer glühenden Herdplatte anfühlte als nach der knochigen Stelle unter dem Haaransatz. Das Wohnzimmer hatte wieder zu seiner ursprünglichen Größe zurückgefunden, doch sein Zustand hatte sich drastisch verschlimmert. Sein Körper war zu einem kochenden, schweißnassen Bündel aus Schmerzen geworden, welche nun so überwältigend waren, dass Herr Prons ihr volles Ausmaß nicht einmal mehr zu spüren vermochte. Die Außenwelt, die für ihn ohnehin lediglich aus seinem spärlich eingerichteten Wohnzimmer bestand, drang nur noch als eine Art diffuses Trugbild durch seine Augen, das ihm so wirklich vorkam wie ein Kühlschrank in einer Wüste. Das einzige, was ihm noch real erschien, war sein von Schmerzen, Fieber und Krankheit gepeinigter Körper. Die dumpf pulsierende Zimmerdecke wurde allmählich von einem bedrohlichen Schatten überzogen, aus dem sich ein grelles Licht herauskristallisierte, welches wie glühende Nadeln in seine Pupillen traf und ihm das Gefühl suggerierte, seine strapazierten Augen würden kreischend in ihren gähnenden Höhlen verbrennen. Jegliche übergebliebene Kraft wich aus seinen Muskeln und seine Lider schlossen sich über seinen Augäpfeln, während sein restlicher Körper nach und nach von einer endgültigen Starre eingenommen wurde und er langsam entschlief.
An jenem Tag erlag Cornelius Prons seinen Leiden. Er wurde zwei Tage später von einem Arbeitskollegen gefunden, der aus Sorge um ihn in seine Wohnung eingedrungen war um nach ihm zu schauen, nachdem er mehrere Male erfolglos versucht hatte, ihn telefonisch zu erreichen und Nachrichten auf seinen Anrufbeantworter gesprochen hatte. Die Mediziner, die sich der Leiche von Herrn Prons annahmen, wussten nicht, wie ihnen geschah und selbst nach ausgiebiger Obduktion blieb der Fall Prons ein Rätsel, denn es konnte beim besten Willen keine Todesursache festgestellt werden, im Gegenteil, sie standen vor dem Leichnam eines recht jungen Mannes ohne gesundheitliche Auffälligkeiten, der – den Umstand, dass er nicht mehr atmete, außer Acht gelassen – wie ein Schlafender wirkte.