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Die Leiden der jungen Frau Werder
Antonia Werder sah auf das Meer aus gesenkten Köpfen hinab. Blond, dunkel, fettig und gelockt beugten sie sich über die abgegriffene Schulausgabe des „Werthers“. Ganz allein, in der letzten Reihe hockte Kevin, sein kapuzenvermummter Schädel signalisierte die Ablehnung an jegliche Kontaktaufnahme.
„Worum geht es denn im Werther?“, fragte sie betont munter.
„Um Liebe?“, kam es vorsichtig aus der zweiten Reihe.
Sie mimte Überraschung. „Ja, Carola, gut beobachtet. Wen liebt er denn?“
Frau Werder konnte aus den Augenwinkeln das Fingerschnippen der besserwisserischen Andrea Dorner wahrnehmen. Meistens versuchte sie, Andrea so lange es ging, zu ignorieren, aber in Krisensituationen musste sie leider doch oft auf sie zurückgreifen.
„Er liebt Lotte, aber sie liebt ihn nicht“, kam es nun erstaunlicherweise von Nadine, einem frühreifen, kaugummikauendem Mädchen, das seine schweren Brüste wie volle Einkaufstaschen auf dem Tisch gelagert hatte. „Sie soll einen andern heiraten, aber der liebt sie nicht halb so viel. Werther liebt sie total, er bringt sich sogar für sie um!“ Beifallsheischend blickte sie sich um. Es war die längste Rede, die Nadine je gehalten hatte. Selbstmord als ultimativer Liebesbeweis interessierte sie offenbar brennend. Frau Werder wertete das als gutes Zeichen.
„So was Beklopptes“, sagte einer. „Sich wegen einer Tusse umzubringen!“ Die anderen Jungen murmelten beifällig.
„Mein Onkel hat mal einen Selbstmordversuch gemacht, wegen seiner Freundin. Vor zwanzig Jahren. Jetzt sagt er, er ist froh, dass er die nicht geheiratet hat“, verkündete Denise kichernd.
Alle lachten.
„Sie ist total fett geworden, er hat sie mir mal gezeigt. Sie arbeitet jetzt bei Spar.“
Denise war nicht mehr zu bremsen. Antonia Werder merkte, wie die Diskussion in eine völlig unerwartete Richtung abzugleiten drohte.
„Was ist denn der Werther für ein Typ?“, fragte sie laut. Die Gespräche versickerten und machten betretenem Schweigen Platz.
Sie klappte das Buch auf: „Ich kehre in mich selbst zurück, und finde eine Welt“, las sie laut. Die Klasse saß reglos wie eine Reihe Teddybären im Spielzeugladen.
„Er hat so eine Dingens, wo er sich nicht aus dem Haus traut?“, riet Denise.
„Phobie“, Karsten drehte sich nach ihr um. „Meinst du das? Wie mit den Spinnen? Arachnophobia“, erklärte er den anderen.
„Du weißt echt alles!“ Nadine blickte ihn bewundernd an.
„Boa, der Film war so eklig!“ Ein paar andere waren aus ihrer Starre erwacht.
„Nichts ist so eklig wie „Hannibal Rising“, meldete sich Tom mit genüsslichem Gesichtsausdruck.
„Werther hat keine Angst vor Spinnen“, sagte Frau Werder über den Lärm hinweg. „Er fühlt eine Naturverbundenheit, ein zeitweiliges Hochgefühl, er ist überspannt und unausgeglichen. Schreibt das mit!“, sie bemühte sich um Autorität und beschloss, den Rest der Stunde als eine Art Vorlesung zu Ende zu bringen.
„Er sieht in Lotte eine schlichte, heilende Natur, die sich wohltuend auf seinen Gemütszustand auswirkt. Sie mahnt ihn zum Beispiel wegen seinen Alkoholexzessen und versucht, ihn zu mäßigen“, dozierte sie.
„Ihr hättet mal am Samstag Tom sehen sollen, der war so was von zu, das war unklar“, informierte plötzlich Karsten den Rest der Klasse, als sei Antonia Werder nicht anwesend.
„Karsten, das gehört jetzt nicht hier her“, sagte sie mit all der Fassung, die sie noch aufbrachte.
„Na, ich meine nur, wenn Sie gerade von Alkohol reden. Das war früher bei Schiller auch nicht anders. Tom hat den ganzen Rücksitz im Auto seines Vaters vollgekotzt.“
„Werther“, fuhr Antonia Werder mit geschäftsmäßiger Stimme fort, „erfährt aufgrund seiner eifersüchtigen Liebe einen Lebensverdruss.“ Sie hielt ihr Buch umkrampft und las weiter vor, als ob sie eine Lesung vor interessierten Senioren hielt. „Am siebenundzwanzigsten Oktober schreibt er: Ich möchte mir oft die Brust zerreißen und das Gehirn einstoßen, daß …“
„Ich mag irgendwie Horror nicht so“, Denise führte das von Tom angeschnittene Thema ungerührt weiter. „So mit Gehirn essen, wie bei Hannibal mit den Lämmern, das ist nicht so mein Fall.“
„Das Gehirn hat er im zweiten Film gegessen“, sagte Tom über die Schulter hinweg.
„Werther“, Antonia Werders Stimme war kurz vorm Überschnappen, „sieht im Selbstmord den einzigen Ausweg. Ist das heute noch aktuell?“ Hilfesuchend blickte sie zu Andrea Dorner.
Andrea schraubte sich aus ihrem Sitz und holte tief Luft. „ Die Unbedingtheit der Liebe trägt die Gefährdung des Tragischen in sich“, zitierte sie eine unsichtbare Quelle. Woher hatte sie das? Lag etwas unter ihrem Tisch? War das Mädchen noch normal?
„Danke, sehr schön‘, erdwiderte Frau Werder matt. Andrea setzte sich beleidigt wieder hin. Sie hatte noch so viel mehr auf Lager. Antonia Werder schielte auf ihre Uhr. Noch drei Minuten.
Kevin stand plötzlich auf und ging zur Tür. „Wir haben noch nicht Schluss gemacht, Kevin“, mahnte Frau Werder. Kevin zuckte bei ihren Worten zusammen und stürzte zur Tür hinaus.
„Das hätten Sie mal jetzt lieber nicht sagen sollen“, meinte Denise kopfschüttelnd.
„Wie bitte?“, fragte Frau Werder verständnislos.
„Schluss gemacht. Sie haben Schluss gemacht gesagt. Es weiß doch jeder, dass Kevin fertig ist wegen Britta. Sie hat mit ihm Schluss gemacht, heute früh. Sie hat jemand anderes.“
Zwanzig vorwurfsvolle Augenpaare blickten Antonia Werder an.
„Verzeihung“, stammelte sie.
„Sie wissen vielleicht nicht mehr, wie das ist, so mit Eifersucht und Liebe, aber für Kevin ist das ganz schlimm!“ Karsten sprach zu ihr wie ein gütiger Vater. Das Pausenklingeln erlöste sie.
Schlurfend begab sich die Klasse hinaus.
Antonia Werder klatschte den „Werther“ auf den Tisch. Im nächsten Jahr würde sie „Maria Stuart“ nehmen. Da gab es wenigstens abgehackte Köpfe.