Die Leere
Das Meisterwerk war vollendet.
Nun, beinahe. Die jahrzehntelange Arbeit hatte ein unglaubliches Konstrukt aus Metall und Kunststoff, Stahlverstrebungen und Drähten, Kabelsträngen und Elektromotoren hervorgebracht. Doch ob es wirklich ein Meisterwerk war oder nur eine enorme Verschwendung von Zeit und Material, dass konnte nur ein Praxistest beweisen.
Im Dachgeschoss über dem kleinen Blumenladen war eine der revolutionärsten, radikalsten, genialsten und vermutlich auch irrsinnigsten Erfindungen der Menschheit entstanden. Stahl wölbte sich zu skeletthaften Formen, Leitungen durchzogen es wie Blutgefäße einen Muskel. Die Rotationselemente funktionierten tadellos. Die Isolatoren waren ersetzt worden, sie würden nicht erneut schmelzen. Beim Praxistest musste alles funktionieren, denn es gab nur einen Versuch.
Der Erfinder der Maschine lebte schon seit langem nicht mehr. Doch sein Assistent, der über dem kleinen Blumenladen lebte, hatte sein Werk gemäß seiner Pläne vollendet. Er war keine Kompromisse eingegangen, hatte die Arbeitsanweisungen des großen Genies wortgetreu befolgt, war in keinem Detail abgewichen. Selbst die Farbe der Verkabelung stimmte mit den Originalskizzen überein.
Die Materialien zu finden hatte viel Zeit beansprucht. Einige mussten illegal beschafft werden. Andere waren schlichtweg teuer gewesen.
Es hatte Jahre gedauert, die Feinmechanik zu entwickeln. Gyroskope sorgten für die Lagestabilisierung, fein abgestimmte Detektoren sammelten alle Daten, die für einen erfolgreichen Test nötig waren.
Und es konnte nur diesen einen Versuch geben. Der Energieverbrauch war immens, er würde das Versorgungsnetz der kleinen Stadt völlig überfordern. Man würde schnell die Ursache der Störung finden.
Es musste also alles beim ersten Mal gelingen. Alles war penibel vorbereitet worden.
Doch ein letzter Rest Unsicherheit blieb. Trotz aller Vorkehrungen, Berechnungen und Kontrollen konnte immer noch etwas schiefgehen.
Je komplexer ein System, desto banaler waren die Gründe für dessen vollständiges Versagen. Je erhabener das Ziel, desto trivialer die Gründe für das Scheitern.
Noble Vorhaben scheiterten stets an niederen Trieben.
Die Macht des Geistes wurde von den Schranken des Körpers eingeengt.
Nun, das mochte sich bald ändern. Nicht nur das Schicksal eines einzelnen Menschen stand an der Schwelle wahrer Erkenntnis, die gesamte Art Mensch mochte auf lange Sicht von der Genialität des Erfinders und dem Wagemut seines Assistenten beeinflusst werden.
Losgelöst von den Fesseln des Fleisches vermochte der reine Geist das zu erkennen, was die vernebelten Sinne des zum langsamen Verfall verdammten Körpers niemals erreichen konnten.
Doch ein leiser Zweifel blieb.
Was, wenn es keine höhere Erkenntnis gab? Wenn die Welt, die wir mit unseren Sinnen sehen, alles ist, was existiert? Wenn der unkörperliche Verstand ohne Sinn und Aufgabe ist?
Nun, man musste es herausfinden. Generationen von Metaphysikern hatten sich den Kopf darüber zerbrochen, doch nun würde erstmals ein Mensch die Grenze überschreiten, die in dieser Form noch nie überschritten wurde.
Der kleine Blumenladen hatte an diesem Tag geschlossen. Der Stromverbrauch war immens, doch die Sicherungen hielten. In der halben Stadt fiel der Strom aus.
Gegen Nachmittag zogen Wolken auf, kurz darauf schoss ein greller Blitz zum Himmel und verließ die Welt für immer. Losgelöst von den Fesseln des irdischen Seins war die Leere das einzige Gefäß, welches eine solche Essenz aufnehmen konnte.
Am Tag darauf öffnete der Blumenladen wieder, und alles, was blieb, war das Opus Magnum.