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Die leere Leinwand
Nach der Diplomfeier ging Louise zielstrebig ins Arbeitszimmer und schredderte dort ihr Masterzeugnis im Aktenvernichter: Die logische Fortsetzung von fünf Jahren Kunststudium. Sie büschelte die Papierstreifen zu einer Wulst und fixierte diese mit Sprühleim auf einer Holzplatte. Danach zog sie sich in ihr Atelier zurück und begann, wie eine Wahnsinnige zu malen.
Louise malte den ganzen Herbst und den ganzen Winter und im Frühling machte ich mir ernsthaft Sorgen. Vor allem beunruhigte es mich, dass sich ihr Schaffensdrang immer mehr mit einer nervösen Zwanghaftigkeit vermischte. Sie malte nicht mehr meditierend, nicht mehr nur des Ausdrucks willen. Sie malte ungeduldig. Wütend. War es der Wunsch nach dem Durchbruch? Das Bedürfnis, etwas Bedeutsames und Dauerhaftes zu erschaffen?
Louise malte. Ich rechnete. Bilanz: Mit den Einnahmen der Bildverkäufe liess sich gerade mal ein Bruchteil des Materialbedarfs decken. So lebten wir schon seit Jahren von meinem geregelten Laboranteneinkommen.
Ich finde Louises Bilder schön. Doch genau dies sei das Problem, sagte sie.
»Ich will keine schönen Bilder malen! Meine Bilder sollen verwirren, verstören, beim Betrachter etwas auslösen! Ich will Neues schaffen, etwas tun, was noch nie jemand zuvor getan hat!«
Wer will das nicht.
Louise erfand neue Methoden, Farbe auf die Leinwand zu bringen. Am kostspieligsten war ihr Bild »Kratzende Tür auf Gewand«. Schaffensprotokoll: Louise befestigte eine Leinwand auf dem Fussboden, dass die Unterseite unserer Schlafzimmertür bei jeder Bewegung der Tür auf der Leinwand kratze. Sie leerte Sand und Acrylfarbe dazu. Ich war bei diesem Kunstwerk Mitkünstler, da auch ich die Schlafzimmertür bewegte, von August bis November. Als wir aus der Wohnung auszogen, musste wir die Tür ersetzen.
»Es wird Zeit, dass wir der Realität ins Auge sehen.«
Mit diesem Satz begann der Streit. Ich wollte, dass sie sich eine Frist setzte. Wenn es bis zu einem gewissen Datum nicht klappte mit der Kunst, sollte sie etwas Neues beginnen und finanziell auch wieder zu unserer Lebensgemeinschaft beitragen. Das war meine Forderung.
»Du glaubst nicht an mich!«, warf sie mir vor. Ich gab keine Antwort. Sie brach in Tränen aus. Ich blieb hart. Und schliesslich sah es Louise ein. Wir gaben uns noch Zeit bis in den Sommer. Bis dahin musste sich ihre Karriere in Bewegung gesetzt haben.
»Woran merkt man, dass eine Karriere in Bewegung ist?«, fragte sie.
»Am Kontostand« , sagte ich.
Am Abend machte ich ihr ein Angebot. Ich könnte im Labor fragen, ob sie im Sekretariat eine Praktikumsstelle hätten.
Das wird nicht nötig sein, meinte sie.
Ein paar Tage später kam Louise mit leuchtenden Augen nach Hause. Sie sprach von einer inspirierenden Malwoche auf dem Lande. Sie sei von einer ehemaligen Kunstdozentin eingeladen worden, teilzunehmen. Louise sagte, dass jene Künstlerin in der Stadt einen Namen habe und auch von der Kunst leben konnte. Die Dozentin sei nicht nur Schlüsselfigur der Szene, sondern habe Louise bereits während des Studiums geprägt.
»Was kostet der Spass?«, erkundigte ich mich skeptisch.
Louise nannte eine Zahl.
»Ich dachte, die Künstlerin kann von der Kunst leben?»
Wir meldeten uns für die Malwoche an. Überwiesen die Dreitausend. Louise meinte, dieser Betrag sei eine Investition in unsere Zukunft. Manchmal müsse man Geld in die Hand nehmen, um Zugang zu einer gewissen Szene zu erhalten. Sie vertrat stur die Ansicht, dass wir kurz vor dem Ziel waren. Alles würde ums Zehnfache zurückkommen.
Kurz vor der Malwoche fuhren wir beim Baumarkt vorbei und kauften Schweineborstenpinsel, billige Acrylfarben und ein Dutzend Leinwände, damit auch ich teilnehmen konnte. Mir war das alles zuwider, diese blöde Materialschlacht, die lächerlichen Rollen und Spachtel.
Das mächtige Landhaus war perfekt in eine idyllischen Naturkulisse eingepasst. Zur Rechten und Linken der Zufahrtsstrasse entfalteten sich alte Bäume. Ich sinnierte über den feinen Unterschied zwischen den Bezeichnungen “Anwesen” und “Haus”. Währenddessen sprach Louise ununterbrochen und versuchte, unsere Kursteilnahme in eine vielversprechende Vision einzubetten.
Das Anwesen sei der Besitz eines alten Geschlecht. Diesem gehöre die Hälfte der städtischen Industrie. Ich gab mich unbeeindruckt, war neidisch auf die weit umsichgreifenden Bäume der Allee. Wütend auf den Familiennamen dieser reichen Familie. Und jetzt bezahlten wir noch Dreitausend, damit dieses Geschlecht nicht alleine war beim Malen. Louise wies wiederholt darauf hin, dass die unterrichtende Künstlerin eine gute Freundin eben dieser reichen Familie war. Darauf war ich unlängst selbst gekommen. Dennoch konnte ich die Magie dieses Ortes nicht verleugnen. Hätten wir doch einen Mietwagen genommen, dachte ich kurz. Aber nein, wir brauchten ja niemandem was vorzumachen. Wir fuhren mit unserem Fiat Panda selbstbewusst vor und fanden eine Lücke zwischen den SUVs und den Cabrios.
Wir brachten Gepäck und Material zum Landhaus. Jemand trug die Koffer auf unser Zimmer. Das gefiel mir. Dann gingen wir rüber auf die Wiese. Dort waren Apérotische aufgebaut. Wir stiessen an mit Champagner. Zwei junge, glatte Franzosen wandelten mit Häppchen und Sektflaschen durch den nervös gackernden Menschenhaufen.
Es stellte sich heraus, dass die Malwoche eigentlich für Frauen bestimmt war. Viele von ihnen hatten ihre Partner mitgebracht. Ich bekam mit, dass die Männer während den Schaffensphasen ihrer Frauen Sport treiben wollten. Der Park und die hauseigenen Sportanlagen boten sich für diverse Aktivitäten an.
Ein besonders gutaussehender Typ kam auf mich zu, stellte sich vor als Pat und fragte, ob ich Tennis spielte. Letzte Woche hätten sie den Belag neu gemacht. Als ich ihm sagte, dass ich malte, lachte er so ein richtig fieses Lachen und brachte damit zum Ausdruck, dass Malen unter seiner Würde war. »Zu schade. Meine Kunst ist das hier«, sagte er und tippte auf seinen Bizeps.
Eine der Frauen sagte schnippisch: »Wem gehört denn das Zeugs da?«, und zeigte mit einer verachtenden Geste auf meine Schachtel mit meinen Acrylfarben aus dem Bau & Hobby.
»Streicht ihr die Zimmer etwa neu, Liselotte?«
Liselotte war die Dozentin, die eingeladen hatte.
Die Frauengruppe lachte gackernd. Louise wurde rot und klärte: »Das gehört meinem Liebling, gell du Tom«, und wandte sich an mich.
»Tom hat noch nie gemalt und möchte erste Erfahrungen sammeln.«
Liselotte brachte mit einem Silbermesser ein Glas zum Klingen und es wurde ruhig. Sie begrüsste uns. Sie spüre, dass Grosses entstehen würde in dieser Woche. Malen sei die Kunst, Unsichtbares sichtbar zu machen. Diesem Unsichtbaren sei die Woche gewidmet. Und wenn sie gerade beim Unsichtbaren sei - leider könne Helena - und dann folgte der Namen des reichen Geschlechts - dieses Jahr nicht unter ihnen sein. Aber möge doch die Gruppe ihr zu Ehren applaudieren und damit der grosszügigen Stifterin, Mäzenin und Freundin Respekt zollen, die diesen Malkurs in dieser Atmosphäre erst ermöglichte.
Die Gruppe applaudierte.
Eine der Frauen blickte dabei nach oben in den Himmel und eine andere sagte mürrisch zu ihrer Nachbarin:
«Und ich hoffte schon der Geizkragen würde endlich eines meiner Bilder kaufen!»
Dann richteten wir uns ein und schleppten die Materialien und Gerätschaften zu den zugewiesenen Plätzen und begannen uns auf die grosse Aufgabe vorzubereiten, das noch »Ungesagte« auf die Leinwände zu bringen. Ich richtete mich neben dem Hühnerstall ein.
Da wurden Kisten angeschleppt, Tische aufgebaut, dunkle Edelholzkästchen geöffnet, Dosen ausgeräumt und sortiert, Stifte gespitzt und Pulver gesiebt. Künstlerinnen eilten zwischen den Tischen und Leinwänden hin und her, um sich die neusten Produktentdeckungen zu zeigen. Ich vernahm aus einem Gespräch, dass die neue Van Gogh Acryl Gold Edition II Gott unter den Farben war und dass die wahren Kunstschaffenden sich nur für diese Pigmente entscheiden sollten. Auch herrschte Einigkeit über die edle Qualität einer neuen Leinwand eines finnischen Herstellers, der in einem afrikanischen Dorf produzieren liess. Aber natürlich alles in bio, fairtrade und anthroposophisch.
Etwas beschämt packte ich meine Materialien und die alte verstaubte Staffelei von Louise aus. Das Ding liess sich nicht auf der richtigen Höhe fixieren und fiel immer wieder in sich zusammen. Zum Glück kam jemand vorbei, um zu helfen. Die Frau stellte die ganze Staffelei auf den Kopf, drehte an zwei, drei Schrauben und voilà. Irgendwie kam mir die Situation bekannt vor - einfach nur mit einem Notenständer.
Ich spürte jetzt einen Schaffensdrang - und dass ich irgendwie besser war, als die alle. Kunst. Pah! Ich würde etwas Grosses schaffen hier. Ich realisierte das ganz plötzlich. Im Angesicht meines Bildes werden eure Farbfetzen erblassen - und eure Künstlerseelen vor Neid. Voller Selbstbewusstsein und fast heiligem Staunen über das Bedeutsame, was nun durch meine Künstlerhand vollbracht werden würde, betrachtete ich die Leinwand. Sie wartete gespannt darauf, dass ich mit ihr in einen heiligen Dialog trat. Die Farbtuben lagen sorgfältig arrangiert auf dem Boden: Spachtel, Pinsel und Messer; orchestriert für das grosse Konzert der Farben und Formen. Nichts - so schien es - stand der sich ankündigenden kreativen Schaffensexplosion im Wege.
Es vergingen Minuten. Dort unten am See malte Louise. Schön und hochkonzentriert.
Das Weiss meiner Leinwand drängte sich mir mehr und mehr auf. Da näherte sich Lieselotte. Sie inszenierte sich als Kursleiterin, machte die Runde und ging gross gestikulierend auf Fragen ein. Hier und dort griff die Meisterin selber zum Pinsel. Sie forderte die Künstlerinnen auf, vom Bild Abstand zu nehmen oder eine Stelle mit der Hand abzudecken. Dankbar wurde ihr Fachrat entgegengenommen, manchmal wurde auch kritisch diskutiert, es fielen Worte wie objektiv, subjektiv, goldener Schnitt oder Kontrast, einmal sogar Fibonacci. Es gab auch Uneinigkeiten – ihr Rat wurde nicht immer ohne Gegenargumente angenommen - dennoch fanden diese Fachgespräche auf künstlerischer Augenhöhe statt. Ich beobachtete aus den Augenwinkeln, versuchte etwas zu erhaschen und auf die Schnelle dazuzulernen.
Jetzt war Liselotte bei Trudi, meiner Malnachbarin. Trudi wurde gelobt:
»Die Kollision zwischen dem Zinnoberrot und dem untröstlichen Gips - einfach wunderbar! Aber versuche, noch tiefer zu gehen.«
Gleich würde sie zu mir kommen. Die weisse Leinwand sehen. Ich sass immer noch hier, einfallslos. Verdammt dazu, ein Medium zu sein und dem Ungesagten seine bescheuerte Form zu geben. Doch still war es, in der anderen Welt. Viele Ideen, aber die konnte ich nicht malen, weil mir das nötige Können fehlte, geschweige denn der Mut, es einfach zu tun. Ich suchte krampfhaft nach Ideen, welche meinem Talent entsprachen. Mir kam die Idee, eine 3000 auf die Leinwand zu zeichnen, der Preis der Malwoche. Mir kamen ein paar Erinnerungen an die Schulzeit. »Ist das ein Teich mit einer Bank?«, hatte mich meine Mutter gefragt, als ich ihr eine Zeichnung schenkte, an welcher ich sicher drei Wochen gemalt hatte. »Nein, das ist Papa.«
Ich stellte mir die Leinwände der anderen vor, wie dort die Picassos von morgen am Entstehen waren. Ich dachte an Zahlen. Geldbeträge, welche ich während des Apéros im Zusammenhang mit Bildverkäufen gehört hatte.
»Oh!«
Liselottes Gesicht entgleiste, fand dann aber doch schnell wieder zurück zu einem Ausdruck der Professionalität, oder war es Mitleid? Jetzt kniff sie die Augen zusammen und liess ihre Brille auf die Nasenspitze gleiten, blickte, als gäbe es da auf der Leinwand etwas zu fokussieren, als wussten wir nicht beide, dass da nichts war ausser blankes Leinengewebe. Sie machte einen Schritt zurück und dann sagte sie:
»Interessant.«
Ich entgegnete:
»Ich habe noch nicht begonnen.«
Sie sagte:
»Davon gehe ich aus.«
Ich fühlte mich wie ein Dirigent, der vor zahlendem Publikum eine noch nie dagewesene Musik uraufführen soll. Vor mir das weisse Rechteck. Das reine, wahre Weiss der Leinwand, Symbol der künstlerischen Impotenz. Ich brach zu einem Streifzug durch den Garten auf. Ich nahm meine leere Farbpallette und wollte bei den anderen nach Farben fragen und dabei die Leinwände studieren. Vielleicht brachte mich das auf eine eigene Idee. Auf meinem Streifzug kam ich zuerst bei Trudi vorbei.
Sie malte schon seit einer halben Stunde leinwandfüllend gelb. Verirrte sich kurz in Orange, als ich mich neben sie stellte, und fand dann wieder zurück ins Gelb, als ich mich entfernte.
Als ich bei einer anderen Künstlerin vorbeikam, nahm diese gerade die Leinwand von der Staffelei, legte sie umgekehrt auf die Grasfläche und trampelte auf dem Bild herum.
Eine andere Künstlerin hatte die noch halbleere Rotweinflasche vom Apéro über die Leinwand gegossen und zog die Konturen jetzt mit Tusche nach.
Unten am See kämpfte eine Künstlerin mit Mondgesicht gegen die eintretende Ordnung auf dem Bild, indem sie mit geschlossenen Augen und ausladenden Pinselbewegungen Farbe auf die Leinwand klatschte. Sie war meine Zielperson.
»Entschuldigung.«
Der Mond öffnete seine Augen und betrachtete mich verstört, als wäre mein Gesicht ein Bild, welches dringend überarbeitet werden musste.
»Hast du mir vielleicht etwas von deinem Zinnober? Wir können auch Farben tauschen.«
Sie dachte nach.
»Ich an deiner Stelle würde mich für ein anderes Rot entscheiden.«
Sie studierte mich und stellte fest:
»Wenn ich dich so betrachte, bist du eher der Erdfarben-Typ. Warte mal ...«
Sie begann in ihren Kisten nach etwas zu suchen. Sie fand. Drückte mir eine Dose mit einer braunen Masse in die Hand und schaute mich dabei tief an, als hätte sie mir gerade ein Unsterblichkeits-Elixier überreicht. Etwas war seltsam. Meine Hände hielten nicht nur die Dose, sondern auch noch ihre Hände, die sie mir zusammen mit der Büchse hingehalten hatte. Jetzt sprach sie eindringlich auf mich ein, aber ich konnte nur an ihre schwitzigen Hände denken. Während sie mir erklärte, dass die Paste mit Hühnerei oder Kohle vermischt werden konnte, um Effekte zu erzeugen, hielten wir immer noch beide die Dose fest. Das Ganze wurde mir zu blöd. Gib mir jetzt das Zeugs oder lass es sein! Ich beschloss, meine Hände zurückzuziehen. Und das just in dem Moment, als sie mir die Kostbarkeit endlich übergeben wollte und losliess.
Die Dose fiel zu Boden. Der Deckel sprang auf und der Inhalt, eine erdfarbene Spachtelmasse, suchte sich wie eine Schlammlawine den Weg ins Freie.
»Oh nein!«
Der Mond verwarf die Hände.
Ich nutzte die Gunst der Stunde.
»Nichts anfassen! Ich hole schnell meine Leinwand!«
Ich rannte geistesgegenwärtig zu meiner Malstation und holte das weisse Rechteck. Der Mond hatte verstanden. Sie hatte bereits kleine Spachtel hervorgesucht und streckte sie mir assistierend hin, als ich mit meiner Leinwand zurückkam. Ich legte sie neben die Unfallstelle und begann, die braune Masse samt Grashalmen auf meine Leinwand zu klatschen. Mit vollendenden Bewegungen strich ich das Braun in sich widersprechende Richtungen. Mal ausholend, mal fragend. Das Ganze erinnerte an beschmiertes Klopapier, aber jetzt einfach nicht den Mut verlieren und weitermachen.
Bei den anderen Malstationen ruhten die Pinsel. Ich spürte den Blick von Louise im Rücken.
Liselotte kam dazu und rief verzückt:
»Blau! Jetzt Blau!«
Der Mond streckte mir eine Tube Ozeanblau hin. Ich griff nach einem Farbroller und rollte blau. Der Ozean vermischte sich sakral mit der Scheisse.
»Mehr Zufall. Nicht denken. Vertiefen. Transformieren und im Atem bleiben«, meinte Liselotte
Ich folgte den Anweisungen.
Zum Schluss kratzte ich mit den Fingernägeln einmal quer von oben links nach unten rechts und legte damit wieder das jungfräuliche Weiss der Leinwand frei. Die Farbreste, die jetzt noch an meinen Fingern klebten, klatschte ich wie ein Gott beim Erschaffen der Erde in die noch fast weisse obere rechte Hälfte der Leinwand.
»Jetzt nur noch Nuancen!«, warf Liselotte ein. »Vertiefen«
Der kreative Tornado legte sich. Und ich konnte noch nicht ganz fassen, was gerade passiert war. Als hätte sich das Bild ganz von selbst gemalt, lag es da im Gras und schaute mich an. Ich schaute erstaunt zurück, unsicher, was ich von dieser Erscheinung halten sollte.
Jeder Künstler widerspiegle sich in seinem Werk, hatte Louise einmal gesagt. Und nicht immer sei schön, was man in diesem Spiegel sah. Ich betrachtete mein Werk. War das ich?
Ich fragte nach einem Haushaltspapier, putzte den Rand der noch halbvollen Dose, verschloss sie und gab sie mit einem Wort des Dankes zurück. Mit brechender Stimme stellte der Mond sich vor:
»Marianne.«
Sie streckte mir ihre Hand hin.
Ich war froh, dass meine Leinwand endlich nicht mehr weiss war. Ich war stolz auf das, was ich getan hatte. Auf jeden Fall gehörte ich jetzt dazu. Als ich am Abend versuchte einzuschlafen, ging mir eine Frage nicht mehr aus dem Kopf: Wie sollte ich mein Bild nennen?
»Wir können aufbrechen. Ich sehe es ein.«
Das sagte Louise am nächsten Morgen.
»Nächste Woche kann ich bei Coop anfangen. An der Kasse. Es tut mir leid, dass ich so verbissen war.« In einem ersten Impuls wollte ich ihr ausreden, alles hinzuschmeissen. Da wurde sie fuchsteufelswütend und verlangte, sie endlich einmal ernst zu nehmen, ich sei derjenige, der ihr diese Deadline gesetzt hatte, jetzt solle ich mich gefälligst selbst auch daran halten. Ich entschuldigte mich.
Ich schlug vor, noch bis Ende Woche zu bleiben. Ich hatte mir Ferien genommen. Und das Essen, das im Preis inbegriffen war, war ausserordentlich gut. Und zugegeben, das Malen machte mir Spass.
Louise malte nicht mehr. In einer dramatischen Szene schleuderte sie kurz nach unserem Gespräch ihre Leinwände auf den See hinaus. Danach knickte sie weinend ein. Ein paar Künstlerinnen eilten zu ihr hin. Auf dem Wasser trieben farbige Rechtecke.
Es schmerzte mir im Herzen, Louise so zu sehen, gleichzeitig war ich von dieser dramatischen Szene zutiefst fasziniert: Die Frauengruppe, die um die niedergesunkene Louise stand, tröstend auf sie einredend, die Leinwände auf dem See treibend. Ich beschloss, diese Szene zu malen.
Gegen Abend ging ich an den See runter. Dort lagen Louises angeschwemmte Bilder am Ufer. Ich sammelte sie auf und brachte sie zu meiner Staffelei. Aus jedem Bild schnitt ich mit einer Klinge ein Viereck aus. Die Stücke klebte ich zu einer grossen Collage zusammen und malte danach den See dazu und die Szene mit den tröstenden Frauen. Abstrakt natürlich.
Nach ihrem Zusammenbruch war Louise wie verwandelt. Sie brachte mir ihre Malutensilien und stellte sie zur meiner Staffelei. Sie war wiederhergestellt. Auf ihrem Gesicht lag wieder dieser schelmische Ausdruck, in den ich mich vor langer Zeit auf der Stelle verliebt hatte.
Die Woche verging und ich malte die Szene mit den Leinwänden auf dem Wasser. Louise spielte Tennis mit Pat.
Am letzten Tag hörte man plötzlich ein tiefes Brummen. Es kam von der Allee her und war entweder ein Panzer oder ein teures Auto.
»Das ist sie! Das muss Helena sein!«
Die Künstlerinnen begannen zu murmeln und plötzlich legte sich eine grosse Nervosität über die Gruppe der Malenden. Ein Sportwagen fuhr vor. Einen Moment lang geschah nichts. Die Kursteilnehmerinnen schauten alle wie gebannt zum Auto, das oben auf der Anhöhe stand.
Dann öffnete sich die Fahrertür: Eine gebrechliche Lady entstieg mühsam dem Fahrzeug.
«Helena», flüsterte Trudi und liess ihren Pinsel fallen.
Fast wie eine Ausserirdische sah sie aus, die mit einem Ufo gekommen und nicht an die vorherrschenden Lebensbedingungen angepasst war. Helft doch der armen Frau, dachte ich. Sie stützte sich auf einen Gehstock und machte ein paar wacklige Schritte. Liselotte ging ehrerbietend auf die alte Dame zu und schwatzte auf sie ein. Einige der Künstlerinnen winkten ihr zu wie einem Papst. Jetzt stand sie oben bei der Wiese, von wo sie uns im Blickfeld hatte.
Die Lady räusperte sich und sprach mit einer Stimme, ach was sag ich Stimme, es war reine Autorität:
»Malt nur weiter, ihr Lieben.«
Die Künstlerinnen nahmen wieder brav ihre Pinsel und auch ich widmete mich der Finalisierung von meinem Bild, welchem ich den Namen »8 Leinwände auf Wasser« gegeben hatte.
»Dieses Bild will ich haben, junger Mann.«
Die Stimme war jetzt ganz nah. Die Lady zeigte mit ihrem Stock auf die Leinwand.
»Es ist wunderschön. Es erinnert mich an meine Kindheit hier am See.«
»Das Bild heisst 8 Leinwände auf Wasser«, sagte ich ernst.
Sie fragte mich, ob das Bild zum Verkauf stehe. Ich entgegnete, dass es noch nicht vollendet sei, aber dass wir und durchaus vorstellen könnten, es zu verkaufen.
»Wir?«
Ich fügte hinzu, dass das Bild genau genommen nicht mein eigenes Werk sei, es sei vielmehr die Arbeit einer anderen Künstlerin. Ich sei lediglich Assistent und nur noch am Vertiefen der Farben.
Helenas Blick fiel auf das Schlachtfeld der Leinwände mit den viereckigen Einschnitten, die am Boden ungeordnet übereinander lagen. Aus jeder einzelnen hatte ich die jeweils schönste Stelle herausgeschnitten und verwendet.
»In der Verschwendung liegt die Schönheit«, sagte die Lady und war sichtlich bewegt über die Opferung der 8 Kunstwerke, um daraus ein Einziges herzustellen.
»Wo ist die Frau, die das gemalt hat?«
Ich wies auf die Tennisplätze.
»Sagen sie ihr, dass ich an dem Bild interessiert bin, bitte.«
Ich erkundigte mich, wie viel auszugeben sie für das Gemälde bereit wäre, denn das Bild hätte schon seinen Preis.
Bei der Summe, die ich hörte, wurde mir schwindelig.
Louises Hand lag auf meiner und meine auf dem Schaltknüppel unseres Fiat Panda, als wir am nächsten Morgen zurück in die Stadt fuhren. Wir hatten es beide in uns: Das Gefühl von Anfang und Aufbruch. Und ich hatte gedacht, dies wäre das Ende.