Die Last
Zu einem bestimmten Zeitpunkt traf der Fragensteller auf eine Gestalt, die offensichtlich sehr angespannt war. Wie von einem unermesslich großen Gewicht wurde diese Person niedergedrückt. So verharrte sie in dieser Stellung, mal war dessen Wirkung größer, mal kleiner, doch die Person verharrte, ohne sich großartig zu bewegen. Nur manchmal regte sie sich, auf sehr bedächtige, aber ungehindert fließende Weise. Und sie war anscheinend nicht gewillt, ihre Belastung abzulegen.
Und der Fragensteller fragte den Belasteten "Warum erträgst du diesen gewaltigen Druck?" Der Belastete antwortete ihm: "Weil er da ist. Ich halte durch, weil ich muss und es keine andere Möglichkeit gibt. Sieh hin, ich schütze damit das, was sich unter mir und der Last befindet. Wenn ich nicht wäre, so würde das alles zerquetscht." Da erkannte der Fragensteller das, was sich unter der Gestalt befand. Sehen war nicht gerade seine Stärke, aber nur wer bis zu einem gewissen Grad erkennen kann, ist auch in der Lage, Fragen zu stellen und so war der Fragensteller fähig, zu erahnen, was sich dort befand. Es war...ja was war es eigentlich? Es war beeindruckend, es glänzte in seiner Schönheit, aber es war keineswegs oberflächlich schön, sondern erfüllte seinen Betrachter umso länger er es ansah mit Faszination. Das faszinierende daran, sagen wir, es war eine Art Blume, war unter anderem auch ihre Position. Der unbeschreibliche Druck, den die Gestalt darüber für sie ertrug, machte sie erst so richtig schön und verlieh ihrer eigentlich schlichten Schönheit etwas ganz besonderes.
Der Fragensteller war beeindruckt und fragte weiter:"Woher kommt deine Last?" Der Belastete erwiderte: "Es sind die Kräfte unserer Welt. Sie tun was Kräfte immer tun: sie wirken. Deshalb braucht es einen Vermittler zwischen ihrem Wirken und der Welt. Denn sie gehen sehr oft den einfachsten, kürzesten Weg. Und wenn sie einen längeren Weg nehmen, so kostet dies einen Preis und diesen zahle ich, indem ich durchhalte. Du musst verstehen, der längere Weg ist oft der bessere. Und um dafür zu sorgen, dass alles den richtigen Weg geht braucht es einen Vermittler, der das Drängen, den Druck dieser Macht aushält, wo sie nicht wirken darf oder aber bis sie den rechten Weg einschlagen kann. Diese Macht schläft und wirkt in allem. Das Leben ist lediglich ihre komplexeste Verkörperung. Weißt du, Fragensteller, alles entsteht und existiert aus dieser Kraft heraus."
Mit einer Handbewegung lenkte er die Aufmerksamkeit wieder auf das, was zu seinen Füßen war.
"Aber das, was hier unter mir entsteht, nun, es entsteht allein deshalb weil ich die Macht in mir zügle und sie nur sehr limitiert fließen lasse. Deshalb ist es auch so viel schöner als alles andere. Du musst wissen, nichts kommt dessen Schönheit gleich, deshalb habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, die Kontrolle zu bewahren, um diese Existenz zu ermöglichen."
Der Fragensteller war beeindruckt von dieser Ansprache. Offensichtlich besaß sein Gegenüber unglaubliche Disziplin. Er selbst musste sich nie derartig kontrollieren. Anscheinend konnte nichts daran falsch sein, Fragen zu stellen. "Woher weißt du überhaupt, was das Richtige ist?" sprach er und musterte die gebeugte Figur noch genauer.
Diese entgegnete: "Eine schwierige Frage, selbst für einen wie dich, Fragensteller. Es gibt in dieser Welt Dinge, die höher stehen als andere. Gemeinhin handelt es sich dabei um lebendige Wesen. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass es eine Abstufung zwischen unbelebter Materie und dem, was lebt, gibt. Dabei spielt der Mensch in dieser Welt eine zentrale Rolle, weil seine Existenz durch sein Bewusstsein sogar noch höher steht. Alles was den Lebewesen hilft und deren Dasein erfüllt, ohne ihrer Umwelt oder seiner eigenen Art fundamental oder auch langfristig Schaden zuzufügen, ist gut und damit richtig. Dabei spielt Symbiose eine wichtige Rolle, weil sie die ideale, weil harmonievolle Form des Miteinanders darstellt. Leider findet sie oft nicht statt, weil die Urkräfte in ihrem Drängen so stark sind, dass der schnellste Weg gewählt wird, und der bedeutet oftmals Disharmonie oder sogar Zerstörung. Die Bedürfnisse der Lebewesen können dazu führen, dass unter Umständen ihrer Umwelt langfristig Schaden zufügt wird, was eine Verschlechterung der Situation bis hin zur völligen Vernichtung bedeuten kann. Außer mir gibt es nichts, was das völlige Chaos und desaströse Missverhältnisse eindämmt."
Der Fragensteller war davon sehr betroffen und fragte weiter: "So bist du denn ganz allein?"
Auf einmal machte der Angesprochene einen kümmerlichen Eindruck auf den Fragensteller, als er antwortete: "Ich weiß es nicht. Ich hab diese Bürde, die ich trage, nie abgelegt und ich habe weit und breit nie jemanden gesehen, der etwas trägt, so wie ich es tue."
"Bist du dann nicht unglücklich? Solltest du denn nicht deine Last aufgeben und selber glücklich werden?" bohrte er weiter nach.
Doch der Angesprochene schenkte dem Fragensteller ein optimistisches Lächeln: "Aber ich bin glücklich. Ich habe unter mir alles, was ich mir je wünschen könnte. Außerdem ist es spannend, denn es könnte jederzeit vorbei sein, da der Druck nie der gleiche ist, ich muss mir immer etwas Neues einfallen lassen, was mich in die Lage versetzt, der Last standzuhalten. Ich muss zugeben, manchmal wünschte ich, ich könnte einfach gehen. Etwas anderes finden, was mich auch glücklich macht und was nicht nur da ist, weil ich mich quäle. Aber es geht nicht. Mag die Last auch groß sein, meine Pflicht ist noch größer."
Der Fragensteller war nicht überzeugt: "Du stehst hier, ganz alleine, nur mit diesem...Gewächs unter dir und bist du sogar der einzige, der so denkt und weiß, was du weißt. Ist das ein schönes Leben? Du kannst nie die Welt bereisen und alles was du an Abwechslung erfährst, ist die Art und Weise deiner Last."
Grimmig antwortete dieser: "Sag du es mir, Fragensteller. Du bist doch viel herumgekommen, du hast die anderen gesehen, also antworte mir: hast du jemals einen getroffen, mit so einer heiligen Aufgabe wie ich? Hast du je einen gesehen, der so unvergleichliche Schönheit jederzeit zu seiner Verfügung hat, wie du sie unter mir findest? Hast du je gehört, dass jemand in der Lage ist, etwas so sinnvolles zu tun? Liegt also in all der Freiheit der anderen nicht eine Leere, ein Unwissen und ein Mangel an Sinn?"
Da wurde der Fragensteller nachdenklich. Er selbst hatte tatsächlich nie etwas Vergleichbares gesehen, aber dennoch hatte er auch noch nie jemand gefunden, der unglücklich war, weil er nicht das hatte, was dem Bürdenträger offensichtlich zu Eigen war.
Dadurch fühlte sich der Belastete offensichtlich bestätigt, denn er fügte hinzu: "Ich tue dies ja nicht nur für mich allein. Das, was ich hier vollbringe, geschieht um der Welt selbst willen. Das erst ist die Vorbedingung für eine Harmonie, die wahrlich allen nützt. Nur bin ich allein und meine Kraft ist begrenzt, daher ist die Reichweite meiner Tat nicht groß genug, um zu genügen."
Der Fragensteller war ergriffen, denn ihm dämmerte so langsam die ganze Tragweite des bis jetzt gesprochenen. Ehrlich motiviert fragte er: "Kann ich dir vielleicht helfen?"Aber der andere entgegnete: "Nein. Du bist nur der Fragensteller. Du stellst Fragen, das ist dein ganzer Sinn und Zweck. Dies ist alles, was du tun sollst und alles, was du tun kannst."
Er ächzte unter der Last, die wieder schwerer zu werden schien, dabei verzog er das Gesicht, wahrscheinlich biss er die Zähne zusammen. Dann, offensichtlich geplagt, stieß er hervor: "Aber...diese...Aufgabe...war wohl doch...zu viel für einen allein...du und ich, ...wir sind beschränkt...du in deinem Konzept...und ich... in meiner... Kraft. Man müsste...“. Er bebte am ganzen Leib, dann bäumte er sich auf, stieß einen berserkerhaften Schrei aus und begrub alles was unter ihm gewesen war, als er schließlich zusammenbrach.