Die langen Zeiten
Stell dir vor
Die Sonne würde nie unter gehen.
Es wäre immer nur Tag.
24 Stunden. 7 Tage die Woche. 365 tage im Jahr. Jahr für Jahr
Würden wir das Licht genießen und uns in seinem Glanze sonnen?
Würden wir uns nur beschweren, dass es zu hell ist?
Würden wir mehr von unserer Zeit draußen verbringen?
Bedenkend, dass wir Sonne doch mit Freude, Sommer, Freizeit gleichsetzen.
Stell dir vor es wäre nie Sonne.
Immer nur elendiges Dunkel.
Tag um Tag. Woche um Woche. Jahr um Jahr.
Würden wir immer noch die Sterne betrachten und uns fragen, was dort oben wohl ist?
Würden wir uns nur beschweren, dass wir nichts sehen?
Würden wir mehr von unserer Zeit drinnen verbringen?
Bedenkend, dass wir doch die Grillen hören. Wie sie zirpen. Immer wieder zirpen.
Wir verstecken uns so oft hinter: "Ach heute Abend" und "Ach das mach ich Morgen".
Doch was wäre, wenn es ein einziges, langes Etwas wäre.
Ohne klares Licht und ohne bedrohliches Dunkel.
Würden wir das Leben noch genießen oder uns nur wünschen, dass es endlich endet?
Was wäre, wenn alles eben wäre? Alles eins wäre.
Eine lange Nacht. Ein langer Tag. Eine lange Nacht. Ein langer Tag.
Stetig im Einklang und Wechsel.
Wie die Jahreszeiten auf dem Kalender.
Frühling, Sommer, Herbst und Winter.
Nur statt Wetteraussichten, gibt es Schatten und Licht.
Die neuen "Jahreszeiten".
Nur 182 Tage im Jahr: Licht
Einen Tag für den Übergang.
Bedrohliche Wolkenfronten, die die lange Nacht einleiten, lösen zwitschernde Vogelschwaden ab.
Nur 182 Tage im Jahr: Dunkel.
Würden wir immer noch sagen: "Nächsten Sommer fang ich wirklich an zu Leben." und "Diesen Winter werde ich nur mit Serien und Schokolade verbringen."
Wenn wir von Plänen reden, die wir doch eh nicht realisieren werden.
Wenn wir mit Plänen die wir verwirklichen unsere mehr als kostbare Zeit verschwenden.
Das ist unsere Lebensphilosophie: Das -in Zukunft-. Nicht das -hier und jetzt-.
Mit Plänen, die wir in die ferne setzten, damit wir sie nicht jetzt erfüllen müssen.
Weil wir Angst haben.
Angst was passiert wenn wir unter dem Sternenlicht tanzen.
Wir könnten ja glücklich sein.
Angst was passiert bei Tageslicht zu ruhen.
Wir könnten ja zufrieden sein.
Angst sich nicht am Montag auf Freitag zu freuen, sondern tatsächlich heute Leben.
Wir könnten ja enttäuscht werden.
Das alles machen wir trotzdem.
In einer Welt in der das Leben anders wäre, als es im Moment ist.
Und jetzt stelle dir vor, das passiert schneller.
Unabhängig von der Jahreszeit, die dir dein Wetterdienst verspricht.
Vier Monate tiefste, den Körper und Geist zerstörende, zu Wahnvorstellungen führende Dunkelheit.
Gefolgt von einer Woche in der sich die Helligkeit justiert.
Die Wolken verziehen sich langsam und du hörst nur noch deine eigene Stimme und nicht mehr die der Anderen.
Jetzt kommt endlich das Licht.
Es bleibt nur kurz, aber intensiv.
Die Zeit in der du die Wolken umarmen könntest und nächtelang auf Tischen tanzt.
Und das im Wechsel.
Immer und Immer wieder.
Episode für Episode.
Jahr für Jahr.
Und die hellen Zeiten - werden immer heller.
Und die dunkelen Zeiten - werden immer dunkler.
Stell dir das vor und du hast mich.
Ich starre an die Wand.
Bereits seit 10 Minuten sitze ich im wohl kleinsten Wartezimmer der Welt: Ein Stuhl.
Obwohl sie sagte: "Einen kurzen Moment".
Was werde ich heute sagen?
Werde ich ihr wieder nur meine Pläne für den Sommer erzählen oder auch von meiner Angst vor der Finsterniss?
Ich höre meinen Namen.
Ihre Stimme. Ihre ruhige, freundlich und unfassbar jung klingende Stimme.
Ich löse meinen Blick von dem Bild vom Sonnenuntergang oder vielleicht doch Sonnenaufgang, an der Wand.
Nehme mein Handy und meine Handtasche.
Das Blutbild nicht vergessen.
Ich stehe auf und mein Blick richtet sich auf die weiße, karge Tür in dieser sonst so schön dekorierten Einrichtung.
Ich öffne die viel zu laut knarrende Tür, trete durch den Bogen und beschließe: "Der Sommer".