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- 31.08.2008
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Die Lüneburger Heide darf nicht sterben!
I.
„Mami! Papi!“ Jürgen lief aufgeregt in das Haus. „Mami! Ein Flugzeug ist gelandet, mitten auf unserer Wiese! Komm schnell und guck!“ Marie wusch gerade Geschirr ab und sah sich ungläubig zu ihrem Kleinsten um. „Ja, wirklich Mami! Wo ist Papi? Er muß auch kommen!“ Jürgen stürmte wieder aus dem Haus, in Richtung Garten. Die Frau trocknete sich die Hände ab und ging hinterher. Jürgen bearbeitete Johann, seinen Vater, zerrte an seinem Ärmel. Die Eltern sahen sich an. Schließlich gaben sie nach und folgten Jürgen zur Wiese. Dort waren schon viele Nachbarn versammelt und bestaunten ein rehbraun lackiertes kleines Flugzeug. Der Pilot war ein Afrikaner, der mit einem Eichhörnchen auf der Schulter stolz vor seiner Maschine stand. Ständig spielte er mit dem possierlichen Tier und lächelte dabei. Der Kopilot verankerte die Maschine mit Seilen, offensichtlich rechnete er damit, daß Wind aufkommt. Er war wesentlich jünger als der Pilot und sah aus, als könne er sein Sohn sein. Schließlich fand er sich bei dem Älteren ein. Die Leute begannen zu fragen und erfuhren, daß die beiden aus Südafrika gekommen seien, es handele sich um Professor Kemzirg und seinen Sohn Ekim. Die beiden seien hier, um die Tierwelt zu beobachten und zu zählen. Auch wollten sie die Wanderungsbewegungen der Wildschweine, Rehe und Hasen erfassen um festzustellen, ob das Naturschutzgebiet die richtigen Abmessungen habe oder erweitert werden müsse. Jürgens Vater wurde mürrisch: „Was wollen Sie hier? Dies ist unser Land, wir entscheiden hier.“
„Nein“, sagte der ältere Schwarze im Brustton der Überzeugung. „Die Tierwelt der Lüneburger Heide gehört der gesamten Menschheit. Diese ursprüngliche Landschaft soll erhalten bleiben, wie Gott sie schuf. Wir sorgen dafür, daß dieser Schatz bewahrt wird und die Tiere nicht ausgerottet werden. Die primitive eingeborene Bevölkerung Nordeuropas versteht sich ja nicht auf nachhaltiges Jagen, sie denkt nicht an morgen. Sie halten sich für ein auserwähltes Volk, deshalb lehnen Sie es ab, afrikanische Kleidung zu tragen. Wenn wir sie so weitermachen lassen, wird hier morgen alles tot sein. Die Jagd wird ab sofort verboten. Wer in Zukunft noch jagt, ist ein Wilderer und wird bestraft. Ich fordere sie auf, bis heute Abend die Jagdwaffen abzugeben.“
„Einen Teufel werde ich…“ zischte Johann und wandte sich ab.
Professor Kemzirg fuhr fort: „Wir arbeiten im Auftrag der Wakinga Weapon Fire, einer Stiftung, die sich dem weltweiten Naturschutz verschrieben hat. Ihre Initiatoren sind zwei Fürsten, Fürst Montbat aus Kenia und Fürst Orani aus Sambia. Beide sind international berühmte Großwildjäger.“- Er kündigte den baldigen Besuch dieser Herrschaften an und forderte die Dorfbewohner auf, die hohen Gäste würdig zu empfangen.
II.
„Einen Teufel werde ich tun…“ Johann war außer sich. „Wo kommen die her? Wer sind die überhaupt? Was maßen die sich an … ich werde doch wohl meine Fasane schießen dürfen…“
„Ruhig, Johann“, beschwor ihn Marie. „Sei vorsichtig. Die Schwarzen sind sehr mächtig. Es hat keinen Sinn, sich zu wehren.“ Der Mann sah ein, daß es gefährlich geworden war. Er ging an seinen Waffenschrank und nahm alle Gewehre bis auf eines heraus, um sie im Schuppen im Heu zu verstecken.
In der Nacht bollerte es an der Haustür. Vater und Mutter schreckten im Bett hoch. Der Vater sah durch den Vorhang; mehrere Schwarze standen vor dem Haus. Er öffnete nicht, sondern ging leise zur Hintertür. Auch dort waren Schwarze; das Gebäude war umstellt. Schließlich wurde die Eingangstür eingetreten. „Waffen her, sofort!“, bellte eine Stimme. Etwa zwanzig Schwarze in Uniformen, mit Maschinengewehren und Patronengürteln über den Schultern, stürmten in das Haus. Vater und Mutter mußten sich vor die Wand stellen und ihre Hände wurden mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt. Ein Schwarzer kam mit dem Jagdgewehr aus dem Waffenschrank in die Diele.
„Wo sind die anderen?“, schrie der Anführer und hieb Johann mit dem Gewehrkolben in die Rippen. Johann mußte das Versteck im Heu verraten. Die Leute nahmen die Gewehre, lösten Johann und Marie die Handschellen und zogen wieder ab. Am nächsten Morgen schichteten die Schwarzen alle beschlagnahmten Waffen auf dem Dorfplatz auf und zündeten sie an; später warfen sie die ausgeglühten Reste in den Brunnen und zogen wieder ab.
III.
Es war eine festlich gedeckte lange Tafel, mitten in der blühenden Heide. Professor Kemzirg hatte die Dorfbewohner aufgefordert, bei der Errichtung des Banketts zu helfen. Einige hatten sich bereitgefunden, weil es gut bezahlt wurde. Es gab afrikanisches Obst und Salate, Flamingo und Antilopenbraten, erlesene Weine und Champagner wurden serviert. Die Schwarzen standen bewaffnet um den Platz herum; einige Dorfbewohner beobachteten das Geschehen aus sicherem Abstand.
Ein durchdringendes Vibrieren der Luft kündigte die Ankunft der Fürsten an. Zwei Hubschrauber erschienen, kamen schnell näher und landeten unmittelbar neben der Festtafel. Aus jedem der Hubschrauber stieg ein Fürst samt Leibwächtern aus. Fürst Orani war ein dicker, alter Mann mit grauen Haaren und einem breiten Grinsen. Fürst Montbat war hager und gab sich betont aristokratisch. „Eßt nicht soviel von dem Junk Food der Europäer, sonst bekommt ihr auch so schmale Lippen wie sie“, empfing er die schwarzen Naturschützer.
Die Fürsten gingen ohne protokollarische Verzögerung zur Tafel und griffen zu den Speisen. Die Diener schenkten den Champagner in die Gläser. Fürst Orani hob das Glas: „Auf unseren Freund, den Professor!“, rief er und lachte breit. Professor Kemzirg verbeugte sich ehrfürchtig und streichelte das Eichhörnchen auf seiner Schulter. „Es ist wunderbar, was Sie hier geleistet haben! Mit Ihrer Hilfe werden wir den Naturpark ausweiten. Es ist ein großer Erfolg für die Wakinga Weapon Fire!“
„Und jetzt wollen wir den Erfolg sehen“, ergänzte Fürst Montbat und klatschte in die Hände. Einer der Diener nahm ein Funkgerät und sprach in Befehlston hinein. Andere Diener brachten den Fürsten ihre Jagdgewehre. Die Fürsten spannten sie und legten probeweise an. Kurz darauf hörte man lautes Getrampel im Gebüsch, einige Treiber jagten mit lautem Geschrei einen Hirsch auf die Heide, den sie vorher in einem anderen Naturpark eingefangen und hierher transportiert hatten. Mit ihren Hunden verstanden sie es, ihn bis auf wenige Meter an die Tafel heranzutreiben. Fürst Montbat legte an und brachte das Tier zur Strecke. Zufrieden stellte er die Waffe an die Tafel. Wieder hörte man Schreien im Busch, und wieder tauchten Schwarze aus dem Gebüsch auf, diesmal trieben sie einen Eber vor sich her. Fürst Orani legte an und erlegte das Wildschwein aus einer Distanz von zwanzig Metern. Er strahlte Fürst Montbat an. „Die Jagd ist doch immer wieder das schönste Naturerlebnis“, meinte er und ergriff das Sektglas.
IV.
Nach Jahren war Professor Kemzirg in seiner Heimat ein berühmter Mann geworden, der wöchentlich im Fernsehen auftrat, über den Naturschutz in Europa berichtete und für Spenden warb. Immer hatte er europäische Tiere dabei, die er wie Streicheltiere vorführte. Die Wakinga Weapon Fire war dank der Spenden aus Südafrika mächtig geworden und kontrollierte überall in der Welt Nationalparke. Der Nationalpark Lüneburger Heide war nach den Untersuchungen des Professors ausgeweitet worden und reichte nun von Zeven bis Lüneburg. Aus seinem Zentrum waren die Ortschaften verschwunden, die Orte Wesel, Undeloh und Wilsede waren von Bulldozern planiert und die Einwohner vertrieben worden. Sie siedelten in Zelten am Stadtrand von Lüneburg. Den Nationalpark durften nur noch die Ranger und Touristen aus Afrika betreten. Niemand aus der Bevölkerung durfte noch jagen; das Jagdrecht hielt jetzt ausschließlich die Wakinga Weapon Fire. Sie hatte mit der Wildschweinjagd begonnen und in kurzer Zeit den Bestand dezimiert. Als offizielle Begründung hatte die Stiftung verlauten lassen, die Eberjagd sei notwendig, da Afrikaner gerne Notebooks mit Tasten aus echten Wildschweinhauern benutzten und durch den Erlös ja auch der weltweite Naturschutz gefördert würde.
Johann und Marie bewohnten ein Haus an der Nationalparkgrenze. Sie hatten sich mit den Veränderungen abgefunden, nur Johann schimpfte gelegentlich auf die Schwarzen und ihre Macht. „Es ist unser Land!“, pflegte er dann zu sagen. Jürgen arbeitet in der nahen Stadt Lüneburg in einer Autowaschanlage. Es war eine veränderte Welt, als er nun, zwanzig Jahre nach der ersten Landung des afrikanischen Professors, seine Eltern über Ostern besuchte.
V.
„Frohe Ostern!“, rief Jürgen und umarmte erst seine Mutter, dann seinen Vater. Er übergab einen Strauß mit Frühlingsblumen und eine Packung Ostereier. Sie gingen ins Haus. Der Frühstückstisch war noch gedeckt, sodaß sie sich alle daran setzten und Jürgen ein zweites Mal frühstückte. Schnell waren die wichtigsten Dinge ausgetauscht über die Arbeit in Lüneburg, Jürgens Freundin und die Nachbarn der Eltern. Johann kam schnell auf das Thema, bei dem sich seine Gedanken immer nur im Kreise drehten: der Nationalpark. „Es ist unser Land!“, sagte er immer wieder. „Nicht nur, daß ich keine Fasanen mehr schießen darf, sie verbieten uns, überhaupt dort zu wandern, überhaupt dort zu sein!“ Er schüttelte immer wieder seinen grau gewordenen Kopf.
„Du hast von den Hubschraubern gehört?“, erkundigte sich Marie bei Jürgen.
Jürgen nickte: „Ja, ich weiß. Die Wakinga Weapon Fire hat mit Spendengeldern aus Südafrika zwei Hubschrauber gekauft und kontrolliert damit den Nationalpark. Ich habe davon gehört.“
„Sie überwachen das ganze Land. Ständig fliegen sie hier herum. Immer das Gedröhne. Nur die Touristenhorden aus Afrika dürfen hier überall hin. Sie haben gedroht, zu schießen, wenn sich noch einer im Nationalpark aufhält."
„Ja, ich habe davon gelesen. Glaubst du daran?“
„Zuzutrauen wäre es ihnen.“
„Denen zeigen wir’s!“, tobte Johann. „Ich rufe die Freunde vom Kegelclub an. Wir machen einen Osterspaziergang, wie in alten Zeiten.“ Schon war er aufgestanden und wählte. „Ja, Osterspaziergang. Kommt Ihr mit? Schön. Rufst Du Wilhelm und Otto an?“ So schnell konnten Marie und Jürgen gar nicht reagieren; da lief die Vorbereitung schon. Also machten sie ihre Kleidung zum Ausgang fein, frisierten sich vor dem Spiegel, Johann warf seine hellgrüne Weste über und sein dunkelgrünes Jackett, dazu seinen schwarzen Zylinder, Marie trug ein dunkelrotes Kleid, setzte ihren Hut mit der breiten Krempe auf und nahm dazu einen Sonnenschirm. So spazierten sie in die Heide, wo die Nachbarn und Freunde sich ihnen anschlossen. Die Sonne strahlte durch die klare Frühlingsluft, die Vögel zwitscherten und die Gruppe genoß den Aufenthalt im Freien. Sie gingen wieder die alten Wege, Wege, die sie immer gegangen waren wie vor ihnen ihre Eltern und Großeltern. Es war warm, und Johann setzte den Zylinder ab, um ihn zur Belustigung der Kinder auf seinen umgedrehten Spazierstock zu stecken und kreisen zu lassen. Marie hörte es als erste: in der Ferne war ein dumpfes gleichmäßiges Vibrieren zu hören. Schnell kamen die Hubschrauber näher, schon konnte man die Schwarzen erkennen, die aus den geöffneten Luken herausschauten und ihre Maschinengewehre in Anschlag brachten. „Geht in Deckung! Sofort, alle in Deckung!“, schrie Jürgen und rannte zu einem Baum, der in der Nähe stand. Die anderen hörten ihn kaum, und niemand begriff, was hier drohte. Es waren nur ein paar kurze Salven, und die gesamte Gruppe Osterspaziergänger war zu Boden gestreckt und wand sich in ihrem Blut. Jürgen erstarrte in seinem schattigen Versteck und die Hubschrauber zogen ab. Lange Zeit vermochte er sich nicht zu rühren. Dann hörte er Motorengeräusch. Landrover. Jürgen wagte sich aus dem Versteck und begann zu laufen, er lief um sein Leben, stundenlang, bis er die Sicherheit der Wellblechhütten Lüneburgs erreichte.