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Die Lücke
Von einem Tag an war die Lücke. Sie war im Anfang vermutlich so winzig, sogar verschwindend gering, dass Becker sie nicht sah, als sie sich bei ihm einnistete. Sie hätte ein kleines Loch in der Wand, Staub unterm Bett sein können, sie kam, ohne dass er sie bemerkte.
Dafür begann er sie bald schon zu spüren, wie ein Kneifen, ein Kribbeln nur im Nacken, das einen auch überkommt, wenn man sich beobachtet fühlt. Ein Instinkt, dessen Zuverlässigkeit von überraschender Größe ist. Wollte er sie allerdings mit einem schnellen Blick über die Schulter erhaschen, so war sie wieder anderswo.
Die Lücke begann sich wohlzufühlen und wurde größer. Als er vor einem Jahr umgezogen war, ausgezogen, da war sie einfach mitgekommen, in einem der Kartons. Becker hatte sich an sie gewöhnt und manchmal fühlte er sich weniger allein, weil sie bei ihm war. Schließlich war sie ein äußerst zuträglicher Zeitgenosse, der ohne viele Worte auskam, ein solcher, der eben leicht bekömmlich ist.
Von Anfang an, zunächst nur kleine Blasen, brodelte es bald, wie man so sagt, unter der Oberfläche und eines Tages schließlich verstand er dann, worum es ging. Es ging um ihn und die Lücke, einer von beiden musste nun gehen. Am Ende blieben aber dann vorerst doch erstmal beide.
Zwar fühlte Becker sich einsam, doch mit der Lücke zumindest nicht alleine. Zusammen konnten sie die Welt vergessen, in der Becker sich sowieso fremd fühlte. Er wusste schon gar nicht mehr seit wann, doch mit ihr konnte er weit weg von allem in der Luft hängen. Es ging ihm weder gut noch schlecht, was im Grunde doch gut war.
Manchmal auch war die Lücke ein paar Stunden oder gar tagelang weg, mal eben Einkaufen oder Freunde besuchen, was auch immer sie dann tat und eigentlich ging es Becker in solchen Moment besser. Er war beweglicher, lebendiger und wacher, er hatte sogar Ideen und Pläne, doch alsbald die Lücke wiederkam, war alles vergessen.
Etwas fehlte, das wusste er, doch wusste er nicht was.
Die Fatalität der Lücke liegt in ihrem Wesen, in der Abstinenz des zu untersuchenden Gegenstandes. Wie also konnte er finden, was unerkannt fehlte?
Er ließ es meistens bleiben.
Becker masturbierte, eine Landelinie aus Klopapier vom Schaft bis hin zur Brust, damit das Saubermachen schneller ging. Er hatte keine Lust, sondern Langeweile, sonst hätte er das Klopapier weggelassen. Mit routinierten Bewegungen entfernte er dann seine Hinterlassenschaft und war dabei sehr beschämt, obwohl ihm niemand zusah.
Danach ging er immer Rauchen, das war das Richtige, um die Sache abzurunden, aber vor allem, um noch etwas zu tun zu haben.
Becker drückte die Zigarette in dem überquellenden Aschenbecher aus, es war zwar schon November und es fror beinahe, doch über ihm stand inmitten der Mauern am Himmel die Sonne und strahlte wärmend auf ihn hinab, sodass er, das Kinn auf die Brust sinkend, einnickte. Er spürte, wie er mit kleinen Kieseln beworfen wurde und richtete sich dann schnell wieder auf, vom plötzlich prasselnden Regen geweckt. Der Himmel war schwarz, er donnerte und brüllte. Blitze zuckten und ließen die Welt für den Bruchteil eines Augenblicks zerbrechlich erscheinen. Becker flüchtete sich hinein und schaute zurück, hinaus auf den Balkon, wo er sein Notizbuch hatte liegen lassen, welches auch schon nach wenigen Sekunden bereits völlig durchweicht war, sodass die Seiten traurig buckelten.
Die Stummel im Aschenbecher ertranken in ihrer eigenen Suppe, das aufgeweichte Papier riss und die Innereien quollen braun und schwarz im Regenwasser. Es schien, als würde die Welt kurz untergehen, doch als die Wolken sich wieder verzogen hatten, Licht brechend auseinanderstieben, da kam alles wieder hervorgekrochen, geflattert und getrottet und blickte auf die soeben begossene Welt. Die Vögel von der kahlen Krone hinab, eine Meise spazierte schon wieder fröhlich hüpfend über die Gartenmauer und von überall dröhnte ein Gezwitscher, als wäre es der erste Tag einer neuen Welt.
Für eine Sekunde überkam ihn ein überwältigendes Gefühl, eine Ahnung für die Unendlichkeit aller Möglichkeiten, die Offenbarung eines völlig freien Tages, an dem alles erdenklich war, ein Neubeginn. Er würde die Lücke nun endlich rausschmeißen, er würde sie auf die Straße setzen und nicht mehr hinterhersehen.
Die Vielzahl an Möglichkeiten, die sich ihm dann eröffneten, war ihrer Unendlichkeit wegen aber genauso erschlagend und so geschah es, dass Becker erschöpft in sein Zimmer schlich, die Vorhänge zuzog und sich versteckte vor der Welt, die draußen lag. Er wollte auch diesen Tag lieber in der Vereindeutigung aller anderen verstreichen lassen.
Becker stand am Fluss, nur wenige hundert Meter von seiner Wohnung entfernt. Die Kälte glitzerte auf den Steinen, wie auf dem Wasser, sodass die Grenze kaum zu erkennen war. Es begann zu schneien, dicke weiße Flocken fielen immer zahlreicher und dichter.
Plötzlich überkam ihn, wie es jedem wohl beizeiten widerfährt, die unverkennbare Gewissheit seiner eigenen Sterblichkeit. Erstaunlich war dabei aber nicht diese letale Unausweichlichkeit, sondern die Akzeptanz, mit welcher Becker ihr gegenüberstand.
Er kniff die Augen zusammen. Ihm war, als hätte er am Ufer eine Gestalt gesehen, doch nun hatte er sie verloren. Nur wenige Sekunden danach sah er sie aber erneut, dieses Mal ein wenig größer. Sie war nähergekommen, doch die Flocken fielen nach wie vor so stürmisch, dass Becker sich seiner Wahrnehmung nicht mehr sicher sein konnte. Schnee versetzte ihn schon seit jeher in geheimnisvolle Stimmung, er konnte gar nicht anders. Es verging ein Augenblick, dann tauchte der Schatten erneut auf, dieses Mal stand er ihm dicht gegenüber, sodass er zwischen den Flocken ein faltiges Gesicht erkennen konnte. Becker schüttelte sich und alsbald er die zusammengekniffenen Augen nur den Bruchteil einer Sekunde später wieder öffnete, war in dem Treiben kein Schwarz mehr, kein Schatten, nur der Schnee, kleine weiße Kissen, die sich auf Beckers Mütze betteten, als er wieder Nachhause ging. Er musste die Augen beinahe ganz geschlossen halten, um in dem Treiben etwas zu sehen.
Plötzlich schien sich gleich vor seinen Füßen ein Riss aufzutun, der größer wurde und ein riesiges Loch in die Erde sprengte. Für einen Augenblick, da schien Becker hinabzustürzen, das erschreckende Gefühl eines unaufhaltsamen Falls in Dunkelheit hinein, der man erst nach grausamer Ewigkeit mit unkontrolliertem Schütteln der Gliedmaßen und ruckhaften Auffahren im Bett durch die Erlösung des Wachseins entkommt. Diese Rettung aber blieb noch aus, während Becker fiel. Er kniff die Augen zusammen und wartete, vertraute darauf, dass er bald Aufwachen würde und somit der Spuk vorüber wäre.
Immer noch spürte er die Luft kalt an ihm vorbeirauschen, in seiner Magengegend kribbelte es so beängstigend wie berauschend, während er den Rücken voran im bodenlosen Schlund versank, unaufhörlich, immer weiter. Einmal blinzelte er, ganz kurz nur, hoffte, dass er so wach würde, doch umgab ihn nach wie vor bloß Finsternis. Er wollte sich kneifen, verlor dabei aber bloß das Gleichgewicht und taumelte in der Leere, wurde von Strömen in der Luft umhergeschleudert, durchgewalzt und weitergereicht, sodass er fürchtete gegen die Wand zu schlagen, aber wie nach unten, war auch zu den Seiten Nichts und er stürzte mitten hinein, immer tiefer.
Endlich. Panisch fuhr Becker im Bett auf. Nachdem er die ersten Sekunden der völligen Orientierungslosigkeit überwunden hatte, fand er sich in seinem Bett wieder. Er spürte sie sofort.
Gott sei Dank, dachte Becker, sie ist noch da.