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die Lösung
Der kleine Spatz konnte vor Aufregung kaum fliegen. Völlig erschöpft landete er auf der harten, trockenen Fläche, umringt von großen, morschen Bäumen. Oder besser gesagt: er fiel vom Himmel, wie ein gefallener Engel. Da lag er nun.
Erstaunt und müde klotzten die Bäume unter ihren Baumkronen hervor, als der Spatz sich endlich wieder gefangen hatte und gleich wie wild herumpipste. Was konnte noch so wichtig sein, dass dieser Vogel so ein Theater veranstaltete?
Damals war alles so schön gewesen... Geregnet hatte es in dieser Gegend noch nie viel, zu wenig für einen Baum. Aber der Fluss, den die Menschen jetzt begradigt hatten, hatte früher eine Kurve gemacht, die den Bäumen ganz nahe gekommen war. So nahe, dass die Wurzeln sich laben konnten an der feuchten Erde. Prachtvolle Bäume waren es allesamt gewesen, denn sie hatten die ganze Zeit Sonne von oben und Wasser von unten. Bis auf einen Baum: der war zwar wunderschön, aber kleiner als die anderen. Immer hatte er die grünsten Blätter von allen, aber ernst nahmen ihn die größeren Bäume nicht. Schließlich war er anders: nicht so mächtig wie seine Nachbarn. Er war sehr einsam. Keiner der anderen Bäume machte sich die Mühe, den kleinen Baum einzubinden in ihre Gespräche. Wenn der kleine Baum hin und wieder Mut gefasst hatte und sich beschweren wollte, hatten sie ihn ausgelacht und ihm erklärt, dass das ihrem Stamm nicht guttun würde, wenn sie sich immer auf seine Augenhöhe herabbeugen mussten, um zu hören, was er sagte. Irgendwann hatte auch der kleine Baum resigniert, obwohl er ein fröhlicher Baum mit viel Mut und Hoffnung war.
Aber das Schicksal hatte es gut mit ihm gemeint und so war es gekommen, dass er den kleinen Spatzen Fridolin kennengelernt hatte, dem es ganz ähnlich ergangen war wie ihm. Auch er wurde von seinen Artgenossen nicht akzeptiert, weil er kleiner war. Obwohl er schöner singen konnte als jeder andere. Als er den Spott nicht mehr ertragen konnte, war er damals davongeflogen. Ganz alleine, ohne Ziel. Dann war er bei diesen Bäumen gelandet und hatte sich gleich prächtig mit dem kleinen Baum verstanden. Innerhalb einer Nacht, in der sie sich ihre Erlebnisse erzählt hatten, wurden sie gute Freunde. Und Fridolin gab seinem Freund einen Namen: Bodo. Noch nie war der kleine Baum so stolz auf etwas gewesen, denn jetzt war er der einzige Baum in der Gegend, der einen Namen hatte.
Der Spatz war dem Baum treu geblieben trotz aller Schwierigkeiten: Die Gegend war jetzt so dürr, dass er weit weg fliegen musste, um frische Würmer für seine Jungen zu finden, die im Nest saßen, welches der Spatz in der Baumkrone seines Freundes gebaut hatte. Oft hatte der kleine Baum den Spatz schon aufgefordert, sich einen besseren Heimatort zu suchen. "Kümmer Dich nicht um mich...Ich werde eh bald sterben!" Aber Fridolin war nicht einmal auf die Idee gekommen, Bodo den Rücken zu kehren. "Glaubst Du wirklich, ich verlasse Dich, nur weil Du in Schwierigkeiten bist?". Manchmal, wenn Bodo ganz traurig war und nicht einschlafen konnte, sang Fridolin ein Lied für ihn. Ganz sanft und leise, so dass die anderen Bäume nicht aufwachten. Und das tat Bodo gut. Egal wie hoffnungslos seine Situation auch war: er hatte einen Freund. Und Fridolin war es, der ihn am Leben hielt.
Um Bodo herum sahen die anderen Bäume aus, als wären sie bereits tot. Sie redeten kein Wort mehr miteinander und ihre Miene war versteinert. Sie waren nicht mehr viel größer wie Bodo selber, denn vom Stolz aus früheren Tagen war nicht mehr viel übriggeblieben. Während sie früher immer besonders aufrecht dagestanden waren, um ihre besondere Stellung zu demonstrieren, so waren sie jetzt in sich zusammengefallen. Lange schon hatten sie aufgegeben.
Es war ein herrlicher Sommertag gewesen, als Fridolin unterwegs war, um Futter für seine Jungen zu holen. Eine Schar Männer unterhielten sich und da es irgendetwas wichtiges zu sein schien, war er bis auf wenige Meter herangehopst und hatte gelauscht. Er hatte seinen Ohren nicht getraut. Der Fluss sollte wieder in seinen ursprünglichen Lauf zurückgeführt werden. Soweit, so gut. Aber es gab ein gravierendes Problem. Die Umleitung ins ursprüngliche Flussbett war bereits vorbereitet. Dazu wollten sie den seitlichen Staudamm an einer ganz bestimmten Stelle durchbrechen. Fridolin verstand. Auf dem Weg zum alten Flussbett würden die Wassermassen über Bodo und die anderen Bäume hinwegprasseln. Ganze 5 Stunden sollte es noch dauern bis zur Flutung.
"Wir sind viel zu morsch, um gegen die Wassermassen bestehen zu können", jammerte Bodo, nachdem Fridolin ihm und den anderen Bäumen von seinen neuen Erkenntnissen erzählt hatte. Die anderen Bäume sahen im Angesicht des Todes noch furchtbarer aus. Einer war bleicher als der andere. Sie schienen nicht mehr aus Holz, sondern aus Asche zu sein. Jegliche Kraft fehlte ihnen.
Plötzlich durchbrach Bodos Stimme die schreckliche Stille des Sommertages. "Ich hab's!. Wir können es gemeinsam schaffen. Alleine werden wir alle sterben. Aber wenn wir unsere Wurzeln ausstrecken uns uns gegenseitig Halt geben, dann schaffen wir es vielleicht." Zum ersten Mal im leben des kleinen Baumes sah er, wie sich die großen Bäume allesamt zu ihm hindrehten und ihn anschauten. Seine Worte hatten vor Kraft nur so gestrotzt. Und das hatte selbst die scheintoten Bäume beeindruckt. Bodo gab weitere Anweisungen. "Wir haben noch eine Stunde Zeit", sagte er mit fester Stimme, "wir müssen unsere Wurzeln miteinander verknoten!". Und plötzlich war etwas los bei den Bäumen. Unter der Erde streckten die Bäume ihre Wurzeln aus. Und wenn sie auf andere Wurzeln trafen, dann wickelten sie sich umeinander. Manchmal lachte ein Baum, denn sie waren Berührungen nicht gewöhnt. Aber es tat gut, die Nähe der anderen zu spüren. Die Bäume fühlten sich jetzt ganz eins mit den anderen. "Einer für alle, alle für einen, nicht wahr Bodo?" rief der größte Baum von allen, der in früheren Tagen nicht ein Wort mit Bodo geredet hätte und der jetzt wieder Mut fasste. Denn die Bäume spürten, welch große Kraft sie zusammen hatten. Und Bodo lachte und fühlte sich so stolz, dass er sich gar nicht mehr klein vorkam.
Und dann kam die Flut. Die mächtigen Wassermassen drückten gegen die Bäume, die alle erdenkliche Mühe hatten, um nicht aus der Erde herausgerissen zu werden. Jeder Baum rief den anderen Mut zu und sie stimmten ein Lied an, welches sie von Fridolin her kannten. Und Fridolin stand oben in der Luft und betrachtete seine Jungen im Nest seines Freundes. "Noch schlappe 10 Sekunden, dann habt ihrs überstanden!" schrie er aufgeregt. Und dann war der ganze Horror wirklich vorbei. Alle Bäume standen noch. Auch wenn viele vor Erschöfung ganz schön ruiniert aussahen. Aber alle hatten ein Lächeln im Gesicht.
Bodo wurde zum Ehrenbaum ernannt und es kam nie wieder vor, dass irgendein Baum sich nicht um das kümmerte, was Bodo sagte. Fridolin freute sich über seine Jungen, die bald stark genug waren, um sich in die Lüfte zu begeben. Bald standen alle Bäume wieder in der altbekannten Blüte, nur mit dem Unterschied, dass viel mehr Zusammenhalt zwischen den Bäumen bestand. Das Leben war jetzt noch viel schöner als in früheren Tagen. Dem Fluss gefiel es auch, wieder in Gewohnten Bahnen zu fliessen und nie wieder sollte sich an dieser Situation etwas ändern.