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Die längste Spur
Daniel ging die Treppenstufen hinunter. Durch die Wohnungstüren drang der Geruch von Kerzen und Abendbrot.
Er hörte das Blubbern von kochendem Wasser und die Stimme eines Nachrichtensprechers,
der über die Gespräche von Kanzler Kohl in Washington berichtete.
Daniel öffnete die Holztür zum Fahrradkeller. Dort stand sein roter Schlitten in einer Pfütze aus geschmolzenem Schnee. Er schulterte ihn, ging die Kellerstufen hinauf und öffnete die Eingangstür.
Der Plattenweg war geräumt und mit Sand bestreut.
Der Nachbar aus dem Erdgeschoss war seinen Mieterpflichten mal wieder als Erster nachgekommen.
Die Schippe hatte er als Hinweis für die anderen Mieter an der Hauswand stehen lassen.
Von der Hoflampe am Parkplatz hingen kleine Eiszapfen herab.
Bei einigen Autos waren die Motorhauben per Hand vom Schnee befreit worden.
Am späten Nachmittag hatte hier eine Kinderschlacht mit Schneebällen stattgefunden.
Daniel versuchte in den Fahrspuren der Reifen zu laufen, um nicht in die unberührten Stellen zu treten.
Auf halben Weg berührte er mit dem Absatz seines Stiefels die Schneedecke.
Er brach sein Vorhaben ab. Wie ein Fußballer beim Freistoß trat er gegen einen kleinen Eisbrocken.
Es frustrierte ihn, wenn er bei solchen an sich selbst gestellten Aufgaben scheiterte.
Für ihn war das die Bestätigung für die Einstellung seines Vaters, der ihn nie lobte und dem nichts was Daniel tat, gut genug war. Als es Zeugnisse gab, hatte Daniel bis auf eine Ausnahme überall die Note Eins bekommen. Sein Vater kritisierte ihn für diese eine Note und erwähnte die Anderen mit keinem Wort.
An der Wiese angekommen, folgte er dem Pfad der Stiefelabdrücke.
Hinter dem Jägerzaun, zwischen Rutsche und Klettergerüst, wachte ein Schneemann, der ihn mit seinem Kastanienmund anlächelte. Am Ende des Zaunes schaute Daniel zum Hügel.
Mit ihren unzähligen Abdrücken von Kufen sah die Rodelbahn aus wie das Schienennetz vor dem Hauptbahnhof einer Metropole. Tagsüber hatten die Jugendlichen Wasser mitten auf die Bahn geschüttet und nun war sie glatt wie ein Bobkanal. Abseits der Hauptstrecke ging Daniel den Hügel hinauf. Den Gipfel nannten er und die anderen Kinder "Startrampe“. Sie hatte nur eine Breite von ungefähr zwei Metern und war eingerahmt von Buschwerk.
Er hielt sich an den Ästen fest und zog sich die letzten Zentimeter hinauf.
Er blickte über das Hofgelände.
Am Hochhaus gegenüber erblickte er das rosa schimmernde Licht in Sandras Zimmer.
Vielleicht erzählt ihr Vater gerade einer seiner Geschichten, dachte er.
Früher las seine Mutter ihm fast jeden Abend seine Lieblingsgeschichte vor.
Das Buch hieß "Rudis Stablampe" und handelte von gespenstischen Schatten,
die sich am Ende aber als harmlose Alltagsgegenstände herausstellten.
Nachdem Daniel in der Schule immer besser Lesen gelernt hatte, baute ihm sein Vater am Kopfende seines Bettes eine Wandlampe an. Er las gerne Comics, in denen die Worte "Knuff", "Rülps" und "Würg" vorkamen.
Sein Vater sagte immer, dass solche Hefte zur Verdummung der Kinder und der Jugend beitragen würden.
Stattdessen empfahl er ihm Karl May, weil er der Ansicht war, dass jeder deutsche Junge in seinem Leben
einmal dessen Bücher gelesen haben sollte.
Daniel mochte Karl May am liebsten auf Schallplatte.
Er genoss die Momente, wenn er nach einem kalten Nachmittag von draußen hereinkam und mit einer Tasse heißen Kakao im grünen Sessel saß, seine kalten Füße an die warme Heizung hielt und dabei Winnetou und Old Shatterhand zuhörte.
Er spürte ein Kribbeln in seinen Fingerspitzen. Es wurde Zeit für etwas Action.
Er legte sich auf den Schlitten, holte Schwung und stieß sich ab.
Die Kufen vibrierten auf der harten Bahn. Daniel rammte seine Stiefelspitzen in den gefrorenen Boden.
»Nicht gut, gar nicht gut«, rief er.
Die Kontrolle erlangte er erst wieder, als er den Übergang vom Hügel in die gerade Fläche erreicht hatte.
Als er zum Stehen kam, rollte Daniel sich zur Seite und ließ sich fallen.
»Wahnsinn, gleich noch mal«, rief er und lächelte.
Nachdem er seinen Schlitten wieder geschultert hatte,fiel sein Blick auf das Ende der Bahn.
Von dort, wo die anderen Mischspuren aus Kufen und Fußabdrücken endeten,zog sich über mehrere Meter noch ein weiterer Abdruck.
Mann war ich schlecht, dachte er.
An der Startrampe stutze er seine Mütze zurecht und klatschte seine Handschuhe aneinander.
»Na gut, zweiter Versuch!«
Einen halben Meter vor dem Ende der längsten Spur kam er zum Stehen. Er riss sich die Mütze vom Kopf.
Die blonden Haare klebten an seiner Stirn.
»Verdammt, ich bin einfach zu schlecht!«
Er trat gegen seinen Schlitten.
Bei seiner nächsten Abfahrt berührte er mit seinen Stiefeln nicht den Boden und fuhr ungebremst den Hügel hinab. Der Schlitten drehte sich quer zur Bahn und kippte zur Seite. Daniel rutschte auf die vereiste Bahn. Er stand auf, packte seinen Schlitten und schleuderte ihn gegen den Jägerzaun. In dem Moment wurde er von Scheinwerfern geblendet.
Der Wagen fuhr langsam über den Hof und bog in eine freie Parklücke ein. Daniels Vater stieg aus und zupfte an seiner Uniform.
»Hallo Papa!«,
»Das heißt "Guten Abend", nicht "Hallo".«
»Guten Abend.«
»Wieso bist du noch draußen?«
»Ich versuche gerade ...«
»Ist mir völlig egal«, unterbrach ihn sein Vater.
»Du kommst jetzt mit mir rauf und dann ist Feierabend für heute.«
»Aber ... aber ich muss doch ...«
»Hast du was mit den Ohren?«
Daniel ließ den Kopf hängen und zuckte mit den Schultern.
Er hob den Schlitten auf und ging auf seinen Vater zu.
Auf der Bordsteinkante zum Parkplatz rutschte er aus und fiel kopfüber hin.
In dem Bemühen das Missgeschick vor seinem Vater zu verbergen, stand er sofort wieder auf und fasste sich an die Nase.
»Wie kann man nur so tollpatschig sein? Jetzt komm endlich.«
Daniel überquerte den Parkplatz und folgte seinem Vater auf den Plattenweg.
Er zog seinen linken Handschuh aus und wischte sich mit der Hand das Blut aus dem Gesicht. Er wagte es nicht zu weinen.
Der Vater öffnete die Eingangstür. Ohne Daniel weiter zu beachten, ging er die Treppenstufen hinauf.
Daniel brachte seinen Schlitten zurück in den Fahrradkeller und sagte:
»Morgen muss ich es schaffen«