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Die Kurve
Hier und da reißt der Boden auf, als Martin mit dem Rechen darüberfährt. Es ist gut, den Boden zu verletzen; der Rasen wird jetzt besser atmen können. Irene hält den Gartensack. Sie reden nicht miteinander. Martin geht in die Hocke, und während er einen Haufen welker Blätter in den Sack stopft, bemerkt er den Mann auf dem Gehweg. Martin kennt ihn, Koslowski heißt er, wohnt drei vier Häuser weiter. Koslowski trägt eine Schiebermütze auf dem Kopf, die Hände sind im Mantel verborgen.
Irene raschelt wie zur Aufforderung mit dem Sack, aber Martin bleibt sitzen und beobachtet den Mann.
»Dass man sich hier überhaupt noch vor die Tür traut«, nuschelt er im Vorbeigehen.
»Wie war das?«, fragt Martin.
Koslowski geht kopfschüttelnd weiter.
»Was du gesagt hast, will ich wissen!«
»Lass doch«, sagt Irene.
Martin springt auf, zieht die Arbeitshandschuhe aus und eilt durchs Gartentor. Er packt Koslowski an der Schulter und dreht ihn zu sich um. »Was hast du gesagt?«
»Lassen Sie mich in Ruhe.« Angst ist in den aufgerissenen Augen zu sehen und etwas, dass Martin an Irene erinnert, wenn sie sagt: Siehst du! Hab ich’s doch gewusst.
»Ich hab euch Penner so satt!« Martin schubst Koslowski, der daraufhin rückwärts taumelt und beinahe zu Boden geht.
»Sie wollen wohl auch in den Knast, wie Ihr Sohn? Muss man sich nicht wundern.«
Martin stürzt nach vorn, packt ihn am Kragen und holt aus.
»Martin!«, brüllt seine Frau. »Hör auf!«
»Verpiss dich!«, sagt er zu ihm, und zu Frau Göhden auf der anderen Straßenseite, die im Hauseingang steht – das ganze Geschehen im Blick: »Und du dich auch, du alte Schachtel!«
Er lässt ab und marschiert zurück zum Haus, sieht sich nicht mehr um, hört nur schnelle Schritte, die sich von ihm wegbewegen. »Ich bin im Keller«, sagt er im Vorbeigehen zu seiner Frau und schlägt die Tür zu.
»Ich hab' keinen Schlüssel«, ruft sie ihm nach.
»Dann geh' hinten rum!«
Ein Springseil und ein löchriges Handtuch hängen über der Sprossenwand. Daneben die Kurzbank, eine Hantel mit großen Gewichtsscheiben an den Seiten. Links der Boxsack aus Leder, auf dem Streifen von abgenutztem Tape glänzen.
Er hält sich nicht damit auf, Handschuhe anzuziehen, nein, die Ketten klirren und der 120-Kilo-Sack beginnt zu pendeln.
Ein paar Minuten später sinkt Martin in die Knie. Er pumpt nach Luft, die Hände vibrieren, die Knöchel sind feuerrot und aufgeschürft.
Martin geht zur Trainingsbank, legt eine weitere Scheibe auf, zieht jetzt Handschuhe an und bringt sich in Position. Fünzehn Jahre. Kai wird Ende Dreißig sein, bis ihn Martin wieder bei sich hat. Er hebt die Hantelstange von der Ablage, atmet langsam ein, gleichzeitig lässt er das Gewicht zu sich heran. Luft presst er durch die Lippen – Spucke und Rotz mit dabei – während er das Scheißding wieder anhebt. Der Atem geht schneller, als es leichter wird, die Arme fast gestreckt. »Fünfzehn Jahre«, zischt er, bevor er von Neuem loslegt.
Die Muskeln beginnen bald zu zittern und die Augen tränen vom Schweiß oder der Anstrengung. Martin blinzelt und als die Stange kurz vor seiner Brust verharrt, ist Schluss. Die Kraft versagt, er bekommt das Ding nicht mehr hoch. Martin zwingt sich, ruhig zu bleiben. Er widersteht der Versuchung, sich irgendwie unter der Hantel durchzukämpfen. Die Stange würde ihm nur auf den Hals rutschen. Hundert Kilogramm pressen ihm schmerzhaft den oberen Brustkorb zusammen. »Scheiße«, faucht er und schafft es mit letzter Kraftanstrengung, das Teil knapp über den Kopf zu stoßen und rasch darunter wegzutauchen. Die Stange knallt lärmend auf die Bank, wippt einmal auf und bleibt schließlich liegen.
Martin fühlt sich besser, nachdem er kalt geduscht hat. Der Zorn glimmt nur noch wie Reste eines abgebrannten Feuers in ihm. Er holt sich ein Jever aus dem Kühlschrank und setzt sich zu Irene an den Tisch. Dunkle Halbmonde unterstreichen ihre blauen Augen. Ihr Lächeln wirkt angestrengt.
»Hör mal, es tut mir leid. Ich hab' überreagiert«, sagt er.
Sie fummelt an einer Kerze herum, den Blick stier in die Flamme gerichtet. Wachs fließt herab und bildet dicke Tropfen auf dem Holztisch, als Irene ein Stückchen Rand abbricht. »Ich versteh' schon.«
»Das hat nichts ...«
»Nicht mal Angelika grüßt mehr.«
»Angelika? Vom Rossmann?«
Irene nickt. »Alle schauen mich so an, ich halt das langsam nicht mehr aus, Martin.«
»Sind doch alles Arschlöcher.« Er trinkt einen Schluck. »Hey«, Martin rutscht näher an sie heran, »komm her.« Er nimmt sie in den Arm, drückt ihren Kopf an seine Brust. Sie riecht anders als früher. Sie riecht überhaupt nicht.
»Ich möchte hier weg. Mit dir. Noch mal neu anfangen«, sagt sie.
»Mich kriegt keiner weg!«
»Nicht mal ich?«
»Und das Haus, die Arbeit?«
»Ein guter Imbiss läuft überall. Und ich finde auch was. Kann von mir aus putzen gehen, wenn’s sein muss. Wie viel hast du gestern verkauft, hm?«
»Ich will wieder auf’n Markt in die Stadt. Kohlmann sagt, er gibt mir Standfläche.«
»Dann können wir doch gleich wegziehen.«
»Wir haben uns das aufgebaut hier. Und jetzt klein beigeben, nur weil diese Wichser ...«
»Wir haben längst verloren, Martin.«
»Einen Scheiß haben wir!« Wie oft hatte man ihm gesagt, er sei ein Verlierer – schon in der Schule, als er noch schmalbrüstig aufs Maul bekommen hatte –, aber das war er nicht. Nie. Er hat’s allen bewiesen, hat sich nie unterkriegen lassen. Und im letzten Schuljahr – das Training hatte ihn zu einem jungen Olympioniken geformt – respektierten, beneideten sie ihn sogar.
»Wären wir doch nie hergekommen.« Sie krallt sich in sein Shirt. »Und wäre ich doch nie schwanger geworden.«
»Wie kannst du ...?« Martin greift nach ihren Wangen und sieht ihr ins tränenverschmierte Gesicht. »Wie kannst du so was sagen? Wir hatten schöne Zeiten, oder nicht? Mit Kai ...« Martins Stimme bricht. Er räuspert sich und steht auf. »Das darfst du nicht!« Er schnappt sich die Flasche vom Küchentisch. »So denken!«
»Waren wir schlechte Eltern, Martin?«
Er nimmt einen Schluck. »Wer ist schon perfekt?«
Sie lächelt nichtssagend. »Sieh dich nur an. Uns! Du ziehst dich völlig zurück. Und mich beachtest du kaum noch.«
»Das stimmt nicht!«
»Doch, Martin. Du merkst es nur nicht.«
Er schüttelt den Kopf und trinkt.
»Das Geschäft geht den Bach runter. Kein Mensch will uns hier.« Sie nickt Richtung Flasche in seiner Hand. »Und du fängst wieder zu saufen an, stimmt’s?«
»Merkst du überhaupt noch was?« Martin marschiert zur Spüle und schüttet das Bier in den Ausguss. »Zufrieden?«
Irene wendet sich der Kerze zu. »Wir könnten zu meinen Eltern, an die Küste? Das Haus ist groß genug und sie sagen ...«
»Du hast mit deinen Eltern gesprochen?«
»Ja, hab' ich. Ich kann einfach nicht mehr!«
»Okay und wann wolltest du mir das mitteilen?«
»Mach ich doch gerade.« Sie bläst die Kerze aus, Rauch steigt auf.
»Und ich soll Fischbrötchen verkaufen, ja? Oder zur See fahren? Du weißt genau, dass ich nie und nimmer in den Norden ziehe.«
»Dann lass' uns noch mal zum Psychologen.«
Martin lacht auf. »Erst weg und dann zum Seelenklempner. Was denn jetzt?«
»Keine Ahnung. Irgendwas. Wir müssen irgendwas tun, Martin.«
Er setzt sich zu ihr und greift nach ihrer Hand. »Unser Sohn hat die größte Scheiße gebaut, die man nur bauen kann. Da müssen wir durch. Aber es wird besser werden, glaub' mir.«
»Nein. Nichts wird besser. Und ich will auch nicht im selben Ort wie die Mutter von ... Es geht einfach nicht.«
Martin drückt sie an sich und atmet geräuschvoll aus. Er denkt an das junge Paar, das sie mal waren, dem die Welt zu Füßen lag. Das Liebespaar, das Träume pflückte wie Blumen auf einer Sommerwiese, um sich an ihnen zu erfreuen. Nein, sie sind nicht verblüht. Noch nicht.
Der Geldbeutel rutscht ihm aus der Hand. Martin weiß, dass es nicht an der Kälte liegt. Er ist nervös. Wie stets, wenn er kontrolliert wird. Und dann die Uniformierten: Er kann sie nicht leiden, versteht nicht, warum man so einen Beruf überhaupt ausüben mag.
»Tschuldigung«, sagt er, hebt die Lederbörse auf, fummelt den Personalausweis heraus und legt ihn in die Durchreiche.
Der JVA-Beamte blickt abwechselnd auf den Ausweis und zu ihm. Martin fühlt sich ertappt, obwohl es keinen Grund dazu gibt. Die Stirn glänzt von Schweiß. Ein elektrischer Summton ertönt und Martin stemmt sich gegen die Tür; den Rest kennt er schon. Er zieht die Jacke aus, bringt sie – neben Geldbeutel und Handy – im abschließbaren Spind mit der Nummer Fünfzehn unter. Immer wählt er die Fünfzehn. Nächstes Jahr wird es wohl die Vierzehn werden.
Der Beamte winkt ihn heran und Martin geht mit mulmigem Gefühl durch den Rahmen. Es piepst, woraufhin Martin hastig einen Schritt rückwärts macht und sogleich die Taschen abtastet.
»Die Uhr«, sagt der Mann auf der anderen Seite und nickt Richtung Handgelenk.
»Oh, ja, klar.« Martin reicht sie dem Beamten. Wieder tönt es, dann nicht mehr, als Martin erneut durchs Portal schreitet.
Auf dem Weg zum Besucherraum muss er an Ägypten denken. An den Zoll, die Kontrolle und an die Unterkunft mit dem nierenförmigen Pool und den Palmen ringsum. Kai saß in diesem Kinderbett, hinter Gittern. Kein so ein leichtes Ding mit Netz, wie es sie heutzutage gibt. Martin hatte es sich von den Schwiegereltern aufschwatzen lassen. Sauschwer war das Teil, ein riesen Aufwand, es aufzugeben und später zum Hotel zu schleppen. Er hasste, wie Kai darin festsaß – hilflos sah er aus – und es war Martin, der ihn befreite. Befreier-Papa. Doch nicht heute, nicht mehr. Das war einmal. Heute blieb Kai eingesperrt.
Es sitzen noch andere im Raum, zwei Uniformierte stehen an der gelb getünchten Wand neben einem kitschigen Landschaftsbild. Am Nachbartisch wird gelacht, am Tisch hinten an der Tür schluchzt eine Frau, während ihr Typ ausdruckslos aus dem vergitterten Fenster guckt.
Jetzt wird Kai hereingeführt. Martin lächelt, aber der Sohn blickt nur zu Boden, die Schultern vorgebeugt, und setzt sich.
»Hey«, sagt Martin.
»Hallo.«
»Na? Wie geht’s?«
Kai schnaubt nur und schaut ihm in die Augen. »Mama?«
»Du weißt, sie hält das einfach nicht aus. Nächstes Mal vielleicht.«
Kai starrt wieder nach unten.
»Ich zahle dir nachher was ein, ja? Dann kannst du dir was kaufen und telefonieren. Telefoniert doch mal, hm?«
»Ja, danke.«
»Geht’s dir gut?«
»Meinst du das ernst?«
»Fehlt dir was, brauchst du irgendwas?
»Alles gut«, sagt Kai und knetet die Finger. Auch er sieht jetzt aus dem Fenster, wie der Typ, dessen Frau oder Freundin mittlerweile aufgehört hat, zu weinen.
»Der VfL ist durch, schon mitbekommen?«
»Ja«, sagt Kai, der irgendwo anders ist. Kai, der irgendwer anders ist.
»Wenn die so weiter machen, schaffen sie's bestimmt ins Finale.«
»Interessiert mich nicht.«
»Okay, ich dachte nur ... Ach, egal.«
»Hat mich nie interessiert.«
Martin nickt.
»Hast du was von deinen Kumpels gehört?«
»Keine Ahnung«, erwidert Kai.
»Komm, verarsch' mich nicht.«
»Ich hab' Sven geschrieben.«
Wieder nickt Martin.
Sie haben immer was zu quatschen gehabt, haben sich gegenseitig nie ausreden lassen, weil es eine Menge zu erzählen gab, über Politik oder Sport oder Schule – Gott und die Welt – und jetzt hat Martin einfach vergessen, was er alles sagen wollte, obwohl er nie darüber nachdenken musste, obwohl es noch so viel gegeben hatte, kurz bevor ihm die Geldbörse entglitten war. Es fällt ihm nicht ein, nichts fällt ihm ein und die kostbare Zeit wird zum Feind, da sie langsam vergeht.
Kai steht unvermittelt auf. »Sorry, Papa, ich muss.«
»Was? Wieso? Wir haben uns eine Woche nicht mehr gesehen.«
»Ich weiß und es tut mir leid.«
Kai dreht sich zu einem der Beamten um, der schon auf ihn zukommt.
Martin erkennt die Narbe an Kais Hinterkopf. Kai sprang auf die Seilbahn wie ein kleiner Tarzan zu Lianen. Er sauste los, das Stahlseil schnurrte bis zum Haltepunkt, das Kind peitschte abrupt nach oben, verlor den Halt und stürzte rücklings auf einen Stein.
»Tschüss«, flüstert Martin, doch Kai wurde bereits durch eine Tür geführt, die wieder abgeschlossen wird.
Zehn Minuten später zieht Martin die Winterjacke an und ist draußen. Er ist erleichtert, frische Luft atmen zu können, und schämt sich ein wenig dafür.
Das Geschäft läuft einfach beschissen, der Umsatzeinbruch tut so langsam richtig weh. Es machte aber überhaupt keinen Sinn, für fünfzehn, zwanzig Euro mehr, bis zum Abend auf dem Parkplatz zu stehen. Er würde unbedingt Kohlmann ansprechen müssen, um die Standfläche auf dem Markt zu bekommen. Dann sieht er die Jungs auf dem Gehweg herumalbern und Martin fährt seinen geliebten Foodtruck rechts ran. Die Jungs sehen auf, lesen erst die Aufschrift Martins Wurstkiste und schauen kurz darauf durchs Führerhaus.
»Hey, ihr Racker!«, sagt Martin und steigt aus.
»Trainer«, sagen sie im Chor, bis auf Steffen. Der blickt an sich herunter.
»Wie läuft's bei euch? Geht ihr zum Training?« Er klopft einem Jungen auf die Schulter.
»Ja«, sagen sie, was ihm einen Stich versetzt. Er liebte die Mannschaft, das Training, den Verein. Dass der Vorstand ihm gesagt hatte, er solle eine Auszeit nehmen, hatte Martin für eine noble Geste gehalten. Später wusste er, sie wollten ihn nur auf die Feine abservieren. Sicher stecken die Eltern dahinter! Und gerade bei Steffens würde er drauf wetten.
»Ihr habt ja echt Erfolg gehabt. Ich hab' Eure Spiele verfolgt.«
»Ja«, sagt einer, Steffen schaut Martin jetzt an. »Kommen Sie wieder?«, fragt er.
»Na klar«, sagt Martin, obwohl das alles andere, als wahrscheinlich ist. Martin spürt, wie ihm das Lächeln verrutscht.
»Und Herr Hanselmann, der uns trainiert?«
»Der macht das natürlich super, sonst würdet ihr ja nicht die Matches gewinnen. Also der bleibt auf jeden Fall ... die ganze Saison. Aber nächstes Jahr komme ich bestimmt wieder!«
»Ja«, sagen sie.
»Und mögt Ihr den Peter Hanselmann denn?«
»Ja«, sagen sie, auch Steffen, und Martin fühlt ein weiteres Mal diesen Stich in den Eingeweiden.
»Das ist prima«, sagt er, »Wirklich, das freut mich für Euch, Jungs!«
Sie stehen in Reih und Glied wie Spielfiguren, grinsen und nicken scheu.
»Gut Jungs, hat mich echt gefreut, euch mal zu sehen. Viel Spaß beim Training, weiter so!« Martin steigt ein, lässt das Beifahrerfenster runter und fügt hinzu: »Und grüßt den Peter von mir, ja? Nicht vergessen! Tschüss ihr Racker!«
»Tschüss«, sagen sie im Chor. Martin sieht im Rückspiegel, wie sich die Reihe auflöst und sie erneut miteinander rumalbern.
Die Luft ist klar und frisch, der Himmel makellos, es könnte schön sein, ist es aber nicht. Die Zeit ist diesmal ein Freund, weil sie langsam vergeht, weil Martin und Irene bereits seit einer Stunde einen Schritt vor den anderen setzen und immer noch nicht da angekommen sind, wo Martin niemals hin wollte. Doch Irene bestand darauf, packte ihre Tasche, nahm seine Hand und zog ihn mit sich. Er ließ sich auf sie ein – was hatte er sich nur dabei gedacht – und jetzt ist es zu spät. Ein Berg aus Sand ragt vor ihnen auf, Betreten verboten! steht auf dem gelben Schild, das an dem stacheldrahtbewährten Zaun hängt, der das Kieswerk vor unbefugtem Zutritt schützt. Und dann sieht er es, zehn Meter entfernt, das einfache Holzkreuz, und Schwerelosigkeit macht sich in ihm breit. Irene spürt es wohl auch, denn sie drückt seine Hand und bewahrt ihn davor, ins Nichts zu schweben. Eine dieser grünen Kunststoffvasen mit Bodenanker steckt vor dem Kreuz, die Blumen darin verwelkt. Martin weigert sich, den Namen abzulesen, er kennt ihn schon. Irene schluchzt, als sie den Rucksack öffnet und die Grablichter herauskramt. Sie streckt ihm eines hin und Martin nimmt es wie in Trance entgegen. Kein Windhauch regt sich, nur das Krächzen der Krähen beweist, dass er nicht träumt. Irene zündet beide Lichter an.
»Komm«, sagt sie und Martin kommt. Sie stellen die Kerzen ab, aber das rote Glas leuchtet nicht, da die Sonne heller scheint. Ihm kommt das alles sinnlos vor.
Sie hören das Auto, bevor sie es sehen. Eine Staubwolke und das Geräusch von wegspritzendem Kies und Schotter wirken bedrohlich. Irene und er starren wie gebannt hin, bis das Fahrzeug hält und die Frau aussteigt.
»Gehen Sie weg von hier«, sagt sie.
»Hören Sie ...«, setzt Irene an.
»Gehen Sie.«
»Es tut mir leid«, hört er sich sagen.
»Gehen Sie weg! Gehen Sie weg! Weg hier! Gehen Sie! Weg! Weg!« Die Frau brüllt die Litanei wie verrückt geworden und macht immer wieder eine Wegwerfbewegung.
Irene weicht zurück, dann bricht sie zusammen und heult, während die Frau weiter schreit und mit dem Arm fuchtelt. Martin packt Irene. »Komm, lass uns verschwinden.« Er hilft ihr hoch. Leblos wirkt sie, wie das Mädchen, an das ein Kreuz mit welken Blumen erinnern soll.
Irene läuft neben ihm. Sie weint nicht, sie flüchtet, so wie Martin. Glas zerspringt hinter ihnen, einmal, noch einmal und Martin weiß, es sind die Grablichter, die nicht leuchten, die nie mehr leuchten werden.
Zu Hause angekommen, nimmt er Irene in den Arm – kein Tonus, kein Schluchzen, kein Wort. Er versucht, mit ihr zu sprechen, obwohl ihm selbst nach Schweigen ist, aber auch das hilft nicht. Martin stellt den Fernseher an, hört, wie Badewasser eingelassen wird und ist dankbar, das Hirn auf Stand-by schalten zu können.
Der Nachmittag vergeht, nur das Fernsehlicht lässt den Raum unruhig aufflackern. Irene setzt sich an den Esstisch und zündet wieder eine Kerze an. Er kommt sich vor wie in einer Gruft, dreht das Licht an und holt sich ein Jever aus dem Kühlschrank. »Irene«, sagt er, sie antwortet nicht, starrt nur ins Kerzenlicht. »Irene!« Etwas lauter, doch ohne Reaktion. Martin fläzt sich erneut vor die Glotze, er hat null Plan, was er sich ansieht und irgendwann springt er auf und marschiert zu ihr an den Tisch. »Irene, red' mit mir!«
»Ich will hier weg«, sagt sie mit leerem Blick, den sie ins Nirgendwo richtet. Sie trägt ihren weißen Bademantel, die Haare hängen ihr schlaff die Schultern herab. Wie Irene so im Kerzenschein sitzt, sieht sie so aus, als wäre sie geistesgestört. Martin bekommt Angst. Und noch etwas, Ekel regt sich in ihm. Ekel davor, Angst zu haben. »Ich will hier auch weg!«, sagt er, knallt das Bier hin und zieht die Jacke über. »Und zwar jetzt!«
Die Fensterläden bleiben hier immer verschlossen, die Wände sind mit dunklem Holz vertäfelt und durch den Zigarettenrauch, der den Raum ausfüllt, kommt er sich wie in einer Räucherkammer vor. Martin mag die Kneipe einfach.
Kohlmann hockt schon am Tresen und unterhält sich mit dem Wirt. Martin legt von hinten den Arm um ihn und setzt sich auf den Barhocker daneben.
»Grüß dich, Kohlmann.«
»Mann«, sagt der und lächelt, »freut mich wirklich, dass du vorbeischaust.«
»Ja, ich bin auch froh.« Zum Barkeeper gerichtet: »Ein helles Hefe bitte und zwei Wodka.«
Kohlmann lacht. »Hast was vor?«
»Ich brauch' das jetzt. Trinkst doch einen mit, oder?«
»Klar. Aber nur einen, muss morgen früh aufstehen.« Kohlmann fummelt eine Marlboro raus und steckt sie an.
»Gibst du mir eine?«, fragt Martin. Eine braunhaarige Frau mit überschminktem Gesicht am anderen Ende zwinkert ihm zu. Martin kennt dieses Zwinkern. Ein typisches Barschlampengetue, denkt er.
»Rauchst du wieder?«
»Fange gerade damit an.« Martin grinst und diesmal ist es Kohlmann, der ihm auf die Schulter klopft.
»Wenn du meinst«, sagt er und hält ihm die Schachtel hin. »Ich sag nichts dazu. Bist selber groß.«
»Stimmt.«
»Na, wie geht’s dir, Martin?«
Der Wirt stellt die Getränke ab, Martin zündet die Kippe an und hebt anschließend das Schnapsglas. »Wie’s einem halt so geht. Prost!«
Sie trinken und Martin sieht aus dem Augenwinkel, dass auch die Brünette ihr Glas gehoben hat.
»Ah«, Kohlmann schüttelt sich, lächelt kurz darauf wieder. »Ja, wie’s einem so geht, hast recht. Apropos, in acht Wochen. Kannst dann auf’m Münsterplatz verkaufen. Einjahresvertrag wird frei. Ist das was?«
»Und ob! Echt jetzt? Das ist toll, Kohlmann. Hilfst mir wirklich weiter.«
»Läuft nicht gut bei dir, ich weiß. Wegen deinem Sohn, hm?«
»Weißt du, eigentlich hab' ich null Bock darüber zu reden.« Martin nimmt einen kräftigen Schluck Bier und wischt dann Schaum von der Lippe. »Aber, nein, das liegt nicht an meinem Sohn, sondern an den Arschlöchern im Ort!«
Kohlmann nickt.
»Vergessen wir’s, ja?! Hab kein Bock, okay?«
»Und Irene?«
»Da hab' ich auch kein Bock drauf.«
»Dann lass uns einfach einen Saufen, ja?« Kohlmann lacht. Ein gewinnendes, ansteckendes Lachen hat er.
»Bin dabei.«
Drei, vier Gläser später ist die Welt ein lebenswerter Ort für Martin. Kohlmann ist wie Medizin, Martin fragt sich, warum er erst jetzt wieder mal ausgeht.
»Martin, ich find’s gut, dass du mal rauskommst. Müssen wir öfter machen. Die Jungs fragen ständig nach dir. Bringt doch nix, sich in ’n Schneckenhaus zu verziehen. Nächstes Mal machen wir alle ein’n drauf!«
»Ja, hast recht, machen wir.« Sie stoßen an und Kohlmann trinkt aus.
»Jetzt muss ich aber. Muss echt früh raus. Trink' eins für mich mit. Oder kommste auch?«
»Ich trink noch eins.«
Kohlmann bezahlt die ganze Zeche, bevor er sich verabschiedet.
Martin kippt drei weitere und taumelt in die Wohnung der Frau aus der Bar, mit der er zwar Bruderschaft getrunken, ihren Namen jedoch wieder vergessen hat. Sie fragt, ob er was wolle und Martin schmeißt sie aufs Bett, setzt sich auf ihren Bauch und sagt, es gäbe etwas, was er wolle. Die Brünette lacht und boxt ihm auf die Brust. Martin hält ihren mit Armreifen klimpernden Arm fest und beugt sich näher zu ihr. Sie küssen sich, er schmeckt ihren weingeschwängerten Mund und Tabak, was ihn nur noch heißer werden lässt. Martin richtet sich auf und verschmiert den weinroten Lippenstift mit dem Daumen. Sie packt ihn und saugt daran. Martin schiebt ihre Bluse hoch und grapscht unter ihrem festsitzenden Push-up nach den Titten, sie fummelt an seinem Gürtel herum. Kurz darauf stülpt sie gekonnt ein Kondom über seinen pulsierenden Schwanz, nimmt ihn so tief in den Mund, dass sie würgen muss. Dann grinst sie ihn an. Er reißt ihr die Hosen runter und dringt in sie ein. Er hört, wie sie stöhnt, was ihn weiter anstachelt. Irgendwann hört und sieht er gar nichts mehr. Er spürt nur das Gefühl in seinem Schwanz, wenn er eintaucht und eintaucht wie eine Maschine bei der Arbeit. Er arbeitet jetzt, er trainiert hart, hoch und runter, Schweiß läuft an ihm herab und er kann spüren, dass er bald zum Ende kommt. Er hört wieder ihr Stöhnen, ihr Schreien, sie kratzt ihn, hoch und runter, dann ist es so weit, er spritzt eine Riesenladung ab, bevor er schwer atmend auf sie niedersinkt.
»Weg mit dir«, sagt sie.
Martin grunzt nur erschöpft ins Kopfkissen.
Sie versucht, ihn von sich zu stoßen, es gelingt ihr jedoch nicht.
»Hau ab, du Arschloch!«, schreit sie auf ein Mal und Martin ist hellwach, sieht sie an und erkennt, dass ihr Gesicht nicht nur vom Lippenstift, sondern von der ganzen Schminke verschmiert ist. Schwarze Linien und dunkle Flecken sind rund um ihre zornigen Augen. Martin dreht sich weg und steht schwankend auf. Ihm wird schwindelig. »Was ist denn?«, fragt er.
Sie zupft sich die Bluse runter – ein paar Knöpfe fehlen – und wirft sich die Decke über die Beine. »Du verdammter Scheißkerl«, schreit sie. »Verpiss' dich hier!« Dann fängt sie an zu heulen, schlimmer als Irene. Und der Gedanke an Irene macht ihn krank. Der Schwindel nimmt zu und Martin zieht sich die Hose an, das volle Kondom hängt noch am Schwanz, es ist ihm egal, er will nur weg von hier.
»Hab ich dir wehgetan?«, fragt er, während er in die Schuhe schlüpft.
»Halt dein Scheiß-Maul und verzieh' dich endlich!«
Auf der Straße angekommen, kramt er das Handy aus der Tasche und ruft ein Taxi.
Als es ankommt, schmeißt er sich auf die Rückbank, gibt die Adresse an und versucht zu verstehen, was hier passiert ist. Er ist bemüht, sich an jedes Detail zu erinnern, möchte wissen, ob er etwas Böses getan hat. Wie Kai. Er horcht ganz tief in sich rein und glaubt letztendlich, dass es sich einfach um eine verfickte Schlampe handelt, die schlichtweg durchgedreht ist, weil sie vergebens auf ihren Höhepunkt gewartet hat. Eine, die sich ausgenutzt gefühlt hat, oder so was. Er kennt solche Weiber und schwört sich, Irene nie wieder zu hintergehen und ein Teil seines Bewusstseins fragt sich, wie lange der Schwur diesmal halten wird.
Kurz vermutet er, den Schlüssel verloren zu haben, dann fühlt er ihn in der Jackentasche und schließt vorsichtig auf. Er will bloß vermeiden, dass Irene aufwacht und ihm die Hölle heißmacht.
Im Haus ist es stockdunkel, nur das Ticken der Wanduhr ist zu hören. Martin schleicht nach oben und linst ins Schlafzimmer, doch Irene ist nicht da. »Irene?« Nichts. »Irene!«, brüllt er. Nichts. Er macht den Kleiderschrank auf und weiß, dass sie weg ist, aber es ist ihm egal. Er muss pissen, aber auch das ist ihm egal. Martin schmeißt sich nur noch ins Bett. Alles dreht sich und als er glaubt, er müsse kotzen, klingelt das Telefon. Sie ist es, denkt er, bleibt jedoch liegen. Er lässt es klingeln und schläft bald ein.
Martin öffnet die Augen und Sonnenstrahlen spießen sie auf. Er zuckt zusammen und schreckt hoch. Der Kopf schmerzt und die Blase platzt ihm jeden Moment. Er wankt zum Klo und reißt die Hose runter. »Scheiße«, sagt er, als er den Gummi bemerkt, der schwer an seinem Schwanz baumelt. Er zieht das Ding ab, pisst gefühlte zehn Liter, wickelt das Kondom in Toilettenpapier ein und spült den ganzen Dreck der letzten Nacht runter.
»Irene«, ruft er ohne Sinn, als er in Pantoffeln nach unten geht. Der Schädel explodiert gleich, ein Riesenbrand wütet im Rachen. Martin eilt zum Kühlschrank und trinkt Milch aus der Tüte. Ein Rinnsal fließt am Mundwinkel herab. Er flucht, schnappt sich das Geschirrtuch vom Haken und wischt die Soße von Gesicht und Boden auf. Martin nimmt Platz, das Telefon läutet wieder. Er weiß nicht genau, warum er es ignoriert, er weiß nur, dass er jetzt nicht kann, dass er nicht da sein möchte, für niemanden.
Martin braucht Luft zum Atmen, kalte klare Luft, die Lungen füllt und in kleinen Wölkchen entweicht. Martin tritt vor die Tür, streckt sich und stopft das nach Rauch und Parfum stinkende Hemd in die Hose. Kein Mensch weit und breit. Die Umgebung wirkt wie eine verblühte amerikanische Vorstadtsiedlung. Der Foodtruck passt perfekt ins Bild, auch wenn es ein Citroën HY ist, ein Oldtimer, sein eiscremefarbener Stolz, Baujahr 1965, in den er drei Jahre Restaurationsarbeit gesteckt hat. Herzblut, Nerven und Geld hat ihn der Traum gekostet.
Als er um den Wagen geht, erkennt er, was in schwarzer Schrift quer über Martins Wurstkiste geschrieben steht: Verrecke!
Er will das nicht sehen, ihm wird speiübel, er wischt sich das Gesicht und während die Hände den Blick freigeben, erspäht er Koslowski auf der gegenüberliegenden Straßenseite, der verstohlen zu ihm rüber sieht. Koslowski beginnt zu laufen, dann ruft er: »Verzieh' dich hier!«
Martin schließt die Augen.
Er wird ruhig, bevor jemand in ihm den Marsch bläst, bevor jemand das Signal gibt, die Ketten sprengt und ihn, den Kampfhund, endlich von der Leine lässt. Martin jagt Koslowski hinterher. Der Typ ist schnell, das muss er ihm lassen. Atemwolke hinter Atemwolke. Eine Dampflok hetzt die andere, vorbei an all den schönen, toten Häusern, die wie Grabsteine den Weg flankieren. Jetzt ist er nahe genug. Er holt aus, und erwischt Koslowskis Haxen – ein böses Foul!, aber es ist kein Schiedsrichter weit und breit. Niemand pfeift ihn zurück, auch nicht, als er in Koslowskis Kreuz springt, mit dem Knie voran. Niemand hört den Schrei, der nicht mehr lange währen wird, denn Martin packt das Haar von Koslowski, dessen Schiebermütze auf der Straße liegt, packt es ganz fest und schlägt Koslowskis Kopf auf den Asphalt, nein, auf den Bordstein, voll auf die Kante und es klatscht und klackt und knackt dumpf, wieder und wieder, und Blut spritzt auf den Weg, kein Schreien, nur noch das Geräusch eines Holzpflocks, der von einem Hammer in den Boden gerammt wird, bis sich etwas ändert, bis es sich so anhört, als breche was auf, eine Kokosnuss, deren heißer Saft sich über all das kalte Grau ergießt. Es ist gut, Koslowski zu verletzen, damit er, Martin, besser atmen kann.
Das Telefon läutet.
Martin öffnet die Augen und Koslowski erscheint, unversehrt. Die Illusion löst sich auf wie Tollkirschen in Salzsäure und lässt nur ihr Gift zurück. Er sieht ihn um die Ecke biegen. Sieht, wie er ihm den Stinkefinger zeigt, bevor er aus dem Sichtfeld verschwindet. Martin schüttelt den Kopf, das Telefon klingelt unbeirrt weiter und er spürt den Schlüsselbund in der Hosentasche. Er zeichnet mit dem Finger die Buchstaben nach, die in der Nacht hässlich aufgepinselt wurden: V-e-r-r-e-c-k-e.
Der Motor springt an, Martin schlüpft aus den Pantoffeln – sie behindern nur beim Fahren – und tritt aufs Gas. Weg von hier, von all dem Scheiß, all den Arschlöchern, dem Telefon, Koslowski, den Schlampen und ... weg von Kai.
Sonnenlichtfeuer schießt durch alte Pappeln hindurch und taucht ihn und seinen Traum auf vier Rädern in ein Licht- und Schattenspiel. Martin liebt diese Allee mit den mächtigen Bäumen, die bis zum Himmel wachsen. Kai ist – wie er – immer gerne hier entlang gefahren. Kai. So viel Gemeinsamkeiten, nicht? Wieso sagt er: Hat mich nie interessiert? Verrecke, ja, das hat man ebenso zu Kai gesagt, dem Sohn, und jetzt ihm, dem Vater und ihr, der Mutter, der ganzen Familie! Verpiss dich, verzieh dich, weg von hier! Kai und er sind eins. Und Irene ...
Das Fahrzeug rast zum Ausgang der Allee. Die größten Weißpappeln stehen dort, sie sollen beseitigt werden, weil sie eine Gefahr darstellen. Weg von hier! Gleich neben dem Schild – mit den Rot-weißen-Ecken darauf – steht auch ein Holzkreuz. Sind es zwei? Manchmal leuchten Blumen ringsum, manchmal nicht, manchmal sind sie welk und faulig, oder einfach weg. Martin drückt das Pedal bis zum Anschlag durch. Hinter der Kurve geht’s zur Autobahn, Richtung Norden und nach Süden.