Die Kunst ist wieder da!
„Nein“, sagte Tony zum sechsten Mal. „ Och, komm schon, Tony! Hab dich nicht so!“
Corinna stand mit dem Rücken zu ihr vor dem Spiegel und begutachtete ihr neues Glitzertop. „Ich will da aber nicht hin. Und außerdem, so gut kann ich nun auch nicht malen!“ Corinnas Vater war Maler. Und der wollte Tony und sie zu einer seiner Kunstaustellungen mitnehmen, und einige von Tonys Kunstwerken, die er auch dort präsentieren wollte, da Tony eine richtige kleine Künstlerin ist. „ Aber das ist mir unangenehm...wenn alle meine Bilder anschauen!“ „ Tony, das könnte der
Durchbruch für dich und deine Karriere werden!“
„ Corinna, Antony, kommt, wir fahren jetzt!“ In der Tür tauchte Herrn Wilhelms Kopf auf. „ Sie wissen doch, ich werde nur Tony genannt! In ihrem Alter vergisst man wohl alles! “ Herr Wilhelm lachte und ließ sich auf Corinnas Himmelbett nieder. Er hatte kurze, silberne Haare, ein wenig Glatze auf dem Kopf und eine Hornbrille vor seinen lustigen, warmen braunen Augen. „ Weiß ich doch“, er stand auf, „los, wir müssen jetzt wirklich!“ Tony fuhr sich aufgeregt durch die glatten, fastlangen, rotbraunen Haare und ging mit ihrer besten Freundin Corinna und deren Vater nach draußen.
Sie ließ sich zitternd in dem silbernen Mercedes nieder und zog ihre orangefarbene Fleecejacke fester zu. Das Zittern blieb. Es wurde immer stärker. „ Tony?“ Corinna schaute ihre Freundin besorgt aus ihren großen, blauen Augen an. „ Ach, schon gut, ich bin nur etwas aufgeregt.“, erwiderte Tony achselzuckend. „ Das nennt man Lampenfieber und ist völlig normal, das ist bei mir auch immer so, vor einem Theaterstück! Und schnall dich bitte an!“ Tony tat, wie ihr geheißen und lächelte schwach. Corinna war nicht die beste Künstlerin, aber sie konnte toll schauspielern.
In der Theater-AG ihrer Schule war sie die beste. In Romeo und Julia durfte sie Julia spielen, in Susi und Strolch die Susi und in Hannah Montana die Hannah.
Aber zurück zu Tony. Als sie aus dem Auto stieg, fühlte sie sich immer noch schwach, aber etwas besser. So aufgeregt war sie noch nie gewesen. Nervös strich sie sich über ihren kurzen Jeansrock. „ Nun mach schon, trödel nicht so!“, ungeduldig schob Corinna sie weiter. Sie nahm Tonys Hand und zog sie hinter ihrem Vater in das museumartige Gebäude. Tony riss die grünen Augen auf. So etwas hatte sie noch nie in ihrem fast zwölfjährigen Leben gesehen: eine riesige Halle, an der Decke hing ein riesiger Kronleuchter und überall waren Kunstwerke von Herrn Wilhelm aufgestellt. Hunderte Leute liefen herum und sahen sie sich an. Und es lag ein wunderbarer Duft in der Luft, es duftete nach Erfolg, Freiheit, Kreativität und ein bisschen nach Corinnas Shampoo. Tony vergaß für einen Moment alles um sie herum und fühlte sich einfach nur toll. Corinna schüttelte sie und zeigte auf eine kleine Galerie ganz hinten in der Ecke. An der Wand darüber war ein Schild aufgehängt, auf dem stand:“ Dies ist die Bildergalerie unserer Nachwuchsmalerin Antony Pfirsich“ Tony strahlte und lief darauf zu. Ein Mädchen stand vor ihrem Lieblingsbild, der Dame mit dem Pfirsichkorb auf dem Schoß. Tony erkannte das Mädchen wieder. Es war Sabrina aus der Parallelklasse. „ Und, Sabrina, gefallen dir meine Werke?“, fragte Tony. Sabrina drehte sich um. „ Oh, du bist Antony Pfirsich? Ich habe immer gedacht, du würdest nur Tony heißen. Nein, von Gefallen kann hier nicht die Rede sein. Diese Ausdruckslosigkeit, diese Leere in den Augen der Frau, Antony, Kunst ist das nicht! Oder“, sie zeigte auf das Bild von der Querflöte, „das hier. Ist das eine Querflöte oder ein silberner Stängel? Dir fehlt das Händchen, meine liebe Antony, das richtige Händchen. Tja, da kann man nichts machen. Such dir doch ein anderes Hobby, was hältst du vom recyceln? Und damit“, sie nahm ein Bild und pfefferte es auf den Boden, „kannst du anfangen.“
Mit diesen Worten ging Sabrina.
Tony stand da wie vom Donner gerührt. Was hatte Sabrina da nur für hässliche Dinge gesagt! Ob das stimmte? Fehlte wirklich der Ausdruck in ihren Bildern?
Aber Herr Wilhelm fand die Gemälde doch auch alle gut, oder hatte er gelogen? Er war doch sonst so ehrlich? Traurig hob Tony das Bild auf, das eine Katze im Wollkorb zeigte. War es wirklich so schlimm? Sie setzte sich auf den Boden und fing an, bitterlich zu weinen. „ Tony?“, hörte sie irgendwann eine zaghafte Stimme, „ Tony, was ist passiert?“ Die Stimme gehörte zu Corinna. Tony sah auf. Die ganze Halle war wie leer gefegt. Niemand war mehr da, außer Herrn Wilhelm, Corinna und ihr. „ TONY?! WAS IST DENN BLOSS PASSIERT?“, rief Corinna erschrocken und starrte in ihr verheultes Gesicht.
Auf der Rückfahrt sprach Tony kein einziges Wort. Doch plötzlich fragte Herr Wilhelm: „ Es ist wegen diesem Mädchen, dass dich so verletzt hat, richtig?“
Erschrocken starrte Tony ihn an. „ Wo...woher wissen sie das?“
„ Glaubst du, ich lasse dich in dem Gewimmel allein? Corinna hat schließlich die ganze Zeit nur in ihrer Klatsch-Zeitschrift gelesen. Die hatte ich im Auge.“
„Och, es ist schrecklich, denn ich weiß, dass sie recht hat“, sagte Tony.
Schlagartig legte Herr Wilhelm eine Vollbremsung hin. „ RECHT HABEN? DIE? DU BIST EINE ECHTE KÜNSTLERIN!“, brüllte er so laut, das der Kerl im Nachbarauto erschrocken zusammenzuckte. „WER WEISS, WIE GROSS DU IN DEINER ZUKUNFT HERAUSKOMMEN WIRDT! DU BIST EINMALIG, KIND; EINMALIG!“
„Wirklich?“, fragte Tony erschrocken und leise zugleich. Der puterrote Kopf von Corinnas Vater wurde langsam wieder heller. „Entschuldigung. Aber ich finde das nicht okay von diesem Kind, dir deinen großen Traum kaputtzumachen! Schon gut, jeder Künstler hat in seinem Leben zum Erfolg eine kleine Krise, aber die musst du meistern. Und das tust du, Antony, das weiß ich.“, flüsterte er und fuhr ganz normal weiter. Als er Tony bei ihr zuhause absetzte, ging er vor ihr in die Hocke, und sagte leise: „ Tu der Welt und uns allen den Gefallen und male weiter!“, und damit stieg er ins Auto, wo auch Corinna saß und fuhr weiter.
Tony schloss die Haustür auf, rannte nach oben in ihr Zimmer, knallte die Tür zu, schloss dreimal ab, warf sich mit ihrem Handy aufs Bett und wählte Sabrinas Nummer. Sie wusste nicht, was sie dazu trieb, aber sie wusste, dass es gut war.
„ Siebenstein?“, meldete sich die Stimme von Sabrinas Mutter.
„ Hallo, hier ist Antony Pfirsich...“ Sabrinas Mutter unterbrach sie.
„ Das begabte Mädchen von der Ausstellung? Ich fand ihre Galerie so toll! Auch meine Tochter Sabrina hat pausenlos davon geschwärmt und...“
„ PAUSENLOS?“, rief Tony. „ Nun...nein. Sie fand es nicht gut. Entschuldige, doch Sabrina hat eine schlimme Veranlagung: sie ist eifersüchtig auf alles und jeden, es muss ihr nur gefallen und ein anderer hat es gemacht. Sie kann nichts dafür.“
„ Oh...verstehe. Ich muss dann auflegen. Bis dann. Ciao.“ „Tschüss, Antony.“
Tony lag auf ihrem Bett und dachte nach. Die arme Sabrina.
Und ich arme! Sie strich über ihre dunkelrote Bluse und meinte zu sich selbst:
„ Ich hätte es mir nicht so zu Herzen nehmen sollen. Hauptsache, die anderen fanden es schön.“
Und sie rief Corinnas Vater an und teilte ihm mit: „ Die Kunst ist wieder da!“