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Die Kunst, die Welt zu besiegen
Er konnte nicht in dieser Welt leben.
Oder konnte diese Welt nicht mit ihm leben?
Keiner wusste es so genau. Keiner kannte ihn wirklich.
Seine Mutter liebte ihn, sein Vater auch. Er hatte eine glückliche Kindheit in einer glücklichen Familie.
Bis zu dem Tag, der alles veränderte. Der Tag an dem sein Kampf gegen die Welt begann.
Es war kein sehr besonderer Tag, er war jung, noch ein Teenager, und doch war dieser Tag der Wendepunkt seines Lebens.
Es war der Tag, an dem er beschloss, zu sterben.
Nein, eigentlich beschloss er es nicht, er wusste es einfach. Er wusste, er würde sterben.
Und er war glücklich.
Doch sein Glück hielt nicht lange an. Er bemerkte bald, dass die Welt seinen Entschluss nicht verstand.
Zuerst nahm er Tabletten. Das war nicht gut. Im Krankenhaus, Kohle essend und mit einem Schlauch im Magen beschloss er, diese Idee abzuhaken.
Er wartete ein wenig. Die Welt hatte seinen Entschluss nun bemerkt, sie hatte ihn im Auge, war aufmerksam, beobachtete ihn. Er konnte es nicht wagen, so bald wieder einen Versuch zu machen.
Doch er hatte gelernt.
Heimlichkeit war der Schlüssel.
Beim nächsten Mal schnitt er sich, im festen Glauben, er wäre allein in der Wohnung, die Pulsadern auf.
Auch keine gute Idee. Sie fanden ihn, noch bevor er bewusstlos wurde. Diesmal brachten sie ihn in eine Klinik.
Sie nannten es Hilfe, nannten es Heilung. Sagten ihm, er hätte eine Krankheit.
Er wollte ihnen glauben. Wollte glauben, dass das Leben doch besser sei als der Tod, dass es keinen Sinn habe, die Welt zu besiegen. Er glaubte, sie gäben ihm Hoffnung, Vertrauen.
Doch sie gaben ihm Medikamente. Er nahm sie nur einmal. Den ganzen Tag war er müde und apathisch, konnte nicht denken, war kaum ansprechbar.
Wieder hatte er gelernt.
Ab jetzt sagte er immer schön brav, er habe die Tabletten genommen und es ginge ihm gut. So durfte er bald wieder nach Hause gehen.
Statt die Tabletten zu nehmen, sammelte er sie nun. 100, 200, 300 Stück hatte er bald zusammen. Ein guter Zeitpunkt für einen neuen Versuch. Vielleicht würde es diesmal besser klappen.
Doch wieder fanden sie ihn, wiesen ihn wieder ein. Entliessen ihn nach einer längeren Zeit wieder.
Dann fand er eine Freundin. Spürte Umarmungen, empfand so etwas wie Liebe. Ein Grund, doch am Leben zu bleiben?
Für eine Weile ging es sehr gut, doch dann war es zuviel. Dieser Mensch, der ihn liebte, dieses Mädchen, sie lebte in dieser Welt, tat es gern.
Doch er kämpfte gegen die Welt, er tat es nicht gern, doch ihm blieb keine Wahl.
Also verließ er sie, machte einen neuen Versuch.
Stand auf der Brücke, sie holten ihn herunter.
War schon mit einem Bein auf den Bahnschienen, sie zogen ihn zurück.
Sammelte wieder Tabletten, sie nahmen sie ihm weg.
Nur manchmal vermisste er sein Mädchen.
Er war jetzt nur noch in der Klinik, doch es lebte sich ganz gut dort. Man brauchte nur Übung.
Übung im Lügen und darin, sich zu langweilen.
Inzwischen konnte er beides recht gut. Beim Lügen übte er sich in Kreativität, beim Langweilen dachte er sich neue Ideen für den nächsten Versuch aus.
Dieses Mal sollte alles perfekt sein. Das Wichtigste war, dass die Welt es nicht vorher bemerkte.
Als er auf dem Turm stand, jubilierte er.
Niemand war da, um ihn zurückzuhalten. Die Welt wusste nicht, dass er hier war. Endlich konnte er sein Schicksal erfüllen.
Als er von der Brüstung sprang, stieß er einen Schrei aus.
Er hatte die Welt besiegt...
Etwa einen Meter fiel er, dann kam er auf der Plattform auf.
Sein Mädchen an der Hand haltend, ging er fort. Die Klinik betrat er nie wieder.
Später erzählte er seinem Sohn von seinem Sieg über die Welt.
Im hohen Alter starb er, an der Seite seiner Frau, im Kreise seiner Enkel.
Sie alle waren sehr stolz auf ihren Opa, den Bezwinger der Welt.