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Die Kunst des Lebens

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08.08.2002
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Die Kunst des Lebens

Die Straße lag still vor ihm. Um diese späte Stunde war selten jemand unterwegs in dieser Gegend. Der Asphalt glitzerte vom Regen des Tages. Stundenlang hatte ihn dieser Regen begleitet, wie ein treuer Gefährte. Von der Gruft, dem Stützpunkt der Caritas im Kellergewölbe der Haydnkirche auf der Mariahilferstraße, wo er sich seine Suppe holte bis zum Teich im Stadtpark, wo er einen Rest des Brotes an die Enten verfütterte. Immer war er um ihn, der Regen, feucht und nicht abzuschütteln. Nun hatte er endlich aufgehört, ihn mit seiner Nässe zu bedrängen, spät aber doch.

Der Mann in dem alten, ein wenig schäbigen, braunen Mantel, war müde geworden und seine Füße verlangten ein Ausruhen vom ständigen in Bewegung sein. Sein Weg führte ihn in den Volksgarten nahe dem Burgtheater. Ein Stück hinter dem Denkmal von Kaiserin Elisabeth ist ein hübscher Rosengarten angelegt. Dort pflegte er seine Nächte zu verbringen. Wenn sie einmal nach Wien kommen, dann sollten sie sich diesen Duft von unzähligen Rosenblüten nicht entgehen lassen.

Ein paar Schritte vor sich, sah der vom Tag erschöpfte Mann, etwas Weißes im Rinnsal liegen. Langsam schlurfte er mit trägem Schritt auf den Gegenstand zu. Seine Augen waren nicht mehr die besten und erst als er vor dem Buch stand, konnte er es als solches erkennen. Der alte Rücken, steif geworden von vielen Nächten auf Parkbänken, erschwerte ihm das Hinunterbücken. Mühsam nahm er das vom Regen durchnässte Buch auf. Eigentlich war es ja nur ein Büchlein, dünn und zerknittert wie alter Stoff, lag es in seiner Hand. Er hielt es unter die Straßenbeleuchtung um den Aufdruck entziffern zu können. „Die Kunst des Lebens“ stand darauf geschrieben. Ein stilles Lächeln legte sich über sein Gesicht, welches sich im Laufe der Jahre in tiefe Falten zusammengeschoben zu haben schien. Er hielt das Buch bedächtig in seiner Hand und nahm es mit zu sich nach Hause, auf die Parkbank, neben den Rosensträuchen im Volksgarten.

Er richtete seinen Platz für die Nacht. Legte behutsam eine Decke auf die Bank und stapelte, das, in einem Plastiksack vor dem Regen bewahrte, trockene Zeitungspapier zu einem polsterartigen Gebilde auf.
Die schmiedeeiserner Laterne spendete nicht sehr viel Licht, aber für ihn bildete sie eine behagliche Atmosphäre, die er in diesen Abendstunden brauchte. Er räusperte sich, wischte sich kurz die Augen, wie um sie klar zu machen und las die Geschichte über die Kunst des Lebens.

Man erzählte ihm darin wie man Verantwortungen abgeben könne, Aufgaben delegieren könne und trotzdem aus wenig, viel machen könne. Die Kunst sei es, klärt ihn der Autor dieses kleinen Werkes auf, den Mut zur Selbständigkeit zu beweisen, sich aufzumachen und an die eigene Kraft zu glauben.

Die Augen wollten ihm zufallen, aber es war ihm ein Bedürfnis das seltene Glück auszukosten, im Bett ein Buch lesen zu können. Er legte das Büchlein vorsichtig auf seinen Bauch, nahm aus dem Mantelsack ein Kaubonbon, wickelte es aus dem Staniolpapier bedächtig aus und steckte es in seinen Mund. Vorne am Karlsplatz ist ein Gymnasium, vielleicht kennen sie es? Dort reichte es ihm ein Junge als nette Geste für einen Obdachlosen. Jetzt war es ein willkommenes Naschwerk während seiner nächtlichen Studie über die Kunst des Lebens.

Er steckte das zusammengerollte Papier in seine Manteltasche und nahm, das süße Zuckerwerk genussvoll schmatzend, das Buch wieder in seine Hand.

Weiters, so ließ ihn der Schreiber wissen, wäre es ganz leicht, wenn die ersten Sprossen der Karriereleiter erst einmal erreicht seien, weiter empor zu schreiten bis in jene Etagen, wo auch das große Geld daheim ist. Und dann – so versprach das Buch dem wettergegerbten, grauhaarigen, bonbonlutschenden Mann auf seiner Bank im Park, dann habe er es geschafft. Er könne sich danach alles leisten was er wolle und sei es den ganzen Tag in der Sonne zu liegen oder in seinem prachtvollen Garten des Nachts in die Sterne zu blicken.

Er schlug das Büchlein zu und streichelte mit seiner faltigen Hand über den Einband aus Leinen. Zufrieden schloß er kurz die Augen und ein tiefes Seufzen zeugte davon, dass er den Sinn des Gelesenen in sich aufgenommen und begriffen hatte. Vorsichtig, um es nicht dem Schmutz der nassen Wiese auszusetzen, legte er das Buch in seinen Plastiksack.

Dann streckte er sich auf der Bank aus, faltete die Hände über seiner Brust und blickte inmitten eines prachtvollen Gartens, auf einer Bank behaglich hingebettet, um sich die wunderbar duftenden Rosen, hinauf zu den Sternen am nächtlichen Himmel. Die Kunst des Lebens schien er doch zu beherrschen, wer hätte das gedacht. Dann schloss er seine müden Augen und schlief ein.

 
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Hallo schnee.eule

Deine Gesichte gefällt mir. Schön, gefühlvoll und sehr
detailiert beschrieben. Hatte das Gefühl mit
dem alten Mann auf der Bank zu liegen. Nur durfte ich
nicht in das Buch hineinschauen. ;-)

Nur, was bedeutet .......die Füße wollten Ausrasten?
Oder meinst Du rasten?

Ist mir nur aufgefallen, vielleicht ist es ja auch
korrekt so, bin noch nicht so geübt in guter Kritik.
Kommt hoffentlich noch *grins*.

Liebe Grüsse Season

 
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Servus Seasons!

Ups, vielleicht sagt man das nur bei uns in Wien so - ich muss mal meine Füße ein bisserl ausrasten? Werde ein europäischeres Wort dafür suchen. Danke für den Hinweis.

Dass dir die Geschichte gefällt freut mich. Ganz besonders, wenn du es so beschreibst, dass du dich mit dem Mann auf der Parkbank siehst, dann weiß ich, dass ich dich "eingefangen" habe.

Lieben Gruß an dich - schnee.eule

 

Hey schnee.eule

Eingefangen auf jeden Fall. *lach*

Gruss Season

 

hallo schnee.eule,

hey ich hab ungefähr gewußt, dass das ende so sein wird. nicht weil es vorhersehbar war. nein weil ich ziemlich schnell begriffen hab worauf du hinaus wolltest.
der alte mann hat die wunderbare gabe noch einfache dinge ob ihres wertes beurteilen zu können.
was ist für uns schon ein bonbon. wo sind für uns die verborgenen werte in diesem hektischen alltag. wo man immer mehr will und nie richtig zufrieden ist. hat man 100 euro sind die schnell ausgegeben, hat man 200 euro sind auch die schnell weg. für irgendwas, das uns glücklicher zu machen scheint. aber warum braucht man dann immer etwas neues, besseres??

oh jetzt war ich in meinem element, naja ich denke das du nicht exakt das ausdrücken wolltest. aber siehste, man wird zum denken angeregt.
jeder sollte für sich seine kunst des lebens finden.

gruß

toxi

 

Hallo schnee.eule,

der Kerngedanke Deiner Geschichte kommt auch in einem `Witz´ vor: Ein reicher Ami in der Karibik sagt zu einem faulenzenden Fischer, er solle doch mehr fischen, ein eigenes Boot kaufen usw. bis er dann in der Sonne liegen kann, weil andere für ihn arbeiten. Aus diesem Plot machst Du eine Menge, die Wahl des Obdachlosen als Protagonist ist taktisch klug, weil man über seine Zufriedenheit verwundert ist. Deine eingeschobenen Absätze verlangsamen das Tempo der Geschichte, passend zur ruhigen Sprache. So kann man die innere Ruhe des P. erfahren, seine Reaktion auf das Buch wird glaubhaft.
Obdachlose sind sicher selten glücklich, doch es ist auch einmal interessant, sich nicht mit den üblichen, pauschalen Aspekten des Obdachlosen- Daseins zu beschäftigen. In dieser Geschichte ist der (scheinbar) Unterpriviligierte eigentlich der, der es `geschafft´ hat.

Liebe Grüße,

tschüß... Siegbert

 

Servus Toxinchen !

Der Gedankengang den du eingebracht hast über den Wert der Dinge, z.B. eines Zuckerls, ist mir selbst in dieser Geschichte gar nicht so bewusst gewesen. Ich danke dir dafür, er bereichert mich.

Lieben Gruß an dich - Eva


Lieber Woltochinon !

Einen Obdachlosen, neben seinem nicht beneidenswerten Alltag, auch als Menschen zu erkennen, der über das Bedürfnis des Lesens eines Buches verfügt und Behaglichkeit ebenso in der ihm zur Verfügung stehenden Situation suchen kann, das mochte ich gerne ausdrücken. Die vielen großen Ziele scheinen oft unerreichbar und könnten doch auch sehr nah sein. Dein Fischerbeispiel beschreibt es ähnlich.

Lieben Gruß auch an dich - Eva

 
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Hallo schnee.eule,

das möchtest Du nicht ausdrücken, das h a s t Du sehr feinfühlig ausgedrückt! Wie ich schon sagte:Ihm ist manches trotz seiner Situation gelungen, was Andere erst noch bewältigen müssen.

Liebe Grüße,

tschüß... Siegbert

 

Hallo schnee.eule,

du hast eine schöne Geschichte erzählt. Du bist damit bereits, so wie auch mit den letzten, im Freiland unterwegs. Ich muss dir gestehen, dass ich deine Erzählungen aus Zimmern und Nächten schöner finde, doch du wurdest ja beraten, raus und über die Felder zu gehen.
Ein ganz kurzer Querverweis zur Vergangenheit des alten Mannes hätte der Geschichte gut getan. Ob der über die Kunst des Lebens Bescheid weiß, möchte ich so nicht beurteilen.
Sehr schön finde ich, wie du die Parkbank als sein Zuhause titulierst. Auch, wie du in Wortbildern malst.

Male weiter für uns.

Liebe Grüße - Aqualung

 

Lieber Aqualung!

Nur die Aussage des Büchleins lässt ihm diesen genüsslichen Moment, die Kunst des Lebens zu beherrschen. Eigentlich schmunzelt er, vielleicht sogar ein wenig zynisch über den Autor.

Die Geschichten, welche aus der Sehnsucht und Wehmut meines Innenlandes entstanden sind, unterscheiden sich von den jetzigen? Möglicherweise. Freu dich mit mir, dass meine Geschichten vielleicht an Tiefe verlieren, ich als Mensch aber an Bewusstsein und Sicherheit gewinne. Wer weiß, was sich letztlich für Geschichten daraus entwickeln werden?

Lieben Gruß an dich - Eva

 

Lieber Aqualung !

Einen kleinen Nachschlag genehmige ich mir noch.

1. Das Wort "zynisch" von vorher trifft es nicht, weiß aber im Moment kein passendes.

2. Man hat mich nicht beraten wie du meinst, ich habe mich aus der Situation im wahrsten Sinn des Wortes herausgemalt und es war unglaublich toll.

Alle Liebe - Eva

 

Grüß dich Schnee.Eule,

diese Story von dir hat mich berührt - irgendwie stimmt sie einen melancholisch. Du hast sie sehr behutsam und schön erzählt - ich bereu`s nicht, sie gelesen zu haben.

Diese Stellen möchte ich als besonders positiv hervorheben:

Er steckte das zusammengerollte Papier in seine Manteltasche und nahm, das süße Zuckerwerk genussvoll schmatzend, das Buch wieder in seine Hand.

Die Kunst des Lebens schien er doch zu beherrschen, wer hätte das gedacht.

Grüße von
Liz

 

Hallo,

Deine Geschichte ist im großen und ganzen ein sehr guter Ansatz. Jedoch hätte ich persönlich noch einige Dinge geändert:

1.) Absatz

Ich finde es schade, daß im ersten Absatz vorrweggenommen wird, es handle sich um einen Obdachlosen. Ich denke, die Geschichte ist ohne dem ersten Absatz besser bedient.

2.) Wien

Nicht jeder kennt Wien und du willst sicher nicht diese Leser aus deiner Geschichte ausschließen. Besser wäre es, die Plätze zu umschreiben und den Leser 'erraten' lassen, es kann nur Wien sein. Das wäre eine lustige Rätselrallye die im Hintergrund arbeiten könnte. Die Unwissenden können sich durch deine Beschreibung noch immer, oder gar besser, die Stadt vorstellen um die es sich handelt.


3.) Unklarheiten

Bonbon, Junge, Regen

Was suggestieren uns diese drei Bilder? Sollen sie etwas suggestieren? Warum regnet es? Warum hat er das Bonbon von einem Jungen?


Sonst sehr gute Geschichte.

Mfg,
Pierre D.

 

Hey Schnee.Eule,

Du beschreibst sehr schön. Aber kennst Du von Böll die "Anekdote zur Minderung der Arbeitsmoral."? Das gleiche Thema. Natürlich kein Vergleich, aber Du hast Deine Idee auch gut umgesetzt.

BeZeh

 

Liebe Liz !

Wenn dich die Geschichte berührt hat, dann ist sie nicht vergeblich geschrieben worden. Vor allem freut es mich, wenn du die Behutsamkeit entdecken konntest. Denn auf die ist es mir hier auch sehr angekommen.

Lieben Gruß an dich - schnee.eule


Servus Pierred!

Danke für das Lesen und Auseinandersetzen mit dem Text.

zu 1)
Aus dem ersten Absatz ist herauszulesen, dass der Protagonist ein sozial bedürftiger Mensch ist. Das ist nun aber doch die Basis auf der sich die Erkenntnis aus dem Büchlein aufbaut.

zu 2)
Tatsächlich wollte ich zum einen jene ansprechen die in dieser Stadt wohnen, die Örtlichkeiten wieder entdecken können, mitspazieren sollen, wenn du so willst.
Zum anderen hoffte ich doch gerade durch das Hinweisen auf diese Plätze dem Ortsunkundigen etwas von dieser Stadt zu erzählen. Es sollte kein Ausschließen, sondern ganz im Gegenteil, ein Einladen stattfinden.

zu 3)
Es tut mir jetzt leid, wenn ich deine Erwartungshaltung enttäuschen muss, denn vielleicht gefällt dir die Geschichte jetzt nicht mehr - Regen, der Junge, das Bonbon sind Untermalungen die ein Stimmungsbild auslösen sollen. Sie sind kein Symbol, suggerieren nichts Zusätzliches. Der Regen soll z.B. nichts anderes tun, als ein Bild von einem Menschen in dir wachrufen der durch eine Straße geht in der der Aspahalt glänzt, die Luft feucht ist, vielleicht sein Atem sichtbar ist, Atmosphäre schaffen.

Lieben Gruß an dich - schnee.eule

 

Servus BeZeh!

Nein, leider, kenne ich nicht. Ist aber sicher lesenswert, wenn sich ein Mann mit so großem Namen dieses Themas angenommen hat. Danke für den Hinweis, freut mich, dass du mit meiner Umsetzung desselben auch was anfangen konntest.

Liebe Grüße an dich - schnee.eule

 

Hallo SchneeEule,

Danke für die Antwort.
Allerdings scheinst du mich bei Punk 2 missverstanden zu haben. Ich wollte veranschaulichen, daß du Ortsunkundige ausschließt indem du nur die Namen der Lokationen nennst, diese allerdings nicht näher beschreibst. (Bsp: Wie ist die Atmosphäre auf der Mariahilfer?) Wiener können leicht mit dir mitgehen, bin selbst ein solcher. Allerdings wie sieht es aus mit Flennen, Ostfriesen oder gar Mongolen?

Grüße aus dem 9. Wiener Gemeindebezirk,

Pierre D.

 

Hallo Pierre!

Ok, alles klar, ich verstehe was du gemeint hast. Ich werde meine Geschichte überlesen und gedanklich Text einfließen lassen. Bin neugierig ob es behindernd oder vertiefend wirkt.

Schönen Tag für dich - Eva

 

Hey Du!!!
Ich hab wollte gerne wissen, was du so schreibst.
es gefällt mir sehr gut.
besonders diese geschichte.
ich mag sie, sie beruhig irgentwie, sie hilft sich zu errinnern und besinnen. Danke!

liebe Grüße
Holle

 

Liebe Holle!

Es freut mich, dass du dich für meine Art des Schreibens interessiert hast. Es ist wertvoll für mich, wenn dir meine Geschichte die Möglichkeit bot dich zu besinnen auf das was dir wichtig schien.

Lieben Gruß an dich - schnee.eule

 

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