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Die Kunst des Lebens
Die Straße lag still vor ihm. Um diese späte Stunde war selten jemand unterwegs in dieser Gegend. Der Asphalt glitzerte vom Regen des Tages. Stundenlang hatte ihn dieser Regen begleitet, wie ein treuer Gefährte. Von der Gruft, dem Stützpunkt der Caritas im Kellergewölbe der Haydnkirche auf der Mariahilferstraße, wo er sich seine Suppe holte bis zum Teich im Stadtpark, wo er einen Rest des Brotes an die Enten verfütterte. Immer war er um ihn, der Regen, feucht und nicht abzuschütteln. Nun hatte er endlich aufgehört, ihn mit seiner Nässe zu bedrängen, spät aber doch.
Der Mann in dem alten, ein wenig schäbigen, braunen Mantel, war müde geworden und seine Füße verlangten ein Ausruhen vom ständigen in Bewegung sein. Sein Weg führte ihn in den Volksgarten nahe dem Burgtheater. Ein Stück hinter dem Denkmal von Kaiserin Elisabeth ist ein hübscher Rosengarten angelegt. Dort pflegte er seine Nächte zu verbringen. Wenn sie einmal nach Wien kommen, dann sollten sie sich diesen Duft von unzähligen Rosenblüten nicht entgehen lassen.
Ein paar Schritte vor sich, sah der vom Tag erschöpfte Mann, etwas Weißes im Rinnsal liegen. Langsam schlurfte er mit trägem Schritt auf den Gegenstand zu. Seine Augen waren nicht mehr die besten und erst als er vor dem Buch stand, konnte er es als solches erkennen. Der alte Rücken, steif geworden von vielen Nächten auf Parkbänken, erschwerte ihm das Hinunterbücken. Mühsam nahm er das vom Regen durchnässte Buch auf. Eigentlich war es ja nur ein Büchlein, dünn und zerknittert wie alter Stoff, lag es in seiner Hand. Er hielt es unter die Straßenbeleuchtung um den Aufdruck entziffern zu können. „Die Kunst des Lebens“ stand darauf geschrieben. Ein stilles Lächeln legte sich über sein Gesicht, welches sich im Laufe der Jahre in tiefe Falten zusammengeschoben zu haben schien. Er hielt das Buch bedächtig in seiner Hand und nahm es mit zu sich nach Hause, auf die Parkbank, neben den Rosensträuchen im Volksgarten.
Er richtete seinen Platz für die Nacht. Legte behutsam eine Decke auf die Bank und stapelte, das, in einem Plastiksack vor dem Regen bewahrte, trockene Zeitungspapier zu einem polsterartigen Gebilde auf.
Die schmiedeeiserner Laterne spendete nicht sehr viel Licht, aber für ihn bildete sie eine behagliche Atmosphäre, die er in diesen Abendstunden brauchte. Er räusperte sich, wischte sich kurz die Augen, wie um sie klar zu machen und las die Geschichte über die Kunst des Lebens.
Man erzählte ihm darin wie man Verantwortungen abgeben könne, Aufgaben delegieren könne und trotzdem aus wenig, viel machen könne. Die Kunst sei es, klärt ihn der Autor dieses kleinen Werkes auf, den Mut zur Selbständigkeit zu beweisen, sich aufzumachen und an die eigene Kraft zu glauben.
Die Augen wollten ihm zufallen, aber es war ihm ein Bedürfnis das seltene Glück auszukosten, im Bett ein Buch lesen zu können. Er legte das Büchlein vorsichtig auf seinen Bauch, nahm aus dem Mantelsack ein Kaubonbon, wickelte es aus dem Staniolpapier bedächtig aus und steckte es in seinen Mund. Vorne am Karlsplatz ist ein Gymnasium, vielleicht kennen sie es? Dort reichte es ihm ein Junge als nette Geste für einen Obdachlosen. Jetzt war es ein willkommenes Naschwerk während seiner nächtlichen Studie über die Kunst des Lebens.
Er steckte das zusammengerollte Papier in seine Manteltasche und nahm, das süße Zuckerwerk genussvoll schmatzend, das Buch wieder in seine Hand.
Weiters, so ließ ihn der Schreiber wissen, wäre es ganz leicht, wenn die ersten Sprossen der Karriereleiter erst einmal erreicht seien, weiter empor zu schreiten bis in jene Etagen, wo auch das große Geld daheim ist. Und dann – so versprach das Buch dem wettergegerbten, grauhaarigen, bonbonlutschenden Mann auf seiner Bank im Park, dann habe er es geschafft. Er könne sich danach alles leisten was er wolle und sei es den ganzen Tag in der Sonne zu liegen oder in seinem prachtvollen Garten des Nachts in die Sterne zu blicken.
Er schlug das Büchlein zu und streichelte mit seiner faltigen Hand über den Einband aus Leinen. Zufrieden schloß er kurz die Augen und ein tiefes Seufzen zeugte davon, dass er den Sinn des Gelesenen in sich aufgenommen und begriffen hatte. Vorsichtig, um es nicht dem Schmutz der nassen Wiese auszusetzen, legte er das Buch in seinen Plastiksack.
Dann streckte er sich auf der Bank aus, faltete die Hände über seiner Brust und blickte inmitten eines prachtvollen Gartens, auf einer Bank behaglich hingebettet, um sich die wunderbar duftenden Rosen, hinauf zu den Sternen am nächtlichen Himmel. Die Kunst des Lebens schien er doch zu beherrschen, wer hätte das gedacht. Dann schloss er seine müden Augen und schlief ein.