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Die Krone von Vara I - Die Prophezeiung
Mit zwei Jutesäcken beladen, trat Sato in den vorderen Raum. Sein Gesicht war vor Anstrengung gerötet.
„Sato, darf ich offen zu dir sprechen?“, fragte Gilean.
„Was gibt es, junger Mann?“
Gilean wusste, dass dieser Moment nicht eben günstig war. Und doch: Würde er noch länger warten, bis beide wieder einmal ungestört waren, würde ihn vielleicht sein Mut verlassen. Er holte tief Luft.
„Ich möchte mich den Rebellen anschließen!“
Einen Augenblick lang war Sato wie erstarrt, dann ging er in die Knie und stellte bedächtig seine Last ab. Seine Augenbrauen hoben sich.
„Warum glaubst du, dass ich Kontakt zu den Rebellen habe?“
Gilean fühlte, wie seine Wangen sich erhitzten. Fast unwillkürlich senkte er die Stimme.
„Es kann doch kein Zufall sein. Manchmal kommen Menschen zu dir, die du in den Keller führst. Wenn ich dich frage, was sie wollen, weichst du mir aus. Und einmal hat die ‚Sicherheit’ deinen Laden durchsucht. Obwohl sie nichts gefunden haben, hattest du Angst – das habe ich gespürt. Und außerdem“, fuhr er fort, „kenne ich deine Meinung über die Santi.“
Sato musterte ihn neugierig, als sähe er ihn zum ersten Mal – so, wie er wirklich war.
„Du hast dich bisher von jedem Ärger mit den Santi ferngehalten“, meinte er. „Warum gerade jetzt?“
Gilean zupfte an seiner Schürze. Ihm war etwas unbehaglich zumute.
„Wie du weißt, musste ich mich um meine Eltern kümmern. Doch nun sind beide nicht mehr am Leben.“
Sato nickte.
„Dein Vater hat jede Form von Gewalt abgelehnt.“
„Das ist wahr“, sagte Gilean beschämt. „Und ich weiß jetzt schon, in welchem Zwiespalt ich mich befinde. Aber ich kann nicht länger zusehen, wie Senlai unser Land zu Grunde richtet. Naial muss wieder frei sein!“
Eine Zeit lang schwieg Sato. Der alte Mann schien nachzudenken. Mit einem Male lächelte er.
„In ein paar Tagen findet eine Versammlung statt. Ich werde dir sagen, wann es so weit ist.“
„Tatsächlich?“, flüsterte Gilean. Er konnte seine Aufregung nur mühsam verbergen. Bald würde auch er kämpfen. Endlich, endlich konnte er seinem Land dienen – einem Land, das den Santi niemals gehören sollte!
„Und nun“, sagte Sato unvermittelt, „wollen wir den Laden aufschließen.“
Den ganzen Vormittag über war Gilean nicht bei der Sache. Seine Hände zitterten, wenn er einen Kunden bediente. Wenn Sato ihn ansprach, reagierte er erst nach einer Weile. Der Gedanke, dass er ein Rebell sein würde, beherrschte ihn vollkommen. Wann würde Sato ihm den Zeitpunkt des Treffens nennen? Er konnte es kaum erwarten.
Als die Sonne am höchsten stand, kam ein Mädchen in den Laden. Gilean erkannte gleich, dass sie keine Naiali war. Sie trug ein blaues Kleid mit eingewirkten Goldfäden. Ihr langes, schwarzes Haar glänzte ölig.
„Guten Tag!“, sagte sie auf Santi.
Der Junge war mehr als verwundert. Abgesehen von der ‚Sicherheit’ hatte sich noch kein Santi in Satos Laden verirrt. Seine Kunden waren Einheimische – Menschen, die nicht auf die hohen Löhne der Besatzer hoffen durften. Und außerdem waren Santi und Naiali grundverschieden. Sie aßen nicht die gleichen Speisen, hatten nicht die gleichen Wünsche und würden einander niemals verstehen.
„Gibt es hier Zuckerfrüchte?“, fragte das Mädchen.
Dies erstaunte Gilean noch mehr. Es war doch allgemein bekannt, dass die Santi Zuckerfrüchte nicht ausstehen konnten!
„Ja, die gibt es“, antwortete Sato an seiner Stelle. „Wie viele möchten Sie denn?“
Während der alte Mann dem Mädchen eine Tüte voller Früchte reichte und ihr Geld entgegennahm, wagte Gilean, sie genauer zu betrachten. Sie hatte ein ovales Gesicht mit hohen Wangenknochen. Ihre vollen Lippen waren leicht aufgesprungen. Und dann blickte er in ihre Augen. Sie waren von einem tiefen, unergründlichen Blau. Plötzlich dachte Gilean, dass er etwas Schöneres nie gesehen habe.
„Was geschieht nur mit mir?“, fragte er sich.
Als das Mädchen den Laden verließ, hörte er, wie seine Stimme ihren Abschiedsgruß erwiderte. Sato war mit der Ausbreitung neuer Waren beschäftigt. Der Junge vermochte nicht zu sagen, ob er etwas von seiner Verwirrung bemerkt hatte. Auch den Rest des Tages verbrachte er mit zerstreuten Gedanken. Doch nun hatte er einen anderen Grund.
Als Gilean auf dem Weg nach Hause war, sah er wieder etwas klarer. Im Grunde genommen war sein Erlebnis lächerlich. Nur, weil eine Kundin hübsch war, bedeutete dies doch nicht, dass er sich jäh in sie verliebt hatte. Zudem war der Gedanke an die Liebe zu einer Santi mehr als absurd. Er brauchte nur um sich zu spähen, damit sein Zorn aufs Neue entflammte. Auf den Straßen von Vara, Naials einst so blühender Hauptstadt, waren mehr Santi als Naiali zugegen. Alle Inschriften auf den Schildern waren in der Sprache Senlais verfasst. Immer wieder gewahrte er, wie die Santi ein geschichtsträchtiges Haus dem Erdboden gleichmachten, um es durch einen ihrer hässlichen Klötze zu ersetzen. Auch der milde Abendwind, der dann und wann Blütenblätter vor sich hertrieb, konnte Gilean nicht erfreuen. Was bewegte er noch, in diesem Naial, das von der Landkarte verschwunden war?
„Deshalb siedeln sich die Santi doch bei uns an“, dachte Gilean. „Damit wir uns mit ihnen vermischen und unser Volk ausgelöscht wird. Aber ich werde ihnen diesen Gefallen nicht tun!“
Nun war er bei seinem Wohnhaus angelangt. Es stammte noch aus der Zeit, als Niria regiert hatte, doch sein Glanz war längst verblasst. An der Fassade blätterte rote Farbe ab, manche Fenster waren blind oder gar eingeschlagen. Dieses Haus war Gilean immer als Symbol für Naial erschienen. Vorsichtig öffnete er die Tür und betrat die Eingangshalle. Zwei schmutzige Kinder liefen an ihm vorbei. Er stieg die Treppen hinauf, bis er seine Dachkammer erreicht hatte. Sie bot kaum genügend Raum für einen Menschen, und doch hatte er sie achtzehn Jahre lang mit seinen Eltern geteilt.
„Vater, was würdest du heute zu mir sagen?“
Er schob diesen Gedanken fort, obwohl er dabei einen leisen Schmerz verspürte. In ein paar Tagen würde er seine neue Bestimmung finden, und er würde ihr ruhig entgegengehen. Langsam sank er auf sein Bett. Als er die Augen schloss, stand das Mädchen vor ihm. „Nein“, dachte er, bevor der Schlaf ihn ereilte, „es darf nicht sein!“
Am nächsten Tag begrüßte ihn Sato, als hätte ihr bedeutsames Gespräch nie stattgefunden. Gilean wollte ihn auch nicht darin erinnern, denn er fühlte sich schon viel gefasster. Gerade plauderte Sato mit einer Frau, die Obst und Gemüse eingekauft hatte.
„Wie geht es deinen Kindern?“, fragte er.
„Ilena war gestern krank, aber heute sind alle putzmunter. Und was macht deine Frau?“
Gilean lächelte. Alle Naiali in diesem Viertel kannten Sato und kamen gerne in seinen Laden, um Neuigkeiten auszutauschen. Freilich waren diese meist von harmloser Art. Was die geheimnisvollen Besuche anging… - nun, das würde er bald erfahren.
Schließlich nahm die Frau ihren Korb unter den Arm und verabschiedete sich. Erst in diesem Augenblick erkannte Gilean, wer hinter ihr gestanden war.
„Guten Tag!“ sagte das Mädchen in schwungvollem Tonfall.
Gilean blickte Hilfe suchend um sich, doch Sato kehrte ihm den Rücken zu. Er hatte begonnen, ein leeres Regal neu zu füllen. Nun lag es also an ihm, die Situation zu meistern. Entschlossen stellte er eine Frage.
„Wollen Sie Zuckerfrüchte?“
„Ja, bitte! Eine ganze Tüte voll!“
Ihre Augen glänzten, wenn sie lachte. Er konnte kaum verstehen, dass sie so unbekümmert war. Entgegen seinem Willen strebte er danach, mehr über sie zu erfahren.
„Die essen Sie wohl gerne“, sagte er zögernd, während er die Früchte einsammelte
„Ich könnte sie den ganzen Tag essen“, antwortete das Mädchen. „Vor kurzem waren wir bei einer Familie eingeladen – dort habe ich sie kennen gelernt.“
„Sind Sie denn schon lange in Naial?“, fragte Gilean unwillkürlich.
„Erst seit drei Monaten. Mein Vater arbeitet in der Stadtverwaltung. Mutter hat Heimweh, aber mir gefällt es hier.“
„Obwohl ich dich nicht hergebeten habe!“, dachte der Junge. Dennoch wollte sich seine Wut nicht gegen sie richten.
„Wie ist Ihr Name?“
Ihm war klar, dass diese Frage ein Fehler war. Nun war es zu spät.
„Larla. Und wie heißen Sie?“
„Gilean“, stammelte er.
„Das ist aber ein schöner Name!“
Gilean lächelte verzerrt. Wieder wusste er nicht, wie ihm geschah. Er war froh, als sie endlich bezahlt hatte und sich zum Gehen wandte.
„Bis bald!“, rief sie ihm von draußen zu.
Der Junge lag auf seinem Bett und starrte an die Decke, die einst mit Malereien verziert gewesen war. Nun kündeten nur noch Reste von der früheren Pracht des Hauses.
„Wie kann ich zu den Rebellen gehen, wenn ich mich mit einer Santi anfreunde?“, dachte er. Sicher, er hatte sie als Feindin zu betrachten, und doch… Je länger er grübelte, desto aussichtsloser erschien ihm seine Lage. Er konnte nur hoffen, dass er Larla nicht schon am folgenden Tag wieder begegnen würde.
„Wartest du auf jemanden?“, fragte Sato.
„Aber nein, wie kommst du darauf?“
„Vielleicht, weil du ständig zur Tür hin starrst.“ Der alte Mann grinste, als ob er der Hüter eines Geheimnisses wäre. „Aber mich geht das ja nichts an.“
Gilean spürte die verhasste Röte auf seinem Gesicht. Am liebsten hätte er erwidert: „Es ist nicht so, wie du denkst.“ Wenn Larla zurückkäme, würde sie ihn in etwas hineinziehen, woraus er aus eigener Kraft nicht mehr entfliehen könnte. Was war er doch für ein Schwächling, sich von dem Lachen eines Mädchens hinreißen zu lassen! Er musste diese Episode so schnell wie möglich vergessen.
Nachdem Sato den Laden geschlossen hatte, legte er eine Hand auf Gileans Schulter und sagte: „Morgen nach Einbruch der Dunkelheit, Gura-Straße 15. Nimm den Weg durch den Hinterhof und achte darauf, dass dir niemand folgt. Das Kennwort lautet Vogelherz.“
Obwohl Gilean auf diese Ankündigung vorbereitet war, schlug sein Herz schneller. Zugleich fühlte er sich, als habe jemand unsichtbare Fesseln von ihm gelöst. Keiner würde ihn daran hindern, seine Pflicht zu erfüllen.
Wieder einmal ertappte Gilean sich dabei, dass er nach dem Stand der Sonne sah. Bis zum Abend würde noch viel Zeit verstreichen.
„Wenn du immer so ungeduldig bist“, dachte er, „werden die Rebellen kaum Verwendung für dich haben.“ Er lächelte angesichts dieses Unvermögens und fuhr fort, den Boden zu kehren. Bald darauf glänzte dieser wieder.
Als Gilean den Laden verlassen wollte, hielt Sato ihn auf.
„Diese Santi war wieder hier“, sagte er.
„Tatsächlich?“, meinte der Junge und dankte den Göttern, dass sie ihm diese Zusammenkunft erspart hatten. Doch auf der Straße fand er sich Larla gegenüber.
„Der Ladenbesitzer hat gesagt, dass Sie jetzt Mittagspause haben“, erklärte sie strahlend. „Wollen Sie ein paar Zuckerfrüchte?“
„Nein, ich werde jetzt essen gehen“, antwortete Gilean und beschleunigte seine Schritte. Larla wich nicht von seiner Seite.
„Das ist eine gute Idee. Darf ich mitkommen?“
„Nein!“ Gilean schrie beinahe. „Das dürfen Sie nicht! Lassen Sie mich endlich in Ruhe!“ Als er diese Worte sprach, schien es ihm, als verletze er sich selbst. Warum nur?
Larla schwieg einen Moment lang. Dann wandte sie sich ihm zu und sagte mit ruhiger Stimme: „Wenn ich Sie beleidigt habe, bedauere ich das. Ich würde es gerne wieder gutmachen.“
Der Junge konnte es zunächst nicht fassen. War ihr denn nicht klar, wie aufdringlich sie war? Andererseits erkannte er, dass ihre Entschuldigung ehrlich war. Er hatte noch nie erlebt oder auch nur gehört, dass ein Santi etwas Ähnliches geäußert hatte.
„Nein, Sie haben mich nicht beleidigt. Ich muss mich entschuldigen. Ich weiß nicht… Ich habe Hunger.“
Larlas Lachen gewann wieder die Oberhand.
„Ich auch! Wo wollen wir hin?“
„Ein paar Straßen weiter ist eine Bäckerei. Die machen herrliche Fladen“, erwiderte Gilean, selbst erstaunt über diese Antwort.
Gemeinsam traten sie den Weg dorthin an. Menschen zogen in beiden Richtungen an ihnen vorbei, Kutschen ratterten über das Kopfsteinpflaster von Vara. Die wenigen Wolken am Himmel störten die Sonne nicht. Gilean wäre zunächst am liebsten umgekehrt, doch allmählich gewöhnte er sich an Larlas Anwesenheit. Sie begann, von ihrer Familie zu erzählen.
„Und was machen Ihre Eltern?“ fragte sie.
„Sie leben nicht mehr.“
„Das tut mir Leid“, meinte sie verlegen. Gilean hatte diesen Satz schon oft vernommen, aber auch er hätte keinen besseren gekannt.
„Nun ja, wenn man krank und dazu arm ist…“
Er stockte. War er zu weit gegangen? Larla schien es gleichgültig zu sein. Nein, das stimmte nicht, denn sie sah ihn mitfühlend an.
„Hier sind wir“, sagte er und öffnete ihr die Tür. In der Bäckerei wehte ihnen der Duft von gebratenem Fleisch entgegen. Larla verfolgte interessiert, wie es in Fladen eingehüllt wurde.
„Ich habe so etwas noch nie gegessen“, sagte sie.
Gilean lud sie ein. Nachdem der Bäcker ihnen ihr Essen gereicht hatte, biss sie vorsichtig davon ab. Zuerst verzog sie ihr Gesicht ob der Schärfe. Dann kaute sie genüsslich und bemerkte anschließend, es sei außerordentlich gut. Auch Gilean erschien das Mahl wie ein willkommenes Geschenk. Als er in Larlas Gelächter einstimmte, hatte er beinahe vergessen, wer und wo er war.
„Ich komme morgen wieder!“ sagte Larla, als sie sich vor dem Laden verabschiedeten. Gilean kehrte sogleich zu seiner Arbeit zurück. Etwas hatte sich grundlegend geändert, dass wusste er mit unbarmherziger Klarheit. Doch er wollte nicht daran denken. Auch nicht an den bevorstehenden Abend…
Gilean stand vor einer unscheinbaren Holztür. Zaghaft klopfte er. Wie aus dem Nichts tauchte ein frühzeitig ergrauter Mann auf und beäugte ihn mit undurchdringlicher Miene.
„Vogelherz“, brachte Gilean hervor.
Der Mann nickte und ließ ihn hinein. Er führte ihn durch mehrere Gänge in einen kahlen, aber ausgedehnten Raum. Etwa dreißig Menschen waren anwesend, einige von ihnen glaubte Gilean zu kennen. Seltsamerweise hatte er nicht das Gefühl, an einer Versammlung von Rebellen teilzunehmen. Er versuchte, etwas von ihren Gesprächen zu erhaschen, doch gab er es bald wieder auf. Abgesehen von Sato, der ihm vom anderen Ende des Raumes aus zublinzelte, begrüßte ihn niemand.
Gilean wartete. Er hatte keine Ahnung, woher er den Mut gefasst hatte, das Haus in der Gura-Straße aufzusuchen. Möglicherweise war es auch gar keine Frage des Willens. Langsam beschlich Gilean der Gedanke, dass er vielleicht nicht mehr als eine Marionette der Schicksalsgöttin war. Erst hatte sie dafür gesorgt, dass sich Larlas Weg mit seinem kreuzte. Und nun hatte sie ihn zu den Rebellen geleitet. Vielleicht lag in all dem ein Sinn, den er noch nicht zu begreifen vermochte.
Plötzlich legte sich das Flüstern im Raum. Ein Mann, der das rote Gewand eines Priesters trug, hatte sich in dessen Mitte platziert.
„Liebe Freunde Naials“, begann er.
Gilean richtete seinen Blick auf ihn, begierig, keines seiner Worte zu versäumen. Mit Ehrfurcht gebietender Stimme fuhr er fort: „Seit dreißig Jahren leidet unser Land unter der Herrschaft der Tyrannen aus Senlai. Immer wieder haben mutige Brüder und Schwestern versucht, ihre Herrschaft zu brechen – doch vergebens. Stets wiederholt sich der Kampf der Rebellen gegen Senlais Armee aufs Neue, ohne uns einen Schritt weiter zu führen. Gäbe es einen Weg, Naial gewaltlos zu befreien, so würden wir ihn wählen. Kiru, ich frage dich als Abgesandten der Rebellen: Bist du einverstanden?“
Ein junger, langhaariger Mann erhob sich und antwortete: „Ich bin einverstanden. Leider herrscht Uneinigkeit unter meinen Kampfgefährten, doch die Mehrheit von ihnen will dem Weg der Gewalt abschwören.“
Gilean konnte zunächst kaum glauben, was er gerade erfahren hatte. Dann war ihm, als fiele ein schweres Gewicht von ihm ab. Vor ein paar Tagen wäre er noch zweifelnd oder gar enttäuscht gewesen, doch nun war er erleichtert: Er musste dem Bekenntnis seines Vaters nicht zuwiderhandeln! Und dann war da noch Larla… Bevor er diesen Gedanken beenden konnte, ergriff der Priester wieder das Wort.
„So will ich nun das Orakel befragen. Schweigt still und sprecht nur, wenn ich es euch gebiete.“
Diese Ankündigung ging über alles hinaus, was Gilean erwartet hatte. Die Santi hatten das Orakel schon lange verboten. Auch früher war es nur wenigen Auserwählten gestattet gewesen, bei einer Befragung zugegen zu sein. Und nun sollte ausgerechnet ihm diese Ehre zu Teil werden! Vor Freude und Aufregung lächelte er mit offenem Mund. Schnell achtete er darauf, wieder gefasst zu erscheinen, um sich nicht von den anderen Anwesenden abzuheben. Er dachte darüber nach, wie schwierig es gewesen sein musste, in aller Heimlichkeit ein geeignetes Kind zu finden…
Der Priester nahm einen Sack zur Hand und holte eine Glocke hervor. Auf den dunklen Klingelton hin trat eine junge Frau in den Saal. Gilean erkannte sie, denn sie war eine von Satos Kundinnen. Zweifellos hatte er bei der Suche nach dem Kind eine wichtige Rolle gespielt. Nun richtete Gilean seine Aufmerksamkeit auf das Mädchen, das die Frau an ihrer Hand führte. Es mochte etwa acht Jahre alt sein, doch hatte es noch die weichen Gesichtszüge eines kleinen Kindes. Seine braunen Haare ringelten sich leicht. Die Mutter beugte sich zu ihm herab und flüsterte etwas in sein Ohr, dann stellte sie sich neben ihren Mann. Nach einer Handbewegung des Priesters setzte sich das Mädchen in die Mitte des Raumes. Zunächst kleidete er es in einen roten Umhang. Danach platzierte er links und rechts von ihm eine brennende Kerze und breitete ein blaues Tuch vor ihm aus. Darauf legte er Edelsteine und andere seltsame Gerätschaften, die Gilean unbekannt waren. Nachdem der Priester dieses Ritual vollendet hatte, legte er dem Mädchen eine Hand auf den Kopf und begann, ein Lied in fremden Worten zu intonieren. Es wartete geduldig, bis er wieder verstummte.
„Erhabenes Orakel!“ hob der Priester an. „Weise uns den Weg in dieser Nacht!“
Im Saal war es vollkommen still. Gilean vermeinte die Spannung zu fühlen, die über allen lag.
„Doch diese Bitte erfülle uns zuerst: Zeige uns, ob ein Verräter unter uns ist!“
Das Mädchen hob den Kopf und ließ seinen Blick auf jedem Menschen im Raum verweilen. Obwohl es nicht heiß war, spürte Gilean, wie ein Bächlein aus Schweiß seinen Arm herab lief. Dann war die Reihe an ihm. Die Augen des Mädchens trafen auf seine, und als er in dessen geweitete Pupillen sah, schien ihm, als sei es ein uraltes Wesen aus einer anderen Welt.
„Beruhige dich!“, mahnte er sich. „Dass du mit einer Santi Umgang hast, macht dich noch nicht zum Verräter!“
Endlich wandte sich das Mädchen dem nächsten Gesicht zu. Gilean atmete auf. Bald darauf verharrte es wieder in seiner ursprünglichen Position.
„Weises Orakel“, fuhr der Priester fort, wir möchten dir eine Frage stellen, die uns alle bewegt. Wie können wir Naial befreien, ohne Gewalt anzuwenden?“
Einige Zeit verstrich, ohne dass etwas geschah. Unwillkürlich begann Gilean mit den Falten seines Gewandes zu spielen. Alle Menschen im Raum waren in einem Gedanken vereint: Was würde das Orakel antworten?
Schließ hob das Mädchen erneut seinen Kopf und blickte angestrengt geradeaus. Dann sprach es.
„Naial wird frei sein, wenn die Krone von Vara wieder an ihrem Platz ist.“
Obwohl der Priester Ruhe geboten hatte, ging ein Raunen durch die Menge. Gilean wusste nicht, weshalb ihm plötzlich Tränen in die Augen traten. Die Krone von Vara… Es gab hier niemanden, der ihre Bedeutung nicht kannte. Die Königin Niria, ihr Sohn Laron und Kano, sein unrechtmäßiger Nachfolger, hatten sie nur zu besonderen Anlässen getragen. Sie war unsagbar kostbar und barg einen roten Stein von der anderen Seite der Erde. Nach dem Mord an Kano hatten die Santi die Krone aus der Juwelenkammer entwendet und nach Santinoro, ihrer neuen Hauptstadt, überführt. Dort lagerte sie seit dreißig Jahren – an einem geheimen, unzugänglichen Ort.
Der rot gewandete Priester hob die Hand, um wieder Stille einkehren zu lassen. Mit scheinbar vollkommener Gelassenheit stellte er die nächste Frage: „Wie aber können wir sie beschaffen?“
Das kleine Mädchen starrte eine Weile in die Tiefe des Raumes. Als es zu zittern anfing, rief sein Vater: „Ilena!“
Der Priester bedachte ihn mit einem strafenden Blick. Schließlich beruhigte sich das Kind. Was nun geschah, hätte Gilean nicht in seinen kühnsten Träumen erwartet. Ilena streckte ihren rechten Arm aus, deutete auf ihn und sagte: „Er ist es, der die Krone zurück nach Vara bringen wird.“
Gilean war von einem Gefühl der Unwirklichkeit erfasst, als der Priester ihn zu dem Mädchen führte.
„Du hast nun das Recht, das Orakel zu befragen.“
Der Junge versuchte, Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
„Was… muss ich tun?“ brachte er zuletzt hervor.
Das Zittern setzte von Neuem ein. Ilenas Vater flüsterte vernehmlich: „Es ist alles viel zu anstrengend für sie!“
Seine Frau musste ihn davon abhalten, in die Mitte des Raumes zu stürzen. Unterdessen hatte Ilena mühsam zu sprechen begonnen.
„Du kennst eine Santi. Sie… hat den Schlüssel zur Krone. Du musst ihr die Augen öffnen…“
In diesem Moment verlor sie das Bewusstsein. Ihr Vater eilte auf sie zu und nahm sie in die Arme, seine Frau folgte ihm. Davon ungerührt, wandte der Priester sich an Gilean und sagte: „Die Zeit ist gekommen, uns zu erzählen, was du weißt.“
Als der Morgen graute, lag Gilean noch immer mit wachen Augen auf seinem Bett. Noch immer konnte er kaum glauben, was er in dieser Nacht erfahren hatte. Es war seine Aufgabe, die Krone von Vara heimzuholen – er war der Auserwählte! Der Priester hatte ihm den Auftrag gegeben, Larlas Vertrauen zu gewinnen. Wenn die Zeit reif war, würde er sie in sein Vorhaben einweihen. Denn offenbar war sie, obgleich eine Santi, der Schlüssel zur Krone von Vara.
Zentnerschwer war die Verantwortung, die nun auf seinen Schultern lastete. Und doch war Gilean von Stolz und Hoffnung erfüllt. Er würde dazu beitragen, sein Land zu befreien, wie er es gewünscht hatte. „Ich werde es schaffen!“, dachte er, als die Sonnenscheibe über Vara emporstieg.