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Die kranke Wahrheit
Berlin, im Januar 2005. Wie wir soeben erfuhren, haben Wissenschaftler des Kreutzer-Instituts es geschafft, Deutschland seine Führungselite zurückzugeben. Sie entwickelten einen Impfstoff gegen die höchst virulente PMS-Seuche. PMS, die erst vor fünf Wochen entdeckte Politiker- und Managerseuche, hatte für Schlagzeilen gesorgt, indem sie die politische und wirtschaftliche Elite Deutschlands in ein unbeschreibliches Elend stürzte.
„Früher gab es vermutlich immer mal vereinzelt Ausbrüche bei Politikern“, sagte Professor Renobai vom Kreutzer-Institut. „Wir glauben zum Beispiel, dass Lafontaine davon betroffen war. Nur verhielt sich das Virus dabei nicht ansteckend, so dass wir es als normal empfanden, wenn einzelne Manager oder Politiker entgleisten; immerhin kam es selten vor. So wurden wir auf das Virus nicht aufmerksam: Der für die Seuche verantwortliche Philoso-Erreger bewirkt in bestimmten Nervenzellen von Politiker- und Managergehirnen eine Blockierung bestimmter Botenstoffe, welche ihrerseits zur Lähmung der Hirnregion führt, die für das Lügen zuständig ist.“
Für einen Eklat sorgte ein öffentliches Interview mit dem Bundesminister für öffentlichen Verkehr, Walter Grübenmilz, am 23. November letzten Jahres. Dieser war gefragt worden, warum es ihm nicht gelinge, den Güterverkehr auf den Straßen einzuschränken (zu Gunsten des umweltfreundlicheren Transports auf den Schienen).
„Weil mein Bruder ein Transportunternehmen hat und mich mit 15 Prozent am Gewinn beteiligt“, sagte Grübenmilz. „Sehen Sie, da werden 100 Tonnen Zwetschgen bei Landsberg geerntet und mein Bruder schafft die Ware mit LKWs erst mal nach Dresden, wo sie nach Düsseldorf weiterverkauft- und transportiert wird und dann nach Bremen. Und ganz am Schluss liefern wir, also mein Bruder, die Zwetschgen wieder nach Landsberg zurück, wo sie hingehören, um zu Mus und Marmelade verarbeitet und danach in Gläsern in alle Richtungen quer durch Europa transportiert zu werden. Ich wäre froh, wenn ich mal so rumkommen würde wie die Zwetschgen!“
Zwei Tage später folgte ein zweiter Eklat, als der Berliner Senator Moserbauer - an PMS erkrankt - live im Radio aus seinem Leben als Volksvertreter erzählte: „Das Gelände der Stadt, das da in unserem Besitz war, war doch zuerst praktisch wertlos, bevor ich es an meinen Schwager verkaufte. Er bekam es für 12 Millionen Euro. Mein Schwager hat’s dann an meinen Vater verkauft für etwa 200 Prozent des Einkaufspreises. Mein Vater hat’s dann an meine Schwester (die Frau meines Schwagers) wieder weiterverkauft für noch mal den doppelten Preis, und dann ist mir aufgefallen, dass die Stadt das Grundstück doch brauchen kann, weil mein Kumpel Friedemann da für Berlin einen Park für demokratische Kultur errichten wollte, mit Museum und allem und so - und so haben wir's, also die Stadt, eben einfach für 70 Millionen Euro von meiner Schwester wieder zurückgekauft. Was sind schon 70 Millionen Euro heutzutage? Ich habe von meinem Verdienst bei den Transaktionen übrigens 800 Euro für die Caritas gespendet, immerhin 0,2 Prozent, was man aber von der Steuer absetzen kann, weil es schließlich gemeinnützig ist.“
Nachdem der SPD-Bundeskanzler dann noch verkündet hatte, seine neusten Reformen hätten den (Zitat) „Kampf gegen die Arbeitslosen“ entscheidend verbessert, verreiste er nach Alaska (um eine Weile unter Eskimos und Robben zu leben) - .
Aber auch die anderen Politiker verfielen in totales Schweigen. Sie sagten Fernsehauftritte, öffentliche Reden, Pressekonferenzen für Wochen ab. Die Angst regierte, unfreiwillig ehrlich zu sein. Etwas zu sagen, das stimmte. Bundestagsdebatten gehörten der Vergangenheit an. Im Radio wurden keinerlei Interviews mehr gegeben. Die Meisten wechselten auch mit dem Lebenspartner kein Wort mehr.
„Die Leute haben ein Recht darauf, belogen zu werden - alles andere schädigt ihr Urvertrauen in die Welt“, sagte der Psychologe Cockburst. „Genau dafür haben wir doch unsere politische Führung. Sie erzählt, wir hätten Demokratie, und die Leute glauben es, obwohl sie gar keine Wahl mehr haben. Die politische Führung erzählt, es werde der Wirtschaft wieder besser gehen, wenn die Leute den Gürtel enger schnallen und auf ihre Renten verzichten, und sie glauben es - während Großkonzerne ihre Produktion in Billiglohnländer verlagern oder von Computern erledigen lassen. Sie glauben auch, ‚der Wirtschaft’ gehe es sehr schlecht. Das glauben sie, obwohl sie gleichzeitig sehen, wie die Hochfinanzgewinner genug Geld am Fiskus vorbei ins Ausland schaffen, um damit die Wüste Gobi mit Champagner zu bewässern. Wenn die Lebensarbeitszeit erhöht werde auf 67 Jahre, glauben die Leute gern auch noch, das sei, um wieder mehr Arbeitsplätze in Deutschland zu schaffen, obwohl sie morgens mit 67 beim Aufstehen leise sein müssen, um ihre arbeitslosen Kinder und Enkel nicht zu wecken.“
Seit gestern nun Erleichterung: der Philoso-Erreger, PMS, ist besiegt, und es wird ab sofort wieder Talkshows und öffentliche Diskussionen mit Politikern und Wirtschaftsvertretern geben. Es besteht keine Gefahr mehr, dass sie auch nur annähernd die Wahrheit sagen, wenn sie den Mund aufmachen. Allerdings wurde bekannt, dass der Impfstoff eine kleine Nebenwirkung habe ... jeder Geimpfte bekomme hellgrün leuchtende Ohren ... und leide zudem unter unnatürlichem Nasenwuchs ... aber wir werden uns bald schon an den Anblick gewöhnt haben - und so tun, als ob nichts wäre, wenn wir den Grünohren und Langnasen beim Beherrschen zuschauen.