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Die Kraft meines Ahnen
Danke, dass ihr euch um dieses Lagerfeuer versammelt habt und mir euer Ohr leiht! Es ist nicht mehr lange, bevor wir die Waffen in unseren Händen benutzen werden, um diese Monster dort draußen zu töten. Daher also eine kleine Ansprache eures neuen Offiziers, nicht lange und auch nicht unnötig in die Länge gezogen. Ich weiß schließlich ob meines Rufs: Der reiche Sohn aus den höchsten Institutionen; nahe an der Macht, fern von allem Dreck!
Die Geschichte, die ich erzählen will, handelt von einem Mann, der seinerzeit nicht viel älter war als ich es jetzt bin. Er ist mein Ahne und – das sage ich nicht ohne Stolz – ein Mann, der große Beinamen trug: Der Mutige. Der Erprobte. Der Furchtlose. Der Schlächter! Doch bevor er all das war, schlurfte er, noch vor seinem ersten Kampf, unsicher über diese Erde. Zwar gehörte seine Rüstung zu den prächtigsten und sein Schwert zu den schärfsten, aber jeder der anderen Krieger wusste, was sein sollte. Sie und ihre Äxte und Speere, Holzschilde und wild zusammengewürfelte Kleidung aller Farben! Sie hausten im Dreck am Ende des langen Schlachtzuges, während mein Ahne mit anderen Reitern die Spitze bildete, vor ihnen nur noch der König. Vorne siegt das Edle und hinten erntet der Tod. Der Krieg hat vielfach sein Antlitz gewandelt – diejenigen, die das Gegenteil behaupten, sind dumm. Doch gewiss gibt es einige Konstanten, etwas Wesenhaftes, das dem Krieg eigen ist, nicht wahr? Was meint ihr?
Vielleicht war es diese Erkenntnis, die ihn unsicher werden ließ. Ihr müsst wissen, dass der Schlachtzug bereits unermessliche Verwüstung über das Land gebracht hatte. Fast zwei Jahre waren sie schon unterwegs, und viele wussten nicht einmal mehr, warum diese und jene erschlagen, geköpft, geteilt, erstochen, verbrannt werden sollten. Wind und Wetter bestimmten den Zeitpunkt der Kämpfe, was uns heutzutage fast egal sein kann. Doch damals waren Frühling und Sommer fürs Schädelspalten und zum Winter hin musste ein Quartier gefunden sein. Das Besorgen von Vorräten aus den umliegenden Dörfern war eine Aufgabe für einen wie ihn, hoch zu Ross wohlgemerkt, mit dem Panzerhandschuh auf ein Haus deutend, damit andere die Drecksarbeit verrichteten. Er hatte all das gesehen, müsst ihr wissen, aber er war letztlich nicht dabei. Physisch anwesend, das wohl, aber es ist ein merklicher Unterschied, ob man nur einen Befehl anordnet oder aber ihn ausführt; die Waffe selbst schwingt, meinetwegen auch den Knopf drückt, oder eben nicht. Und er hatte es nicht getan – noch nicht!
Seine Wege führten ihn also durch winterigen Morast weiter und weiter zurück, ein Abstieg zum Pöbel dieser Blut-Armee, und er sah drein, als habe er etwas auf dem Weg verloren, dass es nun unbedingt wiederzufinden galt. Manche nehmen die falsche Abzweigung. An so etwas dachte er vielleicht, ich weiß es nicht. Er sah all das Elend, wie die Familien, die diesem Kriegstross üblicherweise nachzogen: abgemagerte Kinder als Boten und verzweifelte Frauen, die ihre Körper hingaben. Die Männer wiederum, die getötet hatten, blickten gleichmutig drein oder kauten so lange wie nur möglich auf ihrem Fleisch herum. Zelte hielten den einsetzenden, mürrischen Regen nur unzureichend ab. Und immer wieder gab es Routinetätigkeiten, die ständig von Offizieren – niederen als er es war – angeordnet werden mussten. Eine undankbare, doch immens wichtige Aufgabe, war das Vertreiben der Finsternis. Sie hatten Fackeln aufzustellen, damit die Dunkelheit nicht das Licht übermannte.
Mein Ahne war in diesen Momenten zuvorkommend. Ohne die Rüstung war er wohl, gehüllt in einen unauffälligen Überwurf. Deswegen hat ihn niemand bemerkt und deswegen stand er bei einem der Fackelträger am Rande des Lagers. Möglicherweise war es den Menschen aber auch egal, was er dort trieb.
Ich stelle mir vor, wie er in das Gespräch mit einem dieser Männer geriet. Nach einigem Hin und Her bemerkte dieser Fackelträger vielleicht, mit wem er es hier zu tun hatte. Die Quellen, aus denen ich dies rekonstruierte, zeugen schließlich von der Bekanntheit meines Ahnen. Unschuldig, bübisch, weiblich, zart: Das sind die Attribute, mit denen er beschrieben wurde, bevor er groß und kraftvoll sein sollte. Das muss auch dieser Mann gedacht haben. Oder aber, er war einfach redselig, weil er stetig in die Nacht starrte, hinüber zu den drohenden Felsen und mahnenden Wäldern. Da war es gut, Ängste teilen zu können, die ihn und andere heimsuchten. Die Oberen, die prügelten doch bei solch Aberglauben! Und doch teilten sie einen solchen.
So erzählte er meinem Ahnen vom Ghul. Ah, ihr habt vom Ghul gehört, nicht wahr? Aber besitzt ihr auch das Wissen über seine Herkunft? Nicht, dass es der Kenntnis bedürfte, die den Ghul in der arabischen Mythologie verortet, als androgynen Untoten mit grässlich verzerrter Fratze und langen Klauen, die ihn zum Graben in der Erde befähigen. Entscheidend ist wohl, dass der Ghul sich von den Toten ernährt – und zwar ganz besonders den frischen Toten! Der Ghul folgt dem verderblich-süßlichen Geruch der Gefallenen, die so zart und fein schmecken. Der Ghul ist der stumme, manchmal schmatzende und scharrende Beobachter des fahrenden Kriegervolks. Er lauert im Dunkel, er beobachtet uns, und er packt uns, wenn nötig! Tötet, aber tötet nicht zu viel, sodass ich nicht in Rage gerate – das, meine ich, wäre sein Rat an uns, wenn diese Bestie denn sprechen könnte.
In dieser oder ähnlicher Form muss mein Ahne vom vermuteten Begleiter in der Finsternis erfahren haben. Er mag dem Mann auf die Schulter geklopft haben, kameradschaftlich-verstehend. Immerhin wäre es seine Aufgabe als einer der Mächtigen gewesen, das Wolfsschafsherdenrudel – ja, so nenne ich es – zu führen. Ich bin allerdings nicht davon überzeugt. Wahrscheinlich hat er genauso hinaus in die Ferne geblickt und sich gefragt, ob das Geheul dieser und jener Tiere dort nicht etwas viel Schrecklicheres überdeckte. Wahrscheinlich ist er wieder zurückgeschlurft, über die Schulter blickend, immer wieder, um dann in der Nacht kein Auge zuzukriegen.
Bald zogen sie weiter und weiter, immer noch keinen passenden Ort für das Winterlager gefunden, weil überall nur die Verwesung wartete. Es mangelte an Nahrung, es mangelte an Versorgung, Hygiene, Verpflegung – das ist alles abzulesen aus entsprechenden historischen Dokumenten. Es mangelte wohl auch an Erfolgen. Manche, wie schließlich auch mein Ahne, sahen das Elend alsbald in dieser einen Sache begründet: Die Unersättlichkeit des Ghuls!
Ihre Toten hatten sie versucht nach guter Sitte zu beerdigen. Derlei sollte einen Ghul gewiss abhalten. Doch wenn sie zu nachlässig werden, und wenn sie auch die Körper ihrer getöteten Feinde nicht achten, kommt der Ghul auf den Geschmack. Hinzuaddiert seien die Sündhaften unter den Toten auf der eigenen Seite, und schon ist der Ghul äußert gefräßig – äußert, meine Freunde! Für jede Wut eines Erschlagenen wächst seine Kraft – jedenfalls glaubten sie das, und mittlerweile auch mein Ahne. Manche wimmerten vor möglichen Abkömmlingen des Ghuls höchstselbst. Dann wären es gleich mehrere dieser Monster, die dem Tross folgen sollten und Unglück über ihn brachten!
All dies war dem Kopf wie dem Hintern des Zuges wohlbekannt. Glaubt ihr aber auch nur einer wollte meinen Ahnen begleiten, als er insistierte, der Ghul müsse erschlagen werden? Nein, natürlich nicht! Man kann wohl nebeneinander kämpfen und füreinander Hiebe abfangen. Aber wagt man sich gemeinsam gegen das Dunkel? Nein, denn Furcht regiert! Es ist eine Furcht vor der eigenen Grausamkeit, um ein Unendliches potenziert, wie es die Fratze des Monsters zeigt! Das ist jedenfalls meine Theorie. Dass das Blutvergessen sowieso kein Ende nehmen wird. Was meint ihr?
Nun trug er seine Rüstung und sein Schwert mit Stolz. Tag und Nacht watete er über die Ebenen. Er fand die Spuren des Ghuls, doch bei Sonne würde er sich nicht zeigen, das wusste er bald, weshalb er auch des Nachts loszog, Fackeln aufstellend, und in jeder Stunde mehrerer Nächte einen weiteren Schritt aus ihrem Schein trat, hinein ins Dunkel.
Er war von seiner Sache überzeugt. Dass sein erster, durch die Waffe gebrachter Tod einen Untoten niedermachen sollte, empfand er bestimmt als eine heilige Prüfung und große Genugtuung – oder aber bösartige Ironie.
Als er den Ghul fand, war alles noch viel schrecklicher, als er es sich ausgemalt hatte. Er machte ihn in einer unscheinbaren Kuhle aus, dort, wo er, ohne je eine große Sache daraus gemacht zu haben, und ohne je wieder darüber nachzudenken, das bleiche Fleisch einer Vogtstochter platziert hatte. Vor vier Tagen war sie von einer Lanze durchbohrt worden. Sie war nur der Feind, also was galt es sie zu begraben, wenn sie den Tod selbst locken konnte und das Unheil bezwang? Ah, seht ihr die Widersprüchlichkeit?
Über ihr war seine bucklige, grünlich-grauliche Gestalt gebeugt. Lange Klauen bohrten sich in das Fleisch des Weibes. Mein Ahne, ein unerfahrener, aber gewissenhafter Mann, der seinen Platz finden wollte, forderte dieses Ding heraus, zu einem Duell zwischen Ehre und Widerlichkeit. Obwohl kein göttliches Gesetz es verlangte, klopfte er auf seinen Schild und zwang das Wesen aufzusehen.
Das war die Fratze des Ghuls: Monströs, wohl wahr, aber am Ende doch menschlich, allzu menschlich! Ein Monster, das in der straffen, wohlgenäherten Gesichtshaut seiner nicht unähnlich war.
Die Feiglinge hatten die widerlichen Laute aus der Dunkelheit vernommen und zu beten begonnen. Es war ein schneller Kampf, der Blut und Dreck meines Ahnen forderte. Die Klaue hatte seine so edel glitzernde Rüstung direkt über der Brust zerfetzt. Auch wankte er und schnaufte stark, als er zurück ins Licht trottete. In der rechten baumelte sein schwarzgallig tropfendes Schwert, in der linken der verunstaltete, die weißlich-stechendenden Augen verloren habende, nach mehreren Hieben abgetrennte Kopf des Ghuls. Und die Menge jubelte! Denn sie liebt das Blut.
Im Folgenden belohnte der König meinem Ahnen fürstlich. Dann wurde er zu dem, was seine Bestimmung war: Ein Krieger. Es heißt, das Blut des Ghuls habe ihn stark gemacht. Oder aber, Gott habe ihn belohnt, um nun für seine Sache zu streiten. Er wurde des Königs bester Kämpfer. Mit seinem Tun setzte endlich wieder der Erfolg der langwierigen Unternehmung ein. Weitere Jahre sollten folgen, doch irgendwann war der Kriegszug siegreich und konnte endlich aufgelöst werden. Nichts weniger als die Erfüllung, die wahre Erfüllung mit dem Schwert in der Hand, hat mein Ahne ihnen gebracht. Er hat gezeigt, dass es nötig ist in die Dunkelheit zu gehen. Jahre später starb er, durchbohrt von fünfundzwanzig Pfeilen.
Das, meine lieben Zuhörer, ist nur eine kleine Geschichte. Sie unterstreicht die Notwendigkeit von Willen, Mut und Überzeugung. Ich kann euch anführen, wenn ihr mit mir an diese finsteren Orte geht. Aus der Geschichte kann jeder lernen. Ich habe es getan, ich bin den Weg gegangen. Nun wartete die Feuerprobe. Unsere Feinde sind wie Ghule! Vertraut mir…