Die Konzertprobe
Es war ein lauer, schöner Samstagnachmittag im Sommer, die letzten Sonnenstrahlen des heutigen Tages blinzelten verstohlen durch die Blätter am Blumenfenster. Wir sitzen gemütlich bei einer Tasse Espresso und plaudern über Dies und Das, sprechen über einen skurrilen Artikel im Feuilleton-Teil der Wochenendzeitung, geniessen die seltenen Stunden, die wir zu Zweit verbringen können.
Unser Sohn - ja ein Lauser wie er im Buche steht - läuft bestimmt in Omas Garten herum. Wir haben ihn heute Mittag hingebracht. Ein Glück, denn ohne Oma könnten wir uns heute abend die Konzertprobe der Wiener Philharmoniker nicht anhören.
Die Wiener Philharmoniker, ein erstklassiges Orchester, sind die Sensation im heurigen Musiksommer. Viele würden Alles geben, um an Karten für dieses Konzert zu kommen. Die Karten sind teuer, obwohl es nur eine Probe ist. Was nimmt man nicht alles in Kauf um sie zu hören?
Es ist jetzt Viertel vor sechs. Zeit also, sich ein wenig herzurichten. Ich - eine Mittdreißigerin - bin durch meine Karenzzeit ein wenig vom Alltagsstress entwöhnt. Mit einem Kind gehen die Uhren nun einmal anders. Ich solle mich, so meint mein Liebling, schon einmal schön machen, denn er habe mich ja immer noch eingeholt, wenn es um's Fertigwerden geht. Pah, denk ich mir! Worte sind in dieser Frage schon lange verschwendete Liebesmüh. Also geh ich nach oben, luge erst einmal in den Kleiderkasten. Ach ja, da hängen so viele Kostüme, Hosenanzüge, Blusen... alle noch aus meiner aktiven Zeit. Viel zu selten hab ich nun Gelegenheit sie zu tragen. Ob sie mir noch passen? Oder sollte ich besser fragen: ob sie mir schon passen?
Die Schwangerschaft hat das ein oder andere Kilo hinterlassen, viele davon hab ich schon besiegt. Nur die letzten, die sind zäh! Ich probiere einmal den cremefarbenen Hosenanzug mit einer dunkelroten Bluse. Elegant, stelle ich fest - doch leider kann ich mich in der Hose noch immer nicht anschauen. Ach ja - hätte ich doch mehr Zeit für's Laufen...
Von unten ertönt die erste Verwarnung: "Du hast noch 10 Minuten!". Aus meinen Gedanken gerissen, schnappe ich die nächstbeste schwarze Hose. Auch elegant, nur mit Gummizug am Bund. Na ja, schnell einen hübschen Pulli angezogen und ab ins Bad. Gleich wird er die Treppe heraufkommen um sich selber anzuziehen. Die Diskussion über den momentanen Stand meines Fertigwerdens möchte ich mir ersparen.
Während ich - mittlerweile geschminkt und tatsächlich fertig - im Vorzimmer warte (oder besser noch schnell einige Handgriffe Hausarbeit erledige), kramt er oben nach den Konzertkarten. Wo hatte er sie den noch gleich hingelegt? Sicher kommt gleich, dass ich sie verlegt hätte. Nein. Im Anzug vom letzten Theaterbesuch stecken sie. Er rauscht - umgeben von einer betörenden Duftwolke seines After-Shaves - ins Erdgeschoss, um - wie konnte es anders kommen - gleich am untersten Treppenansatz kehrt zu machen, weil Schlüssel, Uhr, Portemonnaie - schlicht alle Dinge die mann braucht - nicht da waren.
Mittlerweile ist es 5 Minuten später als der von ihm angesetzte Abfahrtstermin. Nein, wir sitzen noch immer nicht im Auto - ganz im Gegenteil: von ihm ist immer noch nichts zu sehen. Aufgelöst, verschwitzt, nervös auf die inzwischen gefundene Uhr blickend, verlassen wir das Haus. Hoffentlich wird der Konzertabend genauso vielversprechend wie die Ankündigung.
Als wir zum Wiener Musikverein kommen sind all die stessigen Minuten vergessen, und wir freuen uns einen schönen Abend hier zu verbringen. So tauchen wir ein in ein Meer von Menschen, ein Meer von hunderten anderen Musikbegeisterten. An der Kassa sehen wir traurige Gesichter. Das müssen wohl die sein, die heute - in der Hoffnung noch Restkarten zu bekommen - umsonst hierher gekommen sind. Wir gehen hinauf zur Galerie, dort haben wir unsere Plätze. Der Große Musikvereinssaal füllt sich zusehens, die Musiker haben auch schon ihre Plätze eingenommen und stimmen sich und ihre Instrumente auf den heutigen Abend ein.
Murmeln geht durch die Zuhörermenge. Einige blättern im Programm, neugierig, was heute gegeben wird, andere ziehen noch einmal den Lippenstift nach, rutschen auf ihren Sesseln herum oder stehen auf, weil wieder einmal das Pärchen, das die mittleren Plätze in der Reihe hat, zuletzt kommt.
Mit einem Mal brandet Applaus auf. Der Dirigent betritt die Bühne, verbeugt sich. Seinen Frack hat er heute gegen legere Kleidung eingetauscht, ebenso wie die Musiker. Er begrüßt den Konzertmeister. Dann hebt er seinen Taktstock und stimmt das erste Stück an. Laut Programm handelt es sich um Johann Sebastian Bach - Suite für Flöte (Flauto traverso), Streicher und Basso continuo Nr. 2 h - Moll, BWV 1067. Alle lauschen gespannt.
Plötzlich - es wurden bislang noch keine 5 Takte gespielt - unterbricht der Dirigent, lässt die Musiker von vorne anfangen. Noch einmal und noch einmal. Ich bin verwirrt ob der Ausführung dieses, für das Publikum zugänglichen, nicht garade billigen Konzertes. Nein, eigentlich ist es ja eine Probe. Doch wäre es nicht wünschenswert, wenn Proben vor einem Publikum erst stattfänden, wenn das Orchester sattelfest ist? Sollte es so sein, dass der Dirigent für die Dauer der nächsten eineinhalb Stunden auf dem ersten Satz herumreitet? Bekommen all diese musikbegeisterten Zuhörer denn nun doch nicht all diese Stücke in einer wiedererkennbaren Form geboten? Noch schlimmer: sollte es so sein, dass wir den weiten Weg hierher umsonst gemacht haben, die kostbar gewordenen Stunden zu Zweit vielleicht besser hätten verbringen können?
Meine Befürchtungen werden war. Eineinhalb Stunden und ganze zwei von drei Stücken später verlassen wir den Wiener Musikverein. Zwei Stücke! Und die habe ich nie in ihrer Gesamtheit hören können! So sind wir wohl jetzt um eine Erfahrung reicher: Proben - selbst von den bekanntesten Musikern - sind nicht das Geld wert, das dafür zu bezahlen ist.
Was bleibt ist die Gewissheit, dass wir beide Musikstücke auf einer CD zu Hause im Regal haben, die wir uns vermutlich heute noch anhören werden. Denn morgen hat uns der Alltag und damit auch unser Sohn wieder.