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Die Konferenz von Tau Ceti
Der erste extrasolare Kongress als Auftakt zu guten Beziehungen
zwischen der Menschheit und den Bewohnern von Tau Ceti
Zugegeben, der Titel von Jean Schmidt-Deublés Dissertation im Fachbereich Völkerrecht war etwas sperrig, aber die Arbeit daran (gefördert aus dem Zukunftsfonds der EU) hatte ihn zum Mitglied der Delegation gemacht, die sich nun der Heimatwelt der Cetianer näherte.
Jean erwachte von Geräuschen, als würden Metallplatten über Beton geschleift. Alle Klappen zu den Stasiskammern, die Aussahen wie Kühlregale in einem Supermarkt, standen offen. Seine Augen brannten. Es dauerte mehrere Sekunden, bis er wusste, wo er war. Roboter bewegten sich nahezu lautlos von Luke zu Luke, um die Menschen mit Getränken zu versorgen. Jean bekam einen Becher mit einer perlenden roten Flüssigkeit. Er nahm ihn mit steifen und zittrigen Fingern. Es tat gut, das Getränk durch die Zähne zu drücken, es das Zahnfleisch umspülen und die Kehle hinunter rinnen zu lassen. Es schmeckte nach Waldbeeren. Jean entfernte vorsichtig die Absaugevorrichtung von seinen Ausscheidungsorganen. Da unten war alles schlaff und wund, aber seine Gedanken waren schon bei der Konferenz und bei den über fünfhundert Menschen in dem großen Schiff. Man hatte es Asta Cidea getauft, wegen der deutlich sichtbaren Gliederung der Innenräume und den Antennen mit den Andockvorrichtungen, die wie Krebsscheren aussahen.
Jean war ein lockenköpfiger 28-jähriger mit ausgezeichneten Noten und gut in Form. Die Cetianer hatten darauf bestanden, dass ein großer Teil der Delegierten unter dreißig sein sollte, um der Jugend bei der Anbahnung der Beziehungen zwischen den beiden Kulturen eine tragende Rolle zu geben. Schließlich gehörte der Jugend die Zukunft! Er rasierte sich, putzte die Zähne, die sich immer noch taub anfühlten. Aber es gab keine Zeit, sich weiter frisch zu machen. Eine Stimme aus einem Lautsprecher forderte die Delegierten auf, sich unverzüglich mit ihrem Gepäck zum Weltraumlift zu begeben. Dort würden sie etwas zu essen, medizinische Versorgung und weitere Instruktionen erhalten.
Noch unsicher auf den Beinen, aber voller Erwartungen, folgten die Menschen den Robotern mit ihrem Gepäck und unterhielten sich über die aufregenden Erlebnisse, die sie erwarteten. "Oh, schauen Sie!", rief jemand an einem Sichtfenster und alle in Hörweite blieben stehen und blickten hinunter auf die Landmassen und Ozeane der fremden Welt.
Jean suchte die Leiterin der europäischen Delegation, die ehemalige Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik. Unter den Teilnehmern gab es Polit-Prominenz wie den ehemaligen UN-Generalsekretär Kofi Annan und Bill Clinton, den 42. Präsidenten der USA. Wirtschaftsführer, Hollywoodstars, Kader der chinesischen KP, ein indischer Fürst und ein Mitglied des saudischen Königshauses: Sie alle waren der Einladung gefolgt und zur Reise ihres Lebens aufgebrochen.
Während der Weltraumlift sehr langsam nach unten glitt, lernte Jean ein Ehepaar kennen: den Ökologen Cees van Heugens und seine Frau Mareike, eine Ethnologin. Beide lehrten an der Erasmus Universiteit Rotterdam. Cees war ein rundlicher Mann mit Stirnglatze, der ein Flanellhemd und Jeans trug, wie ein Tourist auf der guten alten Erde. In den Außenwänden gab es durchsichtige Streifen, Triumphe der Werkstoffkunde und der Ingenieurskunst. Cees schaute hindurch, als würde er von einem Urwaldriesen das Blätterdach eines unermesslichen Dschungels überblicken. Schon jetzt zog er aus der Färbung der Atmosphäre und dem Aussehen der Oberfläche erste Schlüsse. Mit holländischem Akzent dozierte er: "Ich bin sicher, die Atmosphäre besteht aus Sauerstoff und Stickstoff, wie unsere, wenn auch nicht in der gleichen Zusammensetzung. Die Rationen, die wir bekommen haben, waren möglicherweise nicht irdischen Ursprungs. Das würde bedeuten, das Leben hier besteht aus denselben Kohlenwasserstoffen wie wir. Das wäre phantastisch! Eine Sensation! Wir könnten die Früchte von den Bäumen essen, die da unten wachsen."
Nach einer langen Phase der Geheimhaltung würden die Menschen wohl schon bald mehr von den Cetianern selbst erfahren, oder die Erlaubnis zu eigenen Forschungen bekommen. Ein gewisses Misstrauen war bei Erstkontakten unvermeidlich und sogar angebracht.
Heugens' Ehefrau, die Ethnologin, hörte ihrem Mann zu, schaute aber die ganze Zeit den Cetianer an, der in seinem Schutzanzug reglos an einer Konsole stand. Dabei trug sie Lippenstift auf und Jean wunderte sich über die Eigenarten der Frauen. Halb flüsternd erklärte sie ihm die Teilnehmenden Beobachtungen, die sie plante, um Erkenntnisse über das Verhalten der Cetianer zu gewinnen: "Sie sind so anders als wir. Nur wenn einige von uns mit ihnen leben, können wir verstehen, wie sie sind und warum sie tun was sie tun. Trotz der biologischen Hindernisse hoffe ich, einen Weg zu finden."
Jean nickte geistesabwesend. Er hing eigenen Gedanken nach. Er dachte an seine Aufgabe, Material zu sammeln und nahm sich vor, schon jetzt an potenzielle Interviewpartner heranzutreten. Plötzlich dachte er an seine Freundin und fühlte den unsinnigen Impuls, nach seinem Handy zu greifen. Unter Tränen hatten sie sich getrennt, als er sich für die Reise und seine Karriere entschieden hatte - und gegen sie. Nun lagen zwölf Jahre kryogenen Schlafs zwischen ihnen, sie war neununddreißig Jahre alt und lebte außerhalb seiner Reichweite.
Die Konferenz begann mit Feuerwerk. Die Delegierten saßen in Behältern, etwa so groß wie Kinosäle, um sie vor der fremden Atmosphäre zu schützen, und betrachteten das Farbenspiel am Nachthimmel. Das Dröhnen einer seltsamen Sprache hallte durch eine Art Stadion, den Versammlungsort. Die Flughafenstimme einer Übersetzerin erklärte sogleich: "Wir begrüßen die Delegierten vom Planeten Erde!"
Musik erklang. Sie hatte entfernte Ähnlichkeit mit Bachs Brandenburgischen Konzerten. Die Stimme informierte die Delegierten, dass heute nur zwei Punkte auf dem Programm stehen würden:
1. Ansprachen und Musik
2. Feierliches Abendessen
Der Sonderbotschafter der Vereinten Nationen war ein 60-jähriger Koreaner und sichtlich nervös, weil er nicht in ein Mikrofon sprach, sondern direkt in die Luft seines aquarienartigen Behälters. Aber die Übertragung funktionierte ausgezeichnet. Er rief: "Erstmals betreten Menschen den Boden einer anderen Welt!"
Die Übersetzung schmetterte seine Worte auf Cetianisch in das Stadion. Beifall übertönte die Musik, die zur Verwunderung der Menschen niemals aufhörte. Der Botschafter verglich diesen Tag mit der Mondlandung und der Landung der Cetianer vor einem Jahrzehnt: "... die uns ihrerseits die Hand zur Freundschaft reichten. Hier stehen wir nun, fünfhundert Frauen und Männer, bewegt von der Großmut unserer Gastgeber und blicken staunend in die neue Welt, die sie uns zeigen. Sie, die auf den Wegen der Wissenschaft und Zivilisation schon so weit sind und uns dennoch als ihresgleichen begrüßen."
Jean Schmidt-Deublé saß in einer Gruppe europäischer Beamte und Sozialwissenschaftler, durchmischt mit Afrikanern und Südamerikanern, ebenfalls Experten und Sekretäre. Die Politiker befanden sich in Behältern weiter vorne. Er machte die ganze Zeit Notizen. Neben ihm saß Natacha Duras, eine Juristin von der Sorbonne und Leiterin einer NGO für interkulturellen Dialog, die ihm ins Ohr flüsterte: "Tout sera enregistré quand même. Si vous écrivez tout cela, vous allez manquer les meilleurs moments! "
Im Zentrum des Stadions drängte sich ein Dutzend Cetianer. Einer davon ergriff nun das Wort: "Sehr geehrter Herr Botschafter! Verehrte Delegierte! Sie irren sich an einem Punkt: Sie sind nicht die ersten Menschen, die unsere Welt besuchen."
Alle staunten. Bei Jean kam die Verwunderung hinzu, dass niemand den Redner vorstellte.
"In der langen Geschichte der Besuche Ihrer Artgenossen auf Tau Ceti sind manche freiwillig zu uns gekommen und manche nicht. Es liegt uns aber fern, Sie in irgendeiner Weise herabsetzen zu wollen, denn in unserer Kultur kommt gutem Essen ein hoher Stellenwert zu."
Essen? War das ein Übersetzungsfehler?
"Was nun das Verhältnis unserer beiden Kulturen betrifft, werden Sie in wenigen Augenblicken Klarheit haben. Wir haben Sie einerseits hierher eingeladen, um Ihren Regierungen unseren Standpunkt deutlich zu machen, andererseits zu unserer Freude und unserem Genuss."
Jean schwirrte der Kopf. Er wollte gerade seiner Nachbarin etwas zuflüstern, als der Boden unter ihren Füßen verschwand und sie in kochendes Salzwasser stürzten.