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Die Klippenspringer
Rauschend näherte sich der Kamm aus smaragdgrün schimmernden Wellen, durchzogen von einem feinen Netz aus weißer Gischt, strömte heran aus den Weiten des Meeres, um dann tosend an den Klippen aus dunklen karstigen Lavafelsen in einen Regen aus glitzernden Tröpfchen zu zerplatzen.
Wir waren oben auf dem gewaltigen Felsmassiv und genossen das jahrmillionenalte Schauspiel. Ich saß neben Ernesto, Sebastiano, Rodrigo und Carla. Der Wind zerzauste ihr langes brünettes Haar, das die herauf geblasene Gischt in feine Strähnen gelegt hatte. Sie sah atemberaubend aus. Wir alle waren von der Sonne tief gebräunt und unterhielten uns lachend über alles Mögliche und nichts Bestimmtes, meist kamen wir über kurz oder lang auf unsere Lieblingsthemen Tauchen und Extremsport.
Irgendwann rief Rodrigo unvermittelt: „Ok, ich halte es nicht mehr aus!“, sprang auf und war im nächsten Moment auch schon die Klippen hinuntergestürzt. Ich grinste triumphierend. Ein weiterer Strich auf Rodrigos Liste. Das war so ein Spiel unter uns: wer hielt es am längsten aus, nur dazusitzen und zu reden? Wer konnte dem Impuls zu springen am längsten widerstehen? Und diesmal hatte Rodrigo verloren. Es war für uns alle wie eine Sucht, das Pfeifen des Windes, der uns fast den Atem nahm, wenn wir in immer schnellerem Tempo an den scharfgezackten Felsspitzen vorbeischossen, um Augenblicke später mit einem erlösenden Schlag in die kalten Fluten einzutauchen. Dann begann der Tanz mit dem Meer. Wir ließen uns von den Wellen hin und her werfen, ohne Rücksicht auf das schroffe umliegende Gestein, ließen uns drehen, von einer Seite auf die andere schleudern und schließlich erschöpft an Land gleiten, wo wir uns sofort wieder auf den Weg nach oben machten für den nächsten Sprung.
Der nächste Sprung … Ich unterdrückte meinen Wunsch danach und verwickelte stattdessen Carla in eine Unterhaltung über Möwen. Wenn es eine Sache gäbe, die ich gerne erleben würde, dann das Gefühl, der Schwerkraft trotzen zu können wie diese geflügelten Geschöpfe. Ich deutete auf eines der Tiere, das anmutig in Kreisen über der Küste schwebte. „Ich würde auch gerne fliegen können“, sagte ich.
„Kannst du doch! Warum nicht gleich?“, antwortete Carla schelmisch und deutete grinsend nach unten.
„Nein, nein, so kriegst du mich nicht“, lachte ich zurück. „Diesmal werde ich gewinnen.“
Sie zuckte die Achseln. „Werden wir ja sehen. Aber du hast Recht, ich könnte ihnen auch stundenlang zusehen. Sie haben bestimmt überhaupt keine Sorgen.“
„Wer weiß das schon. Aber haben wir denn welche?“
Sie biss sich auf die Lippen. Ich wusste, woran sie dachte. „Tut mir leid, ich wollte dich nicht daran erinnern!“
„Ach, ich denke doch schon die ganze Zeit darüber nach“, sagte sie leise.
Ich legte ihr beruhigend den Arm um die Schultern. „Ja, es wird wieder weh tun, aber es auch wieder vorbei gehen, so wie jedes Mal.“ Etwas Tröstenderes wollte mir nicht einfallen.
Ich wusste genau, was sie meinte. Es ging um die Todestage. Das Springen war kein ungefährlicher Sport. Wir waren alle jung, erfüllt von einem naiven Mut, fest davon überzeugt, dass wir der Gefahr Herr werden konnten, beseelt von unserem bloßen Willen sie zu ignorieren. Wir fühlten uns unsterblich. Und meistens passierte auch nichts. Aber hin und wieder kam doch einer von uns ums Leben. Und es waren diese Tage, die sich unauslöschlich in unsere Gedächtnisse eingebrannt hatten. Wir kannten jeden einzelnen Todestag derer, die an den Felsen zerschellt oder in den Fluten ertrunken waren. Und jedes Jahr erinnerten wir uns aufs Neue daran, trauerten wir um diejenigen, denen es nicht vergönnt war, ihr Leben wie geplant weiterzuführen.
Rodrigo war wieder aufgetaucht. Er lachte, und das riss mich aus meinen tristen Gedanken.
„Es war super!“, rief er begeistert aus und dehnte das „u“ dabei genießerisch in die Länge. „Heute ist es einfach perfekt: Starker Wind, der dich von den Felsen wegträgt, es ist fast, als würde man darauf gleiten können.“
Das reichte. Jetzt musste es sein. Ich dachte nicht mehr an die Toten, nicht mehr an Carla, nicht mehr an unser Spiel. Ich stand abrupt auf von einem einzigen unstillbaren Verlangen gefüllt, ging ein paar Schritte an den Rand der Klippe und schloss die Augen. Jetzt zerrte der Wind viel heftiger an mir. Manchmal spielten wir eine andere Variante: dann stellten wir uns alle in einer Reihe auf, schlurften Millimeter um Millimeter näher an den Rand heran, bis unsere Zehenspitzen weit über den Rand ragten und wir nur noch kippelnd unser Gleichgewicht hielten. Der Zufall entschied, wen die Windbö zuerst hinunterzog. Wir überließen uns dann voll den Kräften der Natur.
Doch heute entschied ich, wann der richtige Zeitpunkt war, mich in die Tiefe zu stürzen. Ich atmete ruhig den Duft des Meeres nach Salz, Fisch und Freiheit ein. Und wenige Augenblicke später ließ ich mich einfach nach vorne fallen. Sofort zog mich eine gewaltige Kraft nach unten, aber gleichzeitig spürte ich auch den starken Wind, der mich seitwärts trieb und als ich die Arme ausbreitete, hatte ich für einen winzigen Moment das Gefühl, ich würde mehr fliegen als fallen. Dann war es auch schon vorbei. Mit einem heftigen Ruck tauchte ich ins Wasser ein, und Kühle und dumpfe Taubheit umfing mich. Ich ließ mich ein paar Meter nach unten gleiten, dann tat ich einen kräftigen Stoß mit den Beinen und durchbrach prustend die Wasseroberfläche. Spiel hin oder her, das war es wert gewesen.
Mein ganzer Körper prickelte, als ich die Klippe wieder nach oben kletterte. Mit der Zeit hatten wir den optimalen Weg gefunden, es fühlte sich fast so einfach an, als würde man Treppen steigen. Noch während meines Aufstiegs, hörte ich ein weiteres Platschen unter mir. Offenbar hatte es noch jemand nicht ausgehalten. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Wahrscheinlich hatte Rodrigo so lange begeistert von seinem Sprung erzählt, während Ernesto, Sebastiano und Carla unruhig hin- und hergerutscht waren, bis der nächste aufgegeben hatte.
Bald war ich wieder oben angekommen und gesellte mich tropfend zu den anderen. Überrascht stellte ich fest, dass nur Ernesto und Rodrigo hier waren. Zwei meiner Freunde fehlten, obwohl ich nur einen Platscher gehört hatte. Ich blickte mich suchend um. Sofort sah ich Carla. Langsam, aber zielstrebig ging sie auf einen Mann und eine Frau zu, die etwa fünfzig Meter entfernt an der Klippe standen und sich dabei fest umarmt hielten.
Ja, heute war wieder einer der Todestage. Mit einem Mal war mein Hochgefühl verflogen. Wie jedes Jahr kamen die Hinterbliebenen, um am Ort des Geschehens der verlorenen Angehörigen zu gedenken. Auch Rodrigo und Ernesto blickten nun zu Carla. Sie näherte sich den beiden mit bedächtigen Schritten. Und als sie den Arm um ihre Mutter legen wollte, glitten ihre Hände wie jedes Jahr einfach durch sie hindurch.