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Die kleine Wolke
Es war einmal eine kleine Wolke, die über einem wunderschönen, grün bewaldeten Berghang entstanden war und nun an einem strahlend blauen Firmament über der schroffen Bergspitze thronte. Sie genoss den Ausblick ins Tal mit den kleinen verstreuten Häusern zu ihren Füßen und mit Mensch und Tier, die in ihrem Schatten ein beschauliches Leben führten. Die Menschen blickten zu der kleinen Wolke über der Bergspitze auf und erfreuten sich an ihr, stand sie doch für wunderschönes Sommerwetter. So verbrachte die kleine Wolke ihre Tage über dem Berg, ließ sich im lauen Sommerlüftchen mal hierhin, mal dorthin treiben und genoss es in vollen Zügen, eine weiße, watteweiche Schönwetterwolke zu sein.
Jeden Morgen begrüßte sie die Sonne, wenn diese über den östlichen Horizont heraufkam und die Welt mit ihren goldenen Strahlen weckte und jeden Abend verabschiedete sie sich von ihr, wenn diese hinter den Bergkämmen im Westen unter einem Feuerwerk der Farben am Himmel verschwand.
Die kleine Wolke liebte ihr Leben und dachte bei sich: „So könnte es doch ewig weitergehen!“
Eines Tages merkte sie, dass sich die Stimmung auf der Erde verändert hatte. Immer öfter blickten die Menschen mit sorgenvoll gerunzelter Stirn zu ihr auf. Am Anfang dachte die kleine Wolke, dass sie sich das nur einbilden würde, doch mit der Zeit konnte sie nicht mehr leugnen, dass sich Unruhe und Besorgnis unter den Menschen breitgemacht hatte. Voller Unverständnis dachte die kleine Wolke bei sich, dass sie der Sache dringend auf den Grund gehen müsste.
So kroch sie eines Tages in den frühen Morgenstunden als Nebelschwaden getarnt ins Tal hinunter und zwischen die Häuser der Menschen, um die Gespräche derer zu lauschen. An einem kleinen Häuschen stand das Küchenfenster offen und die kleine Wolke sah einen Mann und eine Frau am Küchentisch ihren Frühstückskaffee trinken. Beide wirkten niedergeschlagen. Die Frau meinte zum Mann: „Und was sollen wir nun tun? Was hast du vor?“ Resigniert zuckte der Mann mit den Schultern und antwortete: „Ich habe keine Ahnung. Und künstlich beregnen fällt auch aus, da der Brunnen nicht mehr genug hergibt.“
Die kleine Wolke war verwirrt. Worüber sprachen die beiden? Sowohl der Mann als auch die Frau waren wieder in trübsinniges Schweigen verfallen. Daher wanderte die kleine Wolke weiter.
Im Nachbargarten saß eine junge Frau mit ihren beiden Kindern auf der Terrasse und schnitt gerade von einem Laib Brot dicke Scheiben ab. Das kleine Mädchen an ihrer rechten Seite jammerte: „Aber Mama, ich würde so gern schwimmen gehen. Es ist doch so heiß und außerdem haben wir Ferien!“
Ihre Mutter legte das Brotmesser auf den Tisch und blickte sie tadelnd an: „Also das haben wir doch schon zig Mal besprochen. Siehst du denn nicht, dass die Natur unter der Hitzeperiode, die gerade herrscht, leidet und nicht einmal mehr genug Wasser da ist, um die Pflanzen zu gießen? Wenn das so weitergeht, verdorren alle Früchte auf den Feldern und wir haben nichts mehr zu essen. Und dann kommst du und willst kostbares Wasser für unseren Swimming Pool verschwenden?“ Das Mädchen wandte traurig ihren Blick auf den Teller vor ihr hinunter und schien über das Gesagte nachzudenken.
Die kleine Wolke war ganz betroffen. Also war das der Grund, warum die Menschen so sorgenvoll waren? Sie hatten nicht mehr genug Wasser, im ihre Pflanzen zu versorgen und somit ihre Nahrungsgrundlage zu erhalten? Die kleine Wolke kroch weiter, doch an allen Fenstern und Türen bot sich ihr der gleiche Anblick, belauschte sie ähnliche Gespräche.
Betroffen zog sich die kleine Wolke auf ihre Bergspitze zurück. Sie dachte bei sich: „Ich war doch immer so gern eine Schönwetterwolke. Ich habe es genossen, vom Himmel zu strahlen und den Menschen durch meine Sommerstimmung das Leben zu versüßen. Sollte das alles denn falsch gewesen sein? Bin ich denn am Ende sogar Schuld an der verheerenden Lage der Natur und mit dieser auch der Menschen?“
Sie wanderte hin und her und überlegte, warum ihre guten Absichten denn so falsch gewesen waren. Je mehr sie in Gedanken versank, desto trauriger wurde sie. Doch auf einmal hatte sie eine rettende Idee. Sie rief aus: „Wenn ich den Menschen strahlend heißes Sommerwetter schicken kann, dann muss es doch auch möglich sein, dass ich ihnen den innigst ersehnten Regen bringe. Das einzige, was ich dazu machen muss, ist, böse zu werden und meinen Zorn als Gewitter auf die Erde ergießen zu lassen.“
Doch das war leichter gesagt, als getan. Die kleine Wolke war eine ausgesprochenen Schönwetterwolke und Gewitter mit Donner, Blitz und Regenschauer lagen so gar nicht in ihrer Natur. So sie strengte sich an und tat ihr Bestes. Sie sog alle Luftfeuchtigkeit, derer sie habhaft werden konnte, in sich auf, nutzte jedes noch so kleine Lüftchen, um Energie zu gewinnen und verwendete jegliche Thermik, die vom Tal heraufkam, um an Kraft zuzulegen. Je mehr die kleine Wolke sich abmühte, desto stärker, größer und dunkler wurde sie. Nach etlichen Tagen thronte sie bereits als schwarze, dicke Gewitterwolke über ihrer Bergspitze und registrierte voller Freude, dass sich die Blicke der Menschen, die sich zu ihr erhoben, geändert hatten. Sorge und Angst wurden durch Hoffnung und Zuversicht abgelöst.
Eines Morgens blies ein kräftiger Wind über das Land und die kleine Wolke wusste, dass nun der richtige Zeitpunkt gekommen war, um sich über der Erde als gewaltiges Gewitter zu entladen. Sie löste sich von ihrem angestammten Platz, ließ sich vom Wind Richtung Tal mitnehmen und begann, sich als riesige schwarze Gewitterfront aufzutürmen.
Die Menschen blickten ihr entgegen und brachen schnell alles vor dem drohenden Gewitter in Sicherheit. Sie suchten Schutz in ihren Häusern, blickten jedoch neugierig aus den Fenstern nach draußen. Die kleine Wolke hielt einen Moment inne, in dem sich kein Lüftchen bewegte, nur um im nächsten Moment unter fürchterlichem Getöse mit Blitz und Donner ihre gesamte angestaute Energie auf die Erde zu entladen. Wassermassen stürzten hernieder, tränkten Pflanzen und Bäume, füllten Brunnen und Bäche und ließen eine gestärkte, erfrischte Natur zurück.
Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte die kleine Wolke ihre gesamte Kraft verloren und zog sich so klein und zart, wie sie immer war, auf die Spitze ihres Berges zurück. Völlig ausgelaugt blickte sie ins Tal zu den Menschen und sah, dass diese mit erlöstem Grinsen auf den Gesichtern wieder aus den Häusern gekommen waren. Sie lachten und unterhielten sich über die Gartenzäune hinweg, die Kinder liefen fröhlich kreischend durch die nassen Straßen und spielten in den tiefen Wasserlachen, die sich gebildet hatten. Die Sonne war hinter der kleinen Wolke wieder aufgetaucht und ließ die nasse Erde unter ihr in tausenden funkelnden Tropfen schimmern.
Obwohl die kleine Wolke völlig müde und kraftlos war, freute sie sich unbändig. Sie hatte es geschafft. Sie hatte die dringend benötigte Lebensgrundlage der Natur, das Wasser, zurückgebracht. Nun konnte sie beruhigt wieder als flauschige Schönwetterwolke über ihrem Berg schweben.
An diesem Tag lernte die kleine Wolke, dass das Leben nicht nur aus Sonnenschein bestehen durfte, sondern dass ohne das auf den ersten Blick schlechte Gegenteil des Gewitters Leben gar nicht möglich ist. Sie sah, dass das Leben immer aus Gegensätzen bestand und dass auch das vermeintlich Schlechte sein Gutes hatte.