- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 16
Die kleine Turnerin
DIE KLEINE TURNERIN
Zoya kann in die Zukunft sehen. Das ist ihr Geheimnis.
Die Matte gibt unter ihren Fußsohlen nach, federt zurück und eine Wolke aus Magnesia wirbelt auf, bevor ihr Körper zum Stillstand kommt.
Sie kann in die Zukunft sehen. Ich habe es ihr beigebracht. Sie kann voraussehen, wo ihre linke Hand gleich sein wird und wie sie die rechte zu platzieren hat, um im übernächsten Schritt mit den Beinen richtig abspringen zu können. Jede drohende Fehlstellung bemerkt sie sofort und verbessert sie während der Bewegung. Das macht es ihr möglich zu fliegen.
Brav hebt sie die Arme, um sich von den Juroren zu verabschieden, und eilt – auf den Fußballen hüpfend – von der Matte, als wollte sie fliehen. Hinter ihr der Stufenbarren, um den sie Sekunden zuvor pflichtbewusst und emsig geturnt hat. Das Publikum, das klatscht und jubelt. Sie sieht zu mir und beschleunigt ihre Schritte.
Cheftrainer Naumkin wartet am Rand der Matte und hält sie auf. Er kniet sich zu ihr nach unten. Sie wirkt winzig und noch schmaler neben diesem bärenartigen Mann. Seine Hand auf ihrem Rücken ist so groß, dass sie beide Schulterblätter bedeckt.
Er sagt etwas. Zoya nickt, die Augen weiterhin gesenkt, und wendet sich dem Publikum zu, um ihnen mit einem Lächeln zuzuwinken. Noch mehr Beifall. Erst dann schickt sie der Cheftrainer zurück zur Bank.
Die Muskeln in ihrem Gesicht entspannen sich. „Hab ich es gut gemacht?“, fragt sie mich.
„Schau selbst.“ Ich zeige auf die Tafel mit der Wertung: 9.95.
„Oh“, ruft sie aus, „Das hab ich gar nicht gesehen.“ Hastig umarmt sie mich und ich fahre ihr durch die kurzen, schwarzen Locken.
„Eine hervorragende Leistung von Zoya Davydova“, lässt der Kommentator verlauten, „Es ist der erste internationale Wettkampf dieser jungen Sportlerin und nach einem vielversprechenden Beginn am Schwebebalken hat sie mit dieser Übung gezeigt, dass wohl endgültig sie ihren Platz in der sowjetischen Nationalmannschaft verdient hat.“
„Komm her!“ Ich hebe sie auf meine Schultern und sie lacht.
Sie gewinnt Gold am Stufenbarren. Zwischen den älteren Turnerinnen steht sie auf dem Podest und kaut auf der Unterlippe. Ihre Mannschaftskameradinnen nehmen ihre Medaillen mit stiller Würde entgegen: ruhig und zuversichtlich lächelnd. Kleine Schwäne, wie der Cheftrainer sie nennt. Seine kleinen Schwäne: dürre Mädchen in schwarz-weißen Gymnastikanzügen.
Ana, die Mannschaftsführerin, hat Gold auf dem Schwebebalken, am Boden und im Mehrkampf gewonnen, ihr weißes Gesicht glüht, als sie mit ihren Medaillen behangen und einem Blumenstrauß im Arm vor den Blitzlichtern der Kameras steht. Sie ist der Star.
Zoya wirkt verloren neben ihr. Das Band, mit dem die Auszeichnung um ihren Hals baumelt, ist beinahe so breit wie ihre Schultern. Sie steht da und spielt unruhig mit der Medaille zwischen ihren Händchen.
„Ein unruhiges Äffchen“, lacht Naumkin. Ein Äffchen unter seinen Schwänen. Damit hat er nicht gerechnet – aber ich.
„Komm her!“ Ich setze sie wieder auf meine Schultern. Noch mehr Blitzlichtgewitter. „Ihr erster großer Wettkampf“, erklärt der Cheftrainer den Journalisten.
„Es ist erfrischend“, schreibt eine Zeitung, „zu sehen, dass die sowjetische Nationalmannschaft nicht aus emotionslosen Robotern besteht. Die vierzehnjährige Zoya Davydova gewann Gold am Stufenbarren und Gold mit der Mannschaft und war eine der beliebtesten Teilnehmerinnen der Weltmeisterschaft im Kunstturnen, die dieses Jahr in Rotterdam stattfand.“
„Ich turne, seit ich sechs Jahre alt bin.“ Ana blickt mit gerunzelter Stirn in die Kamera, während sie erzählt. „Im Kindergarten konnte ich nie still sitzen. Ich war immer am Klettern oder bin auf meinen Händen gelaufen. Da kamen die Talentsucher in die Schule und haben gefragt, wer gerne turnen möchte. Ich habe mich gemeldet.“
Andere Mädchen machen im Hintergrund Aufwärmübungen.
„Ich trainiere Anastasia, seit sie acht Jahre alt ist“, fügt der Cheftrainer hinzu. Die blonde Dame vom Fernsehen nickt und quiekt entzückt, als Ana ihr anbietet, ihre Bodenübung für das Fernsehteam vorzuführen.
„Wir brauchen noch Aufnahmen von den anderen “, meint der Produzent, ein hagerer Glatzkopf, zu mir. „Der Genosse Sportminister will, dass sie viel lachen. Ein Spiel vielleicht? Fangen? Und morgen hätten wir gerne ein paar Szenen beim Massieren im Schwimmbad. Achten Sie darauf, dass die Mädchen immer in Handtücher gewickelt sind, damit man diese Adern auf der Haut nicht sieht. Das ist unschön.“
Ich nicke.
„Trainer Marmeladow ist meine rechte Hand“, brummt Naumkin, „Er weiß schon, was er zu tun hat. Und jetzt schauen Sie Anastasia zu. Sehen Sie? Wie eine Künstlerin – eine Ballerina!“
Ana tanzt über die Turnmatte und setzt aus einer Pirouette heraus zum Rückwartssalto an. Die Kür wurde von einer Choreographin vom russischen Staatsballett für sie ausgearbeitet.
„Ich wäre nicht gerne Ballerina“, sagt Ana danach, als die Blondine sie darauf anspricht, „Turnen ist viel aufregender. Ich möchte meinen Thomas-Salto bis zu den Olympischen Spielen perfekt können.“
Der Thomas-Salto ist das große Projekt des Cheftrainers. Bisher haben nur Männer dieses Element geturnt. Eineinhalb Salti rückwärts, anschließend eineinhalb Drehungen mit gestrecktem Körper.
Es ist Naumkins Spezialität: Aus einem Sport für athletische junge Frauen Kamikaze für kleine Mädchen zu machen. Er lässt sie Übungen turnen, bei denen der Zuschauer unter der ständigen Angst steht, das Kind könne sich den Hals brechen. Das macht den Charme unserer Mannschaft aus.
„Nachdem unsere Nation sich erfolgreich widersetzt und nicht an den Olympischen Sommerspielen in Los Angeles teilgenommen hat“, erklärt die Fernseh-Blondine überschwänglich, „stehen Sie doch bestimmt unter besonderem Druck für das nächste Jahr in Seoul?“
Naumkin winkt ab. „Wir stehen immer unter Druck. Unsere Sportler trainieren acht bis zehn Stunden am Tag, sechs Tage die Woche.“ Das ist untertrieben, oft sind es zwölf bis vierzehn Stunden. „Aber was ist das Turnen ohne uns? Ein Witz! Wir haben diesen Sport zu dem gemacht, was er ist. Weil sie Nadia Comaneci hatten, denken die Rumänen, sie könnten uns das Wasser reichen. Jetzt suchen sie verzweifelt eine zweite Nadia und finden keine. In Los Angeles haben sie sich von einer kleinen, dicken Amerikanerin vorführen lassen. Wie hieß die doch gleich? Mary Lulu irgendwas. Und die kann auch nur einen Handstand, weil Comanecis Trainer übergelaufen ist und es ihr beigebracht hat. Pah!“ Es macht ihm Spaß, große Reden zu schwingen, das habe ich vergessen. „Was sind denn das für Verhältnisse? In Seoul werden wir die Dinge wieder ins rechte Licht rücken.“ Er legt Ana den Arm auf die Schulter, der im Vergleich zu dem zierlichen Mädchen wie ein Baumstamm wirkt und sie schrumpfen lässt.
Ich sehe mich in der Halle nach Zoya um. Sie hat mir heute Morgen angekündigt, sie wolle sich vor dem Kamerateam verstecken. In einer Ecke albert sie mit Emilia herum. Die beiden laufen auf den Händen um die Wette und lachen, als sie gleichzeitig umfallen.
„Was soll das?“
Wie zwei Kätzchen knien sie vor mir und grinsen mich verschmitzt an, geben aber keine Antwort.
„Ihr sollt anständig üben, sonst zieh ich euch die Ohren lang.“ Ich ziehe zuerst Zoya, dann Emilia auf die Füße und gebe jeder zur Strafe einen Klaps auf den Oberschenkel.
„Entschuldigung“, murmelt Emilia und eilt davon, um sich mit den anderen aufzuwärmen.
Zoya reibt sich die schmerzende Stelle und blickt mir mit zusammengezogenen Augenbrauen entgegen. „Mir tut’s auch leid. Aber können wir nicht später weiter üben, wenn die alle weg sind?“
„Nur weil du jetzt in der Ersten Mannschaft bist“, ich hebe den Zeigefinger, „kannst du nicht tun, was du willst. Im Gegenteil. Ana und die anderen trainieren noch viel härter und das solltest du auch.“
„Ich weiß.“ Sie dreht den Kopf zur Seite und sieht hinüber zum Cheftrainer, der mit dem Kamerateam am Schwebebalken steht. Larissa und Ana knien auf dem Gerät und umarmen sich.
„Die beiden können sich nicht mal leiden“, sagt Zoya und verdreht die Augen.
„Sie sind die besten in der Mannschaft. Vielleicht sogar die besten im ganzen Land. Und wenn du dich nicht anstrengst, wirst du niemals annähernd so gut.“
„Ich weiß.“
„Ich will jetzt dreihundert Rumpfbeugen von dir sehen, aber ein bisschen plötzlich.“ Mit einem weiteren Klaps auf den Schenkel scheuche ich sie vor mir her. Der Cheftrainer hat Anweisung gegeben, die Mädchen nicht zu schlagen, während die Kameras an sind, aber keiner schenkt uns Beachtung.
Auf dem Weg durch die Halle werden wir jedoch von der Blondine entdeckt, die ihren Kameramann hinter sich her winkt, während sie mit großen Schritten auf Zoya zugeht.
„Das ist doch Zoya Davydova“, ruft sie aus und klatscht in die Hände, bevor sie in die Kamera spricht: „Zoya war in der letzten Woche bei ihrem ersten internationalen Wettkampf in Rotterdam. Oh, wie klein du bist!“
Sie stellt sich neben Zoya, die ihr nicht einmal bis zur Brust reicht, und legt ihr die Hände auf die Schultern.
„Ich wachse noch“, stellt Zoya ernst fest.
Naumkin drängt sich neben die kleine Turnerin und hievt sie auf seinen Arm, so dass sie die Moderatorin überragt. „So groß wollte sie werden, hat sie mir mal gesagt. Ich hab’ ihr erklärt, dann sei sie zu groß zum Turnen, da hat sie es sich ganz schnell anders überlegt.“ Er lacht über diese Anekdote, die er eben erfunden hat.
„Wie hat es dir gefallen in den Niederlanden?“, fragt die Blondine.
Zoya zuckt mit den Schultern. „Das Turnen hat mir großen Spaß gemacht. Aber der ganze Zirkus drum herum nicht.“
„Oh ja, du hast auf mich etwas schüchtern gewirkt.“
Zoya zuckt wieder mit den Schultern. Eine Fernsehpersönlichkeit ist dieses Kind wirklich nicht, denke ich und seufze.
„Sie hat noch nie vor so vielen Menschen geturnt“, erklärt Naumkin, „Aber während der Übungen war sie vollkommen konzentriert. Absolut. Wir bringen den Mädchen bei, alles andere auszublenden. An nichts anderes zu denken. Das ist auch zu ihrer eigenen Sicherheit, sonst verletzen sie sich. Beim Training tun wir alles, um Unfälle und Verletzungen zu verhindern. Trainer Marmeladow zum Beispiel steht selbst bei den Wettkämpfen neben dem Sprungtisch, um aufzupassen, dass kein Unfall passiert. Er ist Zoyas Onkel und sie trainiert mit ihm, seit sie fünf Jahre alt ist.“ Er stellt Zoya wieder auf ihre eigenen Füße. „Geh dich aufwärmen und wenn du damit fertig bist, zeigst du uns deine Übung am Stufenbarren.“
„Ja, Herr Cheftrainer.“ Sie geht davon und als wir sie eine halbe Stunde später suchen, ist sie verschwunden.
Auch zum Essen kommt sie nicht. Die Teller der Mädchen sind voll beladen mit Rührei, gebratenem Schinken und Kartoffeln. Der Cheftrainer hat sie gewarnt: Vor der Kamera sollen sie ein paar Bissen davon nehmen, aber er kontrolliert hinterher, dass niemand zu viel isst.
Die kleine Emilia sieht gequält auf die Speisen und reibt sich den Bauch. Ich beschließe, ihrem Leid ein Ende zu machen: „Was soll das denn? Na los, steh auf und geh auf dein Zimmer. So ein Gesicht zu ziehen! Das will doch keiner sehen! Findest du, das sieht schön aus, wenn du dreinschaust als hättest du Zahnschmerzen?“
Es ist fast Mitternacht, als ich an diesem Abend endlich selbst mein Zimmer aufsuchen kann. Unter dem Türspalt hindurch leuchtet ein Lichtschein und ich ahne, was mich erwartet.
Zoya kauerte im Schneidersitz auf dem Boden und blättert in einem Buch. „Sei nicht böse! Bitte, sei nicht böse!“ Sofort springt sie auf und fällt mir um den Hals.
Ich löse mich aus ihrer Umarmung. „Zoya, was soll das, hä? Was denkst du dir?“
„Ich hatte keine Lust auf diesen Trubel. Die waren doch sowieso nur wegen Ana da.“ Durch meine Zurückweisung entmutigt schlurft sie zum Bett und lässt sich bäuchlings auf die Matratze fallen.
„Du hast dich unmöglich benommen.“
„Tut mir leid“, flüstert sie und nimmt ihren rechten Daumen in den Mund, um darauf herumzukauen.
„Lass das, du bist kein Kleinkind!“
„Ja.“
Sie setzt sich auf und ich nehme neben ihr Platz. Meine Augen brennen vor Erschöpfung und ich will nur noch schlafen.
„Bitte, sei nicht mehr böse“, wiederholt sie und legt ihren Kopf in meinen Schoß.
„Ich war dir nie böse“, gestehe ich, „Aber für den Herrn Cheftrainer kann ich nicht sprechen. Morgen kannst du wahrscheinlich dein blaues Wunder erleben.“
Sie winkt ab und ein Lächeln legt sich auf das schmale Gesicht.
„Das kann nicht wahr sein!“ Ana zieht scharf die Luft ein und wirft die Arme in die Luft. „So werden wir nie gewinnen! Die werden uns auslachen! Die Rumänen vor allem! Die werden sich auf den Boden werfen vor Lachen. Sie werden lachen über Larissa, dieses Trampel. Dieses fette Schwein!“
Der Cheftrainer ist nach Moskau gefahren, um sich mit den Genossen vom Sportverband zu treffen. Er hat Anweisung gegeben, sie ohne seine Aufsicht nicht den Thomas-Salto üben zu lassen, aber das passt ihr nicht.
„Wenn du dich so aufführst, ändert das auch nichts.“
„Ach ja?“ Sie stellt sich mit verschränkten Armen vor mich und reckt das Kinn in die Höhe. „Zoya kommt damit anscheinend jedes Mal durch.“
„Zoya kommt mit überhaupt nichts durch, Ana“, sage ich ruhig.
„Als die Leute vom Fernsehen da waren, hat sie sich wie eine debile Idiotin im Lagerraum versteckt. Das ist nicht das Holz, aus dem Sieger gemacht sind, Herr Trainer. Das meint auch der Herr Cheftrainer.“
Sie versucht mich zu provozieren, aber diesen Gefallen tue ich ihr nicht. Naumkin war wütend auf Zoya, aber hat sich beruhigt, als die Fernseh-Blondine das unterhaltsam fand: „Entzückend! So jung, so schüchtern und trotzdem so eine herausragende Turnerin.“
„Ich arbeite fast mein ganzes Leben lang für all das hier! Warum wollen mir alle meine Karriere kaputt machen?“, schreit Ana.
Nachdem ich mich von ihr abwende, geht sie hinüber zu den jüngeren Mädchen, die auf der Matte üben.
„Was soll das denn werden?“, kreischt Ana hinter meinem Rücken.
Stöhnend drehe ich mich nach ihr um, meine rechte Schläfe pocht unangenehm und ich entdecke, dass Ana sich neben den Schwebebalken gestellt hat, auf dem Emilia eine Drehung versucht.
„Du bewegst dich wie eine behinderte Kuh! Du ...“
Emilia rutscht beim nächsten Sprung ab und landet seitlich auf der Matte. Mit geweiteten Augen sieht sie auf und Ana versetzt ihr einen Schlag, den das jüngere Mädchen mit dem Unterarm abwehrt.
„Schluss damit! Ana!“ Bevor ich bei den beiden bin, um sie auseinander zu halten, lässt Ana von Emilia ab.
Emilias Augen sind glasig, aber sie hievt sich zurück auf den Schwebebalken, ohne etwas zu sagen.
Etwas später beobachte ich, wie Ana Emilia am Sprungtisch einen Vortrag hält. Zoya steht hinter Ana und schneidet Grimassen, die nur Emilia sehen kann – und die senkt den Kopf, um ein Lachen zu unterdrücken.
„Was ist denn daran so lustig, dass du eine trampelige Kuh bist?“, ereifert sich Ana.
„MUH!“, macht Zoya laut und sie und Emilia brechen in schallendes Gelächter aus.
„Warum hast du Ana nicht geschlagen?“, will meine Nichte am Abend bei unserem gemeinsamen Spaziergang wissen.
„Weil ich das nicht gerne tue, das weißt du.“
„Hm.“ Sie knetet nachdenklich die Unterlippe zwischen Daumen und Zeigefinger. „Sogar der Herr Cheftrainer schlägt sie, dabei ist sie sein Liebling. Eigentlich ist sie, glaube ich, die einzige, die er leiden kann.“
„So, meinst du?“
„Ja.“ Sie nickt mit gewichtiger Miene.
„Du musst dich nicht wundern, dass er dich nicht mag, wenn du dich vor ihm und den Fernsehleuten versteckst.“
„Die waren doch wegen Ana da.“
„Du hast auch Eindruck gemacht in Rotterdam.“
Wir schlendern eine Weile schweigend am Waldrand entlang. Zoya beobachtet den Sonnenuntergang vor uns und ich beobachte sie.
„Deine Mutter hat es geliebt, vor vielen Menschen aufzutreten.“
„Sie war Balletttänzerin, das ist was anderes.“
„Aber ich war Turner. Und mir haben Zuschauer nichts ausgemacht.“
„Mir machen die Zuschauer auch nichts aus“, widerspricht sie und vergräbt die Hände in den Taschen ihres Mantels. „Ana ist jedenfalls eine doofe Ziege. Ich versteh’ nicht, warum sie sich so aufführt. Alle sagen, sie ist die Beste. Alle bewundern sie. Wenn ich an ihrer Stelle wäre, wäre ich glücklich.“
„Du musst sie verstehen: Sie ist achtzehn, in Seoul wird sie neunzehn sein. Für die übernächsten Spiele, wenn du auf jeden Fall teilnehmen kannst, ist sie vielleicht zu alt. Für die Spiele vor drei Jahren in Los Angeles wäre sie im richtigen Alter gewesen, aber du weißt ja ...“
„Wir haben nicht teilgenommen“, sagt sie.
„Stell dir vor, wie du dich fühlen würdest, wenn jemand den wichtigsten Wettkampf deines Lebens absagt, obwohl du bereit bist.“ Ein sowjetischer Sportler, der nie Gold geholt hat, ist nichts wert, das weiß ich aus bitterer Erfahrung.
Wie bleiben beide stehen und ich sehe ihr direkt in die blauen, mandelförmigen Augen. Das Licht des Sonnenuntergangs taucht die linke Hälfte ihres Gesichts in gleißendes Rot und auf den ersten Blick erinnert es an eine Wunde. Als habe sie sich verletzt.
„Bin ich bereit?“, fragt Zoya.
„Es fängt im Kopf an.“ Mit dem Zeigefinger tippe ich ihr an die Schläfe. „Sag dir da oben, dass du bereit bist – und dann geh und hol dir, was du willst.“ Ich lege ihr die Hand auf die Schulter und führe sie weiter.
„Ich könnte an drei Olympiaden teilnehmen“, rechnet sie, „An genau so vielen wie Larisa Latynina.“ Latynina, die erfolgreichste sowjetische Kunstturnerin, ihr großes Idol. Neun olympische Goldmedaillen. Zoya hat sich mit sieben bereits ausgerechnet, wie viele Medaillen sie braucht, um Latyninas Rekord zu brechen.
Sie wird im nächsten Monat erst dreizehn, wir haben behauptet, sie sei vierzehn, damit sie mit nach Rotterdam und im nächsten Jahr nach Seoul kann.
Ich weiß noch, wie sie mit fünf aussah, als ich sie von ihrem Vater weggeholt habe: mutter- und hoffnungslos, das Gesicht vollkommen verdreckt und verklebt, das dunkle Haar strähnig und fettig. Seit Tagen nichts mehr gegessen, dafür übersät mit blauen Flecken.
„Ich nehm’ dich mit“, sagte ich zu ihr.
Die treue kleine Seele antwortete: „Ich kann Papa nicht alleine lassen.“
In dem Moment habe ich mir gewünscht, so geliebt zu werden. So geliebt zu werden wie dieser Mann, der im eigenen Schmutz auf dem Boden lag, weil er bis zur Besinnungslosigkeit getrunken hatte.
„Die einzige, die hier alleine ist, bist du!“, erwiderte ich. Das war eine Lüge, denn ich war ebenso alleine.
„Zoya hat übrigens wieder Post bekommen. Ich hab’ dir die Briefe da hinten auf den Schreibtisch gelegt.“ Sascha räkelt sich gähnend und legt einen Arm um mich, als er sich umdreht. Er beaufsichtigt die Mädchen außerhalb der Turnhalle, wenn sie essen oder Hausaufgaben machen. Viele von ihnen kennt er deshalb gut, hört sich ihre Sorgen an oder schlichtet die Streitigkeiten unter ihnen. Mit den anderen Betreuern ist er für über hundert Mädchen zwischen sechs und achtzehn Jahren verantwortlich und ich beneide ihn nicht um seine Aufgaben. Er teilt außerdem die Post aus und ich habe ihn gebeten, mir alles zu geben, was an Zoya adressiert ist.
„Drei Briefe gleich. Wer schreibt ihr da so viel? Ein Verehrer, den du nicht magst?“
„Niemand Wichtiges.“ Der einzige, der ihr schreibt, ist ihr Vater. Wirre Nachrichten, teilweise unleserliches Gekrakel, das er volltrunken zu Papier gebracht hat. Zusammenhanglos wirft er seiner zwölfjährigen Tochter vor, sie würde ihn hintergehen, würde sich benutzen lassen von ihrem bösen Onkel, er verflucht und beschimpft sie – „Du bist ein Miststück wie deine Mutter!“ – und im nächsten Absatz beteuert er ihr, wie sehr er sie liebe und dass er sie holen komme, keine staatliche Anordnung der Welt könne ihn daran hindern. „Du bist noch viel zu jung, viel zu unschuldig, du weißt nicht, was sie dir antun. Sie quälen dich, das spüre ich. Ich beschütze dich, ich komme, halte durch!“
Es ist erbärmlich und mir wird übel, wenn ich diese Briefe lese, deshalb zeige ich sie Zoya nicht.
„Wenn du mich fragst, musst du dir keine Sorgen mache. Dass Jungs existieren, hat sie noch nicht gemerkt. Andersherum ...? Nun ... Die anderen Trainer haben zu viel Respekt vor dir. Außer Naumkin, aber der hat seine kleine Ana.“ Er sieht mir in die Augen und zieht die Stirn leicht in Falten. „Zoya hat Glück. Sie hat dich.“
Er ist nicht der erste, der mir das sagt. Nicht der erste, der es missversteht. „Ich habe Glück. Ich habe sie.“
An ihrem dritten Geburtstag schlug sie mit ihren älteren Cousinen im Wohnzimmer um die Wette Purzelbäume und war die Beste. Ich erholte mich von einer Operation am Bein – meine letzte Hoffnung – und hatte ein paar Tage zuvor erfahren, dass meine Karriere als Turner vorbei war. Die letzte große Schlagzeile über mich: Die Olympischen Spiele ohne Marmeladow. Ich war am Ende.
„Das ist doch sowieso nur verlogene Propaganda.“ Mein Schwager freute sich über meine Niederlage. „Sie saugen ihre eigene Bevölkerung aus, um dem Rest der Welt weiszumachen, wir hätten es hier so toll. Einen Dreck haben wir!“
„Nicht traurig sein.“ Zoya kletterte auf meinen Schoß und tätschelte mir die Wange. „Wenn ich mal eine Goldmedaille bekomme, schenk’ ich sie dir.“
Ich bin der Glückliche: Ich habe sie. Dieses kleine, begabte Mädchen, das seit seinem sechsten Lebensjahr unermüdlich arbeitet. Andere Kinder spielen sorglos auf der Straße, essen Schokolade und Kuchen, treffen sich mit ihren Freunden. Zoya hat das nie gehabt – und sich mit keinem Wort beklagt.
All unsere Mädchen sind so: Zielstrebig, konzentriert. Erwachsene Seelen, eingesperrt in diesen Kindskörpern, die sie sich durch Hungern erhalten. So wollen wir sie haben. Das Ideal des sozialistischen Kindes: Überragend, folgsam, darauf erpicht zu entbehren.
Sowjetische Kinder stopfen sich nicht mit Süßigkeiten voll und lungern herum. Sie schweben über den Boden und springen und tanzen mit Anmut und Energie. Sie sind nicht verkommen, sie sind vollkommen.
Zoya wird die Beste von ihnen sein. Ich habe ihr versprochen, sie dazu zu machen. Ich wollte, dass sie mich liebt. Vergiss deine tote Mutter, vergiss deinen nichtsnutzigen Vater, du hast mich und ich werde dir die Sterne vom Himmel holen. Nein: Ich werde dich zu einem Stern machen.
„Ich kann Papa nicht alleine lassen.“
Was ist mit mir? Ich bin auch alleine, Zoya – ohne Eltern, ohne Schwester, ohne Traum. Alles verloren. Nur dich habe ich. So will ich von dir geliebt werden: So, dass du mich nicht alleine lassen wirst. Denn ich kann dir die Welt zu Füßen legen. Wenn du mir folgst, erwartet dich Ruhm, wir reisen an Orte, die sonst unmöglich zu erreichen sind und dort werden dich alle bewundern.
„Larissa, nun stell dich nicht so an!“ Der Cheftrainer ist wütend. Larissa ist zu vorsichtig beim Training. Sie hat sich das Bein verletzt, aber darauf kann er keine Rücksicht nehmen. Er glaubt daran, dass ein starker Wille die Unzulänglichkeiten des Körpers überwinden kann.
Larissa sieht verzweifelt zu mir, doch ich wende mich ab. Ich bin nicht der Cheftrainer. Ana steht mit verschränkten Armen ein Stück entfernt und lächelt. „Sie ist so eine Heulsuse!“, meint sie zu mir.
Ich habe mit einem angebrochenen Knöchel geturnt – das war das letzte Mal, dass ich an einem Wettkampf teilnehmen konnte.
Zoya steht auf dem hohen Holm des Stufenbarrens, wirft sich furchtlos nach hinten zu einem Korbut-Salto, aber als sie mit den Händen nach der Stange greift, rutscht sie ab und landet auf der Matte.
„Konzentrier dich!“ Der Trainer, der daneben aufpasst, zieht sie am Oberarm auf die Beine. „Na los doch!“
Stöhnend schwingt sie sich zurück auf das Gerät, versucht es erneut und fällt.
„Jetzt reicht es! Geh da rüber, los!“ Der Trainer packt sie. „Geh nach da drüben und üb deine Sprünge. Aber ein bisschen plötzlich! Ich würd’ dich am liebsten an die Wand werfen, das sag’ ich dir! Heute will ich nichts mehr von dir sehen!“
Emilia kommt als nächste an den Stufenbarren, sie stürzt beim Überschlag und der Mann verliert die Geduld. Er ohrfeigt sie und schubst sie in Zoyas Richtung. „Du auch, da rüber! Kommt mir ja nicht mehr unter die Augen, sonst schlag’ ich euch grün und blau, ich schwör’s!“
Zoya zuckt nicht mit der Wimper, aber Emilia nimmt sich die Worte des Trainers zu Herzen. Mit großen Augen wirft sie mehrmals einen Blick über die Schulter zu ihm und beißt sich auf die Unterlippe.
„Alles in Ordnung?“ Zoya legt ihr die Hand auf die Schulter und umarmt sie kurz.
„Zoya, komm her!“, rufe ich sie. Sie zögert und sieht mich ausdruckslos an.
„Sofort.“
Langsam lässt sie das andere Mädchen los und gehorcht.
„Was machst du heute, hä? Was soll das?“
„Es tut mir leid“, erwidert sie ungerührt und blickt mir direkt ins Gesicht.
„Ihr müsst euch konzentrieren, verstehst du? Euch zusammen nehmen. Da eben am Stufenbarren hättest du dich verletzen können. Also pass gefälligst auf! Du hast verdammten Mist gebaut, ich bin enttäuscht.“
Kein Muskel zuckt in ihrem Gesicht.
„Los, geh da rüber zur Matte. Wir machen mit deiner Bodenübung weiter.“
Sie gibt sich Mühe, doch bei ihrer letzten Bahn – Überschlag, Drehung, Salto, Überschlag – reißt sie der Schwung ihres eigenen Körpers am Ende von den Füßen.
„Das kann doch nicht wahr sein! ZOYA!“ Mir rutscht die Hand aus, als sie an mir vorbei trottet, aber sie macht keinen Mucks, als ich sie mit der flachen Hand im Nacken treffe. „Jetzt hab’ ich aber auch die Nase voll!“
„Tut mir leid.“
„Du hast zu viel Schwung. Beim letzten Rückwärtssalto musst du den Oberkörper früher nach vorne nehmen, damit du bei der Landung nicht umfällst.“
Sie versucht es, aber stürzt trotzdem.
Vielleicht fehlt ihr die Kraft in den Beinen, überlege ich, wir sollten mehr Übungen dafür machen. Ich werde von einem Schrei aus meinen Gedanken gerissen. Dieses Geräusch hält für einen Moment die Zeit an – alles erstarrt, alles verstummt.
Danach dreht sich die Welt weiter, viel schneller und unkontrolliert: Drei der Trainer, darunter Naumkin, rennen los. „Bleibt, wo ihr seid, es ist alles in Ordnung!“, ruft der Cheftrainer den Mädchen zu, die mit geweiteten Augen umherblicken.
Ana liegt am Boden und Naumkin redet auf sie ein, sie solle sich nicht bewegen. Das Mädchen stöhnt und schluchzt.
„Holt den Arzt, holt den Arzt!“
Zoya sitzt auf meinem Bett, als ich in mein Zimmer komme. Draußen ist es dunkel, aber sie hat das Licht nicht angemacht.
„Stimmt es, dass Ana nie wieder gehen kann?“, fragt sie unvermittelt.
„Ihr Unfall ist erst eine Woche her. Das kann man noch nicht sagen“, weiche ich aus.
„Aber sie kann nicht mit nach Seoul, oder?“
„Wir werden sehen.“
Sie senkt den Blick und betrachtet ihre Hände, die gefaltet vor ihr liegen. „War der Herr Sportminister deshalb da? War er wütend?“
„Wie kommst du darauf?“
„Mir kommt er immer wütend vor.“
„Er war hier, weil wir über einen möglichen Ersatz für Ana gesprochen haben.“ Das ist die halbe Wahrheit: Wir werden auf jeden Fall eine andere Turnerin brauchen. „Wenn Ana nicht mitkommt, wirst du umso wichtiger.“ Ich setzte mich zu ihr auf die Bettkante.
„Manchmal wünschte ich mir, du wärst normal.“ Sie hält die Augen gesenkt und redet so leise, dass ich genau hinhören muss. „Du würdest Frauen mögen, dann könntest du heiraten und eigene Kinder haben.“
Ich habe das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Als hätte ich vergessen, wie man Luft holt. Für ein paar Sekunden geht es mir wie Ana: Mein Körper gehorcht mir nicht, ist lahm und nutzlos.
„Keine Angst, ich bin nicht blöd. Ich verrat’s niemandem. Dass du Sascha so magst. Und andere Männer.“ Schließlich blickt sie mir in die Augen, ruhig und ohne eine Regung in der Mimik. „Ich fänd’s nur manchmal schön, wenn du anders wärst. Normal. Meinetwegen. Dann würdest du mich in Ruhe lassen.“
„Willst du das denn wirklich? Dass ich ... Dass ich dich in Ruhe lasse?“ Mein Mund ist trocken und hinter meinen Augen beginnt es zu brennen. Wie schafft das dieses kleine Biest? Wieso tut sie mir das an? Wie ...
„Nur manchmal. Aber eigentlich nicht. Denn dann hab’ ich nichts mehr.“
„Hast du Angst, dass es dir so geht wie Ana? Das ist ein ... ein dummer Unfall gewesen, Zoya.“ Sie ist bei ihrem Thomas-Salto auf dem Kinn gelandet und hat sich zwei Halswirbel gebrochen – sie wird tatsächlich nie wieder gehen können.
„Nein. Ich hab vor gar nichts Angst.“
„Du bist noch sehr jung, deshalb glaubst du’s mir vielleicht nicht, aber ich tue das alles für dich. Wir tun das gemeinsam. Weil du etwas schaffen kannst, was andere nie erreichen können. Eines Tages wird sich das alles auszahlen, dann wirst du froh sein, dass du durchgehalten und so hart gearbeitet hast.“
Ihr Oberkörper schnellt nach vorn und sie wirft ihre Arme um mich. Für einen Moment taumle ich nach hinten, finde das Gleichgewicht aber, bevor ich abrutsche. „Ist ja gut!“ Wie klein sie ist, fällt mir auf. Ich bin überrascht, denn so zerbrechlich wirkt sie nie, wenn ich ihr beim Turnen zusehe. Jeden Knochen kann ich ertasten – Rippen und Wirbel und Schulterblätter. Nichts, unter dem sie sich verstecken kann.
„Das ist deine Chance, Zoya. Enttäusch mich nicht.“
„Ein Kilo. Eineinhalb vielleicht. Sie hat zugenommen. Sie war zu schwer, deshalb hat sie versagt!“, verkündet Naumkin am Tag nach dem Besuch des Sportministers. Er ist am Boden zerstört. Ana war sein Mädchen. Durch und durch. Er hat sie zu dem gemacht, was sie war. Was sie jetzt ist – ein armer kleiner Krüppel! –, dafür will er nicht verantwortlich sein. Das erträgt er nicht, das sieht man ihm an: Dunkle Ringe unter seinen Augen, das sonst glatt rasierte Kinn bedeckt mit schwarzen und weißen Bartstoppeln. Immer wieder reibt er sich mit beiden Händen über das Gesicht, während er auf mich einredet.
„Wir müssen mehr darauf achten, was die Mädchen essen. Ich habe neue Diätpläne, alles durchdacht und mit Experten abgesprochen. Ich hab’ mich schlau gemacht.“
Morgens um halb sechs weckt er die Mädchen zum Waldlauf, danach frühstücken sie – drei Scheiben Salami, eine Hand voll Mandeln – und trainieren drei Stunden. Die Lehrer kommen für den Schulunterricht in die Turnhalle, bevor sie bis in die Nacht weiter trainieren. Naumkin gibt seinen Zoo aus Schwänen, Äffchen und „unfähigen Kühen“ nicht mehr aus der Hand.
Zoya macht mit. Sie wirft einem Lehrer das Matheheft entgegen und beginnt sich für den Stufenbarren aufzuwärmen, taub für die Rufe, sie solle zurückkommen und lernen. Naumkin zuckt mit den Schultern und ich gebe vor, die Szene nicht bemerkt zu haben, sondern biete Hilfestellung an.
„Brauch’ ich nicht“, sagt sie brüsk und schwingt sich auf den unteren Holm. Der Stufenbarren war immer ihr Lieblingsgerät. Die Bodenübung macht den Turner sympathisch, es gibt Musik und Tanz. Der Schwebebalken fordert heraus, verlangt einem mehr Konzentration und Selbstdisziplin ab als die anderen Geräte. Der Sprungtisch ist der tückische Freund – entweder man triumphiert oder geht unter. Dazwischen gibt es nichts. Einen Moment von größter Stärke und Geschicklichkeit muss man aufbringen, dann ist es vorbei.
Der Stufenbarren ist zum Fliegen da, meinte Zoya, als sie mit dem Turnen angefangen hat.
„Deine Wechsel sind schlampig“, tadle ich sie, als sie fertig ist.
„Sind sie nicht“, erwidert sie, „Aber ich hab nicht genug Schwung für den Abgang, hast du’s nicht gesehen?“
„Nein, der Abgang war gut.“
„Du hast nur nicht aufgepasst, er war nicht gut!“
„Doch, aber ...“
„Nein!“
„Der Abgang war wirklich schlampig.“ Naumkin stellt sich neben mich und fuchtelt mit den Armen herum. „Na los, mach noch mal. Und streng dich an, mehr Schwung und die Beine ganz durchstrecken!“
„Ja!“ Sie nickt eifrig und nimmt die Übung erneut in Angriff.
„Ich kümmere mich drum, Marmeladow, schauen Sie nach Larissa.“
„Du musst lächeln, Mädchen, lächeln! Niemand will so einen Griesgram sehen!“ Marcel, unser Choreograph, läuft händeringend am Rand der Matte auf und ab. „Lächeln!“
Zoya bleibt nach einem Überschlag stehen und biegt die Mundwinkel nach oben.
„Das ist doch kein Lächeln!“, brüllt Marcel und stampft mit dem Fuß auf.
„Komm her, komm her!“ Naumkin winkt sie auf ihre Ausgangsposition. „Nochmal. Konzentrier dich. Denk dran, deine Zehenspitzen richtig zu durchzustrecken.“
„Und lächeln! Lächeln!“, fügt Marcel hinzu.
Sie reibt sich die Augen und atmet schwer, als sie auf uns zukommt. Ich kann sehen, dass sie erschöpft ist. Ihr Gesicht ist blass und schweißnass, aber sie sagt nichts und beginnt ihre Kür.
Naumkin hat den Choreographen mit einer neuen Bodenkür für Zoya beauftragt. Die Übungen der anderen entsprechen der typisch russischen Art des Bodenturnens, mit der wir seit Jahrzehnten den Ton angeben: angelehnt ans klassische Ballett, elegant. Nach ihrem waghalsigen Thomas-Salto beispielsweise tanzte Ana mit fließenden Bewegungen weiter. Zwischen den halsbrecherischen Sprüngen und Drehungen war sie ein Schwan, war sie Anmut.
Zoya ist das Äffchen. „Wie ein Lausejunge “, erklärte Naumkin, „So soll’s aussehen. Alle täuschen Jugend vor – wir haben Jugend.“ Zu einem pfiffigen Charleston hüpft sie umher, wackelt mit Armen und Beinen, springt und rennt. Dass Äffchen, der Lausejunge, ein spielendes Kind, das gar nicht spielt.
Sie meint es ernst. Es ist eine Kriegserklärung an die Welt.
Nur noch die Mädchen aus der Ersten Mannschaft – die, die wir zu den Wettkämpfen mitnehmen – sind in der Halle, es ist fast Mitternacht. Wir haben die Fenster geöffnet, denn es war ein heißer Tag und die Kühle der Nacht tut allen gut.
„Höher, höher!“, brüllt Naumkin, „Und jetzt streck den Arm richtig durch. Los! Nicht so. Streck den verdammten Ellbogen durch!“
Am Ende ihrer Kür kniet sie auf dem Boden, den Rücken durchgebogen, den linken Arm triumphierend erhoben. Jede Muskelfaser in ihrem Körper angespannt. Ihr Atem geht schwer und sie japst nach Luft, als sie versucht zu lächeln.
Naumkin dreht sich kopfschüttelnd zur Seite. „Was sagen Sie?“
Ich beobachte Zoya, wie sie von der Matte abgeht. Sie ist dreizehn, drei Wochen nach den Olympischen Sommerspielen wird sie vierzehn. Aber ihr Körper ist der einer Zehnjährigen. Kurvenlos vom Hals bis zu den Zehenspitzen - so gerade wie mit dem Lineal gezogen.
„Sie hat Fortschritte gemacht“, gebe ich zu. Der Cheftrainer nickt.
„Die Rumänen werden sehen ... Alle werden sehen. Haben Sie gelesen, was die Presse in Rumänien schreibt?“ Er lacht trocken auf. „Dass wir ohne Anastasia nichts mehr haben. Ha! Sie werden sehen ...“
„Apropos: Wie geht es ihr?“
Er schüttelt den Kopf. „Es ist vorbei. Aber das darf uns nicht aufhalten. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen, können Sie eine Weile das Kommando führen? Dankeschön.“ Er verabschiedet sich mit einem Schulterklopfen und lässt mich mit den Mädchen zurück.
„Wir müssen zum Stufenbarren“, verlangt Zoya sogleich und geht voran, ohne auf mich zu warten.
Sie ist keine Dreizehnjährige. Sie hat kein Alter mehr, kaum noch ein Geschlecht. Sie ist ein Meter fünfundfünfzig Hoffnung: für Olympisches Gold, für Erfolg. Ein dreiundvierzig-Kilo-Aushängeschild der sozialistischen Überlegenheit. Die Kinder in unserem Staat sind keine Kinder, sie sind Überkinder.
„Hast du schon mal daran gedacht zu heiraten?“, fragt mich Sascha eines Nachts, als wir beide nicht einschlafen können.
„Ist die Frage ernst gemeint?“
„Ja klar! Wenn du verheiratet wärst, wär’s weniger auffällig. Du weißt schon ...“
„Hast du vor zu heiraten?“
„Ich denke schon. So ein Mädchen, mit dessen Familie wir uns früher die Wohnung geteilt haben. Sie arbeitet in einer Bäckerei in Noginsk. Sie ist nicht besonders hübsch anzusehen, deswegen findet sie keinen Kerl, hat mir ihr Vater geschrieben.“
„Und dich gefragt, ob du sie nimmst?“
„So ähnlich. Hübsch ist sie wirklich nicht, sehr dick – und auch nicht helle. Aber umso besser. Hässliche Frauen haben weniger Ansprüche, sagt mir mein Bruder zumindest. Und wenn sie dumm ist, kommt’s mir ebenfalls gelegen.“
„Das klingt gut“, lüge ich, weil ich mich gezwungen fühle, etwas zu sagen. Ich sollte ihm die Idee nicht ausreden, denke ich, denn er hat Recht. Zu heiraten ist durchdacht.
„Ein paar Kinder wären nett“, fährt er fort, „Ich mag Kinder sehr. Ein paar kräftige Jungs. Denen würd’ ich Boxen beibringen. Das hab ich früher gemacht. Diese ganze Turnerei finde ich nicht gut, um ehrlich zu sein. Ich seh’ ja, was sie aus es aus den Mädchen hier macht. Ich hab’ Emilia erwischt, wie sie aus der Toilette getrunken hat.“ Naumkin hat seit zwei Tagen das Wasser rationiert, sogar die Wasserhähne abgestellt, aber darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht. Er meint, die Rumänen würden das auch so machen. Er hat sich genau informiert.
„Das verrückte Ding!“ Ich schüttle den Kopf. „Wenn sie so viel Energie darauf verwenden würde, mit uns zu arbeiten anstatt gegen uns ...“
„Sie ist nicht die einzige. Die Mädchen nehmen alle Gläser mit auf die Toilette.“
„Zoya auch?“
„Ich denke nicht. Aber in letzter Zeit wirkt sie verändert auf mich.“
„Ja, das ist mir schon aufgefallen. Sie ist nicht mehr so kindisch und hat noch einmal große Fortschritte gemacht. Das sieht sogar Naumkin.“
„Das meinte ich nicht. Ob diese Diät so gut für sie ist? Ich seh’ ein, dass man zum Turnen zierlich sein muss, aber ein paar Muskeln braucht man, oder? Zoya sieht so abgemagert aus, als habe man sie eben aus dem Gulag geholt. Außerdem verhält sie sich anders. Vor ein paar Wochen haben sie und Emilia jeden Abend im Zimmer herumgetobt, als ich sie ins Bett schicken wollte. Die beiden waren ein Herz und eine Seele, haben viel gelacht. Das tun sie schon lange nicht mehr.“
„Sie wird erwachsen.“
„Mag sein. Aber da ist noch was anderes. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Früher war sie fröhlich und warmherzig, aber in letzter Zeit ... Sie beleidigt sogar Emilia. Früher hat sie unsere kleine Heulsuse getröstet und aufgeheitert – heute bringt sie Emilia zum Weinen.“
Auch mir wird Zoya fremd. Es ist kein Gehorsam, den sie seit Anas Unfall an den Tag legt. Es ist Konzentration. Sie trainiert und hungert und trainiert, aber nicht, weil wir es von ihr verlangen, sondern weil sie es will. Ihr diese Einstellung zu vermitteln war mein Ziel. Oder etwa nicht?
„Sie kann nicht schwimmen, weißt du“, platzt es aus mir heraus.
„Wie?“
„Ich wollte es ihr beibringen als sie sechs war. Wir waren am Meer, aber jedes Mal, wenn ich mir ihr ins Wasser bin und sie losgelassen habe, hat sie geschrien und geweint. Ich hab’ es drei Tage lang immer wieder versucht, aber sie wollte mich einfach nicht loslassen.“ Am Ende ging es mir nicht mehr darum, sie zum Schwimmen zu überreden. Ich stand mit ihr im Arm brusthoch im Wasser und wollte spüren, wie sie sich an mich drückt. Nicht loslassen, nicht loslassen, Onkel Eugen!
„Niedlich“, murmelt Sascha unbeeindruckt. „Wolltest du denn nie eigene Kinder?“
„Nicht wirklich. Als meine Karriere vorbei war, hat das Sportministerium vorgeschlagen, ich solle eine Eiskunstläuferin heiraten. Nettes Mädchen, etwas schüchtern, aber ganz reizend eigentlich. Wir waren sogar verlobt.“
„Was ist draus geworden?“
„Meine Schwester ist gestorben und ich hab ihr vorgemacht, ich wolle ihr nicht zumuten, ein fremdes Kind mit mir großzuziehen. Sie haben sie dann mit einem Skifahrer zusammen gebracht, glaube ich.“
Saschas Hand fährt in Kreisen über meinen Rücken. „Verrückte Welt, nicht?“
Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf die Hitze, die von seiner Handfläche ausgeht. Eine Gänsehaut legt sich über meinen ganzen Körper. „Verrückte Welt."