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Die kleine Rosa
Die kleine Rosa
Eine schöne Beerdigung haben sie ihr bereitet, der kleinen Rosa.
Das sehe ich gleich, als der Bestatter die Tür der Friedhofskapelle öffnet und uns hereinbittet. Wir sind zwölf Menschen, sieben davon erkenne ich wieder. Vor Jahren waren wir Kollegen. Das ist lange her und wir begrüßen uns verhalten, Verlegenheit im Blick. Niemand spricht von Rosa, die wir gleich begraben werden. Kurze Bemerkungen über das feuchte Herbstwetter und karge Fragen nach dem Befinden. Wir sind alle auf Bestellung hier und treten von einem Fuß auf den anderen.
Vier Männer in dunklen Anzügen stehen abseits und rauchen, hüsteln ab und zu und sehen schweigend aneinander vorbei. Vermutlich sind sie von der Krankenhausverwaltung, denke ich und überlege Christa zu fragen, ob sie jemanden von denen kennt. Doch eigentlich interessieren mich weder die Frage noch die Antwort, und bevor ich mich entscheiden muss, es zu tun oder zu lassen, geht die Kapellentür auf und ich starre erschrocken auf den hellbraunen Sarg und ein viel zu großes Lilienbukett auf dem Deckel. Viel zu gewaltig für die kleine Rosa.
Niemand will sich in die vorderen Reihen setzen, wir verteilen uns irgendwo in der Mitte. Schließlich stehen die Anzugmänner wieder auf und quetschen sich in die zweite Reihe, als hätten sie nicht genügend Platz. Rechts und links von Rosas Sarg stehen jeweils zwei riesige Kerzenständer mit ebenso riesigen, weißen Kerzen. Hinter Rosas Kopf erheben sich pyramidenförmig drei zurechtgestutzte Lebensbäumchen in Tonkübeln. Die tragen sie zu jeder Beerdigung hinein, genau wie die Kerzen, das weiß ich noch von Tante Magda, die letztes Jahr gestorben ist. Ob Rosa ihre weiße Kittelschürze trägt, dort, in dem viel zu großen Sarg? Anders habe ich sie nie gekannt.
Seit mindestens zwanzig Jahren habe ich überhaupt nicht mehr an sie gedacht. Bis Paul anrief und mich bat, zur Beerdigung zu kommen. Mit der Bitte schienen die Jahre zusammenzuschmelzen. Mir war, als hätte ich Rosa gestern noch gesehen. Nicht nur ihre Gestalt tauchte aus der Erinnerung auf, der schmale eckige Körper, der mir immer ungeschlechtlich vorgekommen war - ein Instrument zum Verrichten harter Arbeit, nicht mehr - , sogar ihr Geruch schlich sich wieder in meine Nase: Kaloderma - Seife, ein klarer, grünblauer Duft, der mit Parfüm nicht das Geringste zu tun hatte.
Rosas Markenzeichen. Man konnte sie riechen, bevor sie um die Ecke bog. Von morgens bis abends arbeitete Rosa im Krankenhaus, tagaus, tagein. Wenn ich da war, war sie ebenfalls da, dies sagten auch die anderen Krankenschwestern, die Laboranten, Doktoren, Lageristen und Köche. So liegt die Vermutung nahe, dass Rosa ganz und gar im Krankenhaus lebte, jederzeit abrufbereit. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, dass jemand sie mal in der Stadt oder im nahen Park gesehen hat. Ich kann es mir auch jetzt nicht vorstellen: Rosa auf dem Wochenmarkt, Rosa in der Straßenbahn. Nein, ihr Kosmos war das Krankenhaus.
Ganz gleich, ob sie morgens die Schmutzwäsche der Entbindungsstation in die Wäscherei brachte, mittags verwirrte Alte fütterte, oder am Abend einem Sterbenden den Rosenkranz vorbetete, Rosa roch nach Kaloderma-Seife und trug eine weiße Kittelschürze.
Ansonsten kann ich nichts über sie sagen. Rosa war da und arbeitete viel, sprach aber nur wenig. Sie brauchte keine Erklärungen, wusste immer, was zu tun war. Die Abläufe in unserem Krankenhaus waren in ihr verankert. Ungefragt brachte sie um sieben Uhr am Morgen die Blutproben ins Labor, überprüfte, ob noch genug Glasröhrchen im Regal standen, gab auf dem Weg Bestellzettel in der Warenausgabe ab und ging danach in die chirurgische Ambulanz, um den Müll, der im Nachtdienst angefallen war, wegzuräumen.
Irgendwann bekam Rosa ein Funkgerät. Sie beäugte den kleinen Kasten zunächst misstrauisch und traute sich kaum, ihn anzufassen. Die Oberschwester erklärte ihr geduldig, auf welchen Knopf sie drücken musste, wenn der Piepston erklang und das Signallämpchen aufleuchtete, um auf einem winzigen Bildschirm zu sehen, welche Telefonnummer sie anrufen sollte. Rosa kannte alle Haustelefonnummern auswendig. Nach einigen Tagen war der ‚kleine Funk’, wie sie ihn nannte, ihr ganzer Stolz. Die kleine Rosa mit ihrem kleinen Funk, witzelten wir und freuten uns, dass sie jetzt noch schneller zu unserer Verfügung stand.
Ob Paul sich noch an diese Kleinigkeiten erinnerte? Ich muss ihn fragen; er ist der einzige von uns, der noch arbeitet. Noch immer auf der Urologie.
Ein zittriger Orgelton reißt mich aus meinen Erinnerungen. ‚Großer Gott, wir loben dich’, spielt ein ungeübter Organist, bedächtig erhebt sich ein Anzugmann und geht gemessenen Schrittes zu dem Rednerpult rechts neben Rosas Sarg. Ein einziges Blatt trägt er in der Hand und er blickt nicht zu Rosa hin. Während der Organist die letzten dünnen Töne in das Kapellenrund schickt, räuspert sich der Anzugmann, schiebt das Mikrofon zur Seite und lässt kurz die Schultergelenke kreisen. Dann stützt er sich mit beiden Händen am Pult auf und schaut mit ernstem Blick in die kleine Runde. Es wirkt eher wie ein Angriff, denke ich und kann ihn nicht ansehen. Noch bevor der Mann seine Ansprache beginnt, öffnet sich hinter uns die Kapellentür und zwei Männer mit weißen Handschuhen tragen einen prachtvollen Kranz aus gelben und roten Herbstastern herein, legen ihn neben dem Rednerpult ab und drapieren die Schleife mit den goldenen Lettern so, dass wir die Aufschrift lesen können.
‚Mit Dank! Ein letzter Gruß vom Stadtkrankenhaus’, steht darauf und schon beginnen die Astern einen Friedhofsduft zu verströmen. Ich stecke meine Nase in die weißen Teerosen, die ich in Rosas Grab werfen werde, doch sie duften nicht. Hinter mir beginnt Monika zu husten, gerade jetzt, wo der Anzugmann anfangen will. Hatte sie nicht vor zwanzig Jahren schon Last mit den Bronchien? Damals arbeiteten wir auf der Inneren zusammen und Monika bekam in jedem Herbst ihre spastische Bronchitis und die Patienten hatten Angst, sich anzustecken. Manchmal war Rosa aufgetaucht und hatte Salbeitee gekocht, die Schwerkranken mit mir gebettet, damit Monika sich ein Weilchen ausruhen konnte.
Wie hatte Rosas Stimme geklungen? Irgendetwas muss sie doch gesagt haben, etwas wie ’setz dich mal hin, Monika’ oder ähnliches, doch ich erinnere mich nicht an den Klang ihrer Stimme.
„Rosemarie Hofmann war eine stille und freundliche Person, die immer ein Lächeln im Gesicht trug“, sagt der Anzugmann mit belegter Stimme und räuspert sich umständlich.
Rosa hieß also Rosemarie Hofmann. Das habe ich nicht gewusst. Ich stelle mir vor, wie jemand ‚guten Tag, Frau Hofmann’ zu ihr sagt und sehe Rosa erstaunt aufblicken und vorbei gehen. Am anderen Ende der Bank schüttelt Christa kurz den Kopf. Vielleicht versucht sie ebenfalls, sich die Person Rosemarie Hofmann vorzustellen. Das mit dem Lächeln stimmt auch nicht. Rosa hat nicht gelächelt, ihr Gesicht sah nur so aus, als lächelte sie ständig. Das lag vielleicht an ihrem streng zurückgekämmten Haar, das sie zu einem Knoten zusammengesteckt trug. Dickes, rotblondes Haar, so festgezurrt, dass die blanke Gesichtshaut gestrafft schien. Die runden Augen lagen tief in den Höhlen, huschten aber beständig hin und her und sahen alles, davon war ich immer überzeugt. Rosas Augenbrauen waren dunkel und sehr gerade gewesen, ihre Lippen schmal, aber breit und leicht nach oben gebogen und ich habe oft gedacht, dass die Wichtelfrauen aus den Geschichten meiner Kindheit sicher alle wie Rosa ausgesehen haben. Aber gelächelt hat sie nie, sie sah einfach so aus.
„Unser Krankenhaus war ihre zweite Heimat geworden und sie…“
Das heißt doch, dass es vorher eine andere, erste Heimat gegeben haben muss. Zwölf Jahre habe ich Rosa gekannt. Als ich das Krankenhaus verließ, zeigten sich vereinzelt graue Strähnen in Rosas Haaren und um den Mund spann sich ein Netz zarter Linien. Das waren die einzigen Veränderungen, die ich je an ihr bemerkt habe. Ich erinnere mich an einen Besuch auf meiner Station, zwei, drei Jahre nach der Geburt meiner Tochter. Mit dem Kind an der Hand bin ich auf Rosa zugegangen, die gerade mit einem Laugeneimer aus dem Putzraum kam. ‚Das ist Rosa’, habe ich zu meiner Tochter gesagt und hinzugefügt: ‚Sie ist der gute Geist in unserem Krankenhaus.’ Damit wollte ich Rosa eine Freude machen, merkte aber bereits beim Sprechen, dass es sich steif und aufgesetzt anfühlte. Meine Kleine krähte los und wollte in den Putzeimer greifen. Rosa blieb wie erstarrt stehen und riss den Eimer hoch, ihr Blick irrte verstört hin und her und mir wurde unbehaglich zumute, denn Rosa sah aus wie ein hilfloses Kind. So sollte ich sie nicht sehen. Rasch nahm ich meine Tochter auf den Arm, murmelte ‚alles Gute, Rosa’, und drehte mich auf dem Absatz um. Wie lange sie wohl noch dort gestanden haben mag? Und wieso war ich auf die wahnwitzige Idee gekommen, dass Rosa sich über meinen Besuch freuen würde, oder über meine Tochter? Ich hatte sie einfach nur gestört. Seitdem habe nicht mehr an Rosa gedacht. Ich schaue auf den Sarg und denke, dass Rosa auch einmal ein Kind gewesen war. Ein kleines Mädchen mit rotblondem Haar, glänzenden Apfelbäckchen und Knopfaugen. Mit einer Mutter und einem Vater und vielleicht sogar Wichtelgeschwistern. Ich lächle und bin sicher, dass sie ein besonderes Kind gewesen sein muss. Vielleicht hat sie ihrer Mutter schon damals gerne geholfen, still und zufrieden mit einer Puppe gespielt und an Sommertagen im Sandkasten gehockt. Ich kann mir die kleine Rosemarie nicht mit anderen Kindern vorstellen. Wahrscheinlich hatte sie Brüder, mindestens zwei, denen sie jeden Abend die Schuhe putzte und deren Spielsachen sie einsammelte. Vielleicht war aber auch alles ganz anders gewesen. Niemand von uns weiß das. Wenn eine Dachkammer hinter dem Krankenarchiv, auf dem Dachboden eines Krankenhauses, zur zweiten Heimat werden kann, ist es dann wahrscheinlich, dass es in der ersten grüne Wiesen und Puppen gegeben hat?
„Mit Freude und Umsicht ist Rosemarie Hofmann allen Abteilungen zur Hand gegangen, niemand kannte sich im Krankenhaus besser aus als sie.“ Der Anzugmann faltet seinen Zettel langsam zusammen, also will er wohl zum Ende kommen.
Ob Rosa ihre Arbeit mit Freude getan hat, kann letztendlich niemand wissen, sie hat sich nie beschwert, nur ein einziges Mal ist mir aufgefallen, dass ihr Gleichmut erschüttert war. Damals hatte die Oberschwester sie beauftragt, die Kacheln im Vorraum der Leichenhalle abzuwaschen. Dort standen die Transportbahren, mit denen die Toten von den Stationen abgeholt wurden: Rollbahren mit einer Blechhaube. Die Oberschwester setzte nach kurzer Überlegung hinzu, dass Rosa die Bahren auch gründlich schrubben sollte. Ich trat zufällig auf den Flur, hörte zu und sah, was mit Rosa passierte. Ihre Schultern sackten herab, sie steckte die zitternden Hände in die Kitteltaschen und senkte den Kopf so tief, dass die Oberschwester auf ihren Nacken schaute. Rosa war noch kleiner geworden, als sie ohnehin war. Die Oberschwester schien das nicht zu bemerken, schon im Fortgehen rief sie Rosa noch zu, sie solle sich den Schlüssel vom Leichenkeller an der Pforte abholen und später wieder zurück bringen. Rosa blieb einfach stehen. Ich ging zu ihr und sagte, es sei doch nur der Vorraum, in den Leichenkeller müsse sie doch gar nicht hinein. Gerade wollte ich ihr die Hand auf die Schulter legen, da hob sie den Kopf, zog die Hände aus den Taschen und strich mit einer entschlossenen Bewegung über das straffe Haar, sah mich kurz an und ging rasch davon. Im Laufen reckte sie ihre kleine Gestalt, als wolle sie mir signalisieren, dass überhaupt nichts geschehen sei. Zwei Stunden später war Rosa zurück und ging sofort in die Wäschekammer, knotete die gefüllten Säcke zusammen und schleppte sie vor die Stationstür.
Die Blumen stinken nach Fäulnis.
„Im nächsten Monat wäre unsere Rosemarie achtzig Jahre alt geworden, doch dem Schöpfer hat es gefallen, sie vorher zu sich zu holen. Wir freuen uns, dass wir sie auch in den letzten acht Jahren, nachdem sie in den wohlverdienten Ruhestand gegangen war, bei uns haben durften.“ Der Zettel verschwindet in der Hosentasche und der Anzugmann geht an seinen Platz zu den anderen Anzugmännern. ‚Lobet den Herren’ spielt die Orgel, durch den Mittelgang kommt der Pfarrer und hinter ihm die Sargträger.
Ich rechne. Also hat Rosa bis zu ihrem zweiundsiebzigsten Lebensjahr gearbeitet und nach wie vor in ihrer Dachkammer gewohnt.
Die Seitentür der Kapelle wird geöffnet und der Trauerzug setzt sich in Bewegung, allen voran die Anzugmänner, man könnte sie für Rosas Söhne halten. Ich atme tief die kalte Herbstluft ein. Sie schmeckt köstlich frisch. Paul gesellt sich zu mir.
„Danke, dass Du gekommen bist“, sagt er, „ich habe mir die Finger wundgetippt am Telefon, aber außer diesem kleinen Haufen hatte niemand Interesse, oder keine Zeit, oder angeblich keine Erinnerung an Rosa…ach, weiß der Teufel.“ Sein Ton war scharf, die Stimme verbittert. Paul ist ergraut, sein Gang schwerfällig.
„Was hat sie gemacht in den letzten Jahren?“, frage ich ihn.
Er zieht die Luft ein. „Na ja, in den letzten Jahren ist sie eigentlich nur noch zum Essen auf meine Station gekommen, über die kurze Hintertreppe. Ich habe dafür gesorgt, dass sie immer das Nötigste hatte. Bis zur Kantine hat sie es nicht mehr geschafft und es war keiner da, der sich verantwortlich gefühlt hat, so rund um die Uhr, verstehst du?“
„Warum ist sie nicht ins Altenheim gegangen?“ Ich ahne die Antwort.
„Wollte sie nicht, da war nichts zu machen. Sie wollte zuhause sterben, na ja, ist sie dann ja auch.“ Die letzten Worte spuckte Paul heraus. Zuhause. Mir ist kalt.
„Wie ist es passiert?“
Paul bleibt stehen. „Ich war in Urlaub“; sagt er, „nur ein paar Tage. Als ich wieder da war, kam Rosa nicht zum Essen. Ihr Teller stand in der Mikrowelle, aber sie kam nicht.“
Er setzt sich wieder in Bewegung. „Da habe ich die Kollegen gefragt und keiner konnte sich genau daran erinnern, wann sie überhaupt zum letzten Mal runtergekommen ist. Viel zu tun, ich war nicht da, ein Krankenschein…, du kennst das ja.“ Ich nicke und ziehe den Rollkragen bis unters Kinn. Schweigend gehen wir den Hauptweg entlang und biegen ein in den Weg, der zum Rasengräberfeld führt. Es dauert eine Weile, bis Paul wieder spricht.
„Ich bin dann hoch durch die kleine Hintertür und habe sie gefunden. Sie war schon länger tot.“
Wir betreten das Wiesenrondell mit den eingelassenen Marmorplatten und steuern auf die ausgehobene Grube zu.
„Sie ist im Schlaf gestorben, nehme ich an. Aber weißt du, was ich schrecklich fand?“ Ich sehe Paul an und schüttle den Kopf.
„Ihr Haar war offen. Es ging runter bis zu den Hüften.“ Tränen glitzern in Pauls Augen.
„Das hätte sie nie gewollt, dass einer sie so sieht, niemals.“
Der Pfarrer betet das Vaterunser und empfiehlt Rosemarie Hofmann einem gütigen Gott. Langsam senkt sich der Sarg hinab und mit ihm verschwinden die Lilien. Ich werfe meine Rosen auf den Deckel und starre in die Tiefe. Mir ist kalt. Als ich mich umdrehe, ist außer Paul niemand mehr da.
„Noch drei Jahre“, sagt er und lächelt, „dann gehe ich in Rente.“
Wir machen uns auf den Weg zum Ausgang. Er streckt mir die Hand hin.
„Also, alles Gute und noch Mal vielen Dank fürs Kommen.“
„Habe ich doch gerne gemacht Paul; für Rosa, meine ich.“ Meine Stimme klingt seltsam und ich überlege einen Moment, ob ich Paul mal zum Kaffee einladen soll, sage aber nichts.
„Na klar“, sagt Paul, „für unsere kleine Rosa.“