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Die kleine Palme
Die kleine Palme
Wenn ich das Haus verlasse, muss ich eine kleine Rampe nach unten gehen, um auf den Bürgersteig zu gelangen. Der Weg ist steil, aber nicht so steil, als dass ich es nicht mit meinem Rollator schaffen würde. In jüngster Zeit blockiert die linke Bremse etwas. Irgendwann wird es mein Sanitätsdienst richten. Beim Hinuntergehen muss ich mich konzentrieren und auf den Weg schauen, um nicht zu stürzen. Wenn ich am unteren Ende der Rampe ankomme, kann ich meinen Blick wieder heben. Und genau da steht sie, die kleine Palme, von der ich erzählen möchte.
Um was für eine Palme es sich handelt kann ich nicht sagen. Irgendwann einmal habe ich versucht, ihren genauen botanischen Namen zu erfahren. Aber das ist mir nicht gelungen. Es gibt einfach viel zu viele unterschiedliche Palmen. Meine Palme ist sehr klein im Vergleich zu gleichartigen Palmen, die im Garten wachsen. Wenn ich mich neben sie stellen könnte, könnte ich mit den erhobenen Händen den Ansatz der Palmwedel berühren. Ihre Artverwandten im Garten haben die drei- bis vierfache Größe. Meine Palme steht in einem kleinen, rechteckigen Beet mitten auf dem Bürgersteig. Der Boden ist von Rasen bedeckt, was hier eine Seltenheit ist und darauf schließen lässt, dass sie regelmäßig gegossen wird. Selten treibt sie ein neues Blatt aus. Ihr neuer Wedel ist hellgrün und viel saftiger als ihre anderen Blätter. Und topgesund. Aber das ändert sich binnen weniger Wochen. Dann ist auch das neue Blatt vollständig ummantelt mit einem weißen, wolligen Belag, der sie völlig entkräftet. Die Palme hat ein massives Gesundheitsproblem. Woll- und Schmierläuse haben alle ihre Wedel befallen und ausgesaugt. Mit Parasiten kenne ich mich aus. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie zerstörerisch sie wirken können. Den Zecken und der durch sie verursachten Borreliose verdanke ich meinen Rollator.
Die Palme tut mir leid. Der Befall ist einfach viel zu stark. Ich überlege mir, wie ich ihr helfen kann. Früher habe ich die Rosen gegen Läuse und Sternrus mit einer leichten Apfelessigtinktur besprüht. Einigen hat es wohl geholfen. Anderen nicht. Ob ich die Palme mit Essig unterstützen kann? Wie oft habe ich mir darüber Gedanken gemacht? Wie oft habe ich mir vorgenommen, in einer Sprühflasche einfach etwas Essig mit Wasser zu mischen und die Pflanze damit zu besprühen. Man würde ja sehen, ob es ihr hilft. Mittlerweile vermag ich die Palme gar nicht mehr anzuschauen, so sehr schäme ich mich, immer noch keinen Versuch gestartet zu haben. Das sieht die kleine Palme anders. Sie ist böse mit mir. Regelrecht wütend. Sie möchte nicht, dass ich mir Sorgen mache und versuche, ihr zu helfen. Sie versucht immer wieder, mir das zu erklären. Ich möchte das aber nicht hören. Es ist viel zu hart, undenkbar, zu wissen, ich könnte ihr vielleicht helfen, es aber nicht zu tun, geschweige denn nicht tun zu dürfen. Vielleicht kann meine Tinktur sie von den Parasiten befreien. Vielleicht könnte sie dadurch wieder gesund werden und Kraft für Wachstum gewinnen. Und wenn nicht, würde ich etwas anderes ausprobieren. Im Internet kann man sehr viele und unterschiedlich Ratschläge erhalten.
Am Ende der Rampe behalte ich jetzt immer meinen Kopf unten und gehe weiter, so schnell ich kann. Ich muss mit meinem schlechten Gewissen und den Vorwürfen der kleinen Palme, die ich nicht hören möchte, klarkommen. Hinter der Palme, auf der gegenüberliegenden Straßenseite, liegt ein kleines Café. Dort verbringe ich an guten Tagen den Vormittag. Über die Straße führt ein Zebrastreifen und ich kann mir beim Überqueren der Straße die Zeit nehmen, die ich benötige. Vor dem Café gibt es eine kleine überdachte Terrasse. Um dorthin zu gelangen, muss ich zwei Stufen nach unten gehen. Schwierig, aber bewältigbar. Der Trick ist: man muss den Rollator beide Stufen auf einmal nach unten stellen und die Bremsen einlegen. Dann steht man zwar ziemlich weit nach vorne gebeugt, aber man kann die Beine Stufe nach Stufe nach unten führen. Heute ist eine Aushilfskraft im Service, die ich noch nicht kenne. Sie kommt mir entgegen und will mir helfen. Das irritiert mich gewaltig. Ich habe Angst, meine mühsam aufrecht gehaltene Balance und damit die Kontrolle zu verlieren. Aber glücklicherweise hat die Chefin die Situation erkannt und ruft ihre Mitarbeiterin zurück. „Das ist die Frau, die keine Hilfe will!“ Ich bin ihr sehr dankbar für ihr Eingreifen und ihr Verständnis. Und ich habe einen Spitznamen erhalten, den die Mitarbeiter zukünftig benutzen werden, wenn sie über mich sprechen. Die Frau, die sich nicht helfen lassen will.
Ich wähle immer denselben Tisch, weil ich dort meinen Rollator am besten aus dem Weg stellen kann. Ich möchte nicht, dass eine Kellnerin oder ein Gast darüber stolpert und sich verletzt. Während ich den Zucker in meinem Kaffee verrühre, fällt mein Blick auf die kranke Palme. Vielleicht ist ja auch sie „eine Palme, die sich nicht helfen lassen will“. Und mir fällt auf, wie unsinnig das ist. Warum will ich mir nicht helfen lassen? Hilfe ist doch etwas Wunderbares. Es gibt einen Unterschied zwischen mir und dir, versuche ich der Palme zu erklären. Wenn mir jemand die Stufe herunter hilft, verliere ich die Kontrolle. Gleichzeitig weiß ich aber nicht, ob derjenige, der mir hilft, das auch tatsächlich kann. Im Zweifel stürzen wir beide und verletzen uns. Das kann ich nicht riskieren. Jede weitere, noch so kleine Veränderung am Status quo kann bedeuten, dass ich meine Wohnung selbständig gar nicht mehr verlassen kann.
„Und wo bittesehr ist da der Unterschied?“, fragt die kleine Palme. „Kann sein, dass deine Tinktur genau das Quäntchen mehr an Belastung ausmacht, das ich nicht mehr ertragen kann. Und ich muss eingehen.“
Ich weiß, irgendwo hat sich ein Denkfehler eingeschlichen. Hilfe ist doch eines der zentralen Themen des Menschseins. Mag sein, dass das bei den Pflanzen anders ist. Aber bei mir doch nicht. Also sollte ich auf dem Zebrastreifen überfahren werden, würde ich Hilfe in jeder Form sehr willkommen heißen. Und dennoch, man nennt mich nicht umsonst „die Frau, die sich nicht helfen lassen will“.
„Schau, was aus uns geworden ist, seit wir uns kennen“, mischt sich die kranke Palme wieder in meine Gedanken ein. „In den ersten Tagen und Wochen hast du mich immer fröhlich begrüßt und angestrahlt. Das hat mir sehr gut getan.“
Ja, daran kann ich mich noch gut erinnern. Ich bin mit Freude aus dem Haus gegangen und habe jeden und alles fröhlich gegrüßt.
„Aber dann hast du den Parasitenbefall bemerkt und gesehen, wie kümmerlich ich wachse. Und du hast angefangen, dir Sorgen um mich zu machen und dir überlegt, wie du mir helfen kannst. Glaube nicht, ich hätte nicht bemerkt, wie du verschämt den Kopf nach unten gehalten hast, weil du wieder vergessen hast, mir dein Wundermittel mitzubringen.“
Wieder muss ich der Palme recht geben. Und plötzlich kann ich es auch sehen. Wie ich in gebückter Haltung aus der Haustür trete, wie ich mich immer schlechter fühle und wie ich keinen mehr fröhlich grüße. Ich glaube sogar, dass ich einige Male - und ich bin sehr erschrocken, während ich das denke - gehofft habe, der Gärtner würde die kranke Pflanze beseitigen. Ein tiefer Schatten liegt über mir. Und mit jedem Tag, den ich nicht geholfen habe wächst die Last auf meinen Schultern.
„Und auf meinen“, ergänzt die kranke Palme. „Dich so gebückt und voller Sorge zu sehen, zerreißt mein kleines Palmenherz. Eine Traurigkeit hat mich erfasst, die es mir noch schwerer macht, gegen die Läuse anzukämpfen. Schau, ich benötige all meine Kraft, um mit meinem Dasein klar zu kommen. Ich habe schlicht keine Reserven, um auch noch deinen Schmerz über mich zu tragen.“
Ich merke kaum, dass mir eine Träne über die Wange läuft. Den Stein, der mir vom Herzen fällt, den merke ich sehr wohl. Die kleine Palme hat mir gezeigt, was mich so belastet. Der Kummer und die Sorgen der Menschen, die mich lieben und die mir helfen wollen, macht mich traurig und schwächer. Denn ich möchte doch, dass es ihnen gut geht, dass sie fröhlich und entspannt sind. Ja, kleine Palme, dass habe ich gut verstanden. Aber was soll ich tun. Wie kann ich dich unterstützen, frage ich die Palme.
„Wenn du mich anschaust, dann sieh nicht meine Parasiten. Sieh meine Kraft, meine Stärke, meine Fröhlichkeit, meine Lebensfreude. Schau genau hin, sieh mich!“
Ich schaue über die Straße und sehe. Ich sehe eine selbstbewusste, kraftvolle Palme mit einer wunderbaren Ausstrahlung. Voller Lebensfreude, warmherzigem Humor und strahlend hellem Kern. Ich fühle, wie Wärme mich umspült, meine Schmerzen nachlassen, mein Herz vor Freude springt und ich lache lauthals los. Ich freue mich schon auf Morgen. Wieder werde ich die Rampe heruntergehen. Diesmal jedoch mit hocherhobenem Haupt. Ich werde die kleine Palme freudig grüßen sowie jeden und alles. Und wer weiß. Vielleicht, eines Tages, raunt die Palme mir zu: „Bring Essig mit!"