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Die kleine Mirjam schreibt dem lieben Gott
Es war einmal ein kleines Mädchen mit Namen Mirjam.
Eigentlich ist „Es war einmal“ falsch.
Denn Mirjam gibt es immer noch. Sie ist zwar nicht mehr so klein und auch nicht mehr ganz so lieb, wie kleine Mädchen in Märchen sind, aber immerhin noch so geliebt, das manchmal Geschichten über sie geschrieben und erzählt werden, schöne und lustige Geschichten. Dieses hier ist eine solche Geschichte über Mirjam. Ob diese Geschichte wahr ist? Vielleicht weiß es die jetzt nicht mehr ganz so kleine Mirjam.Vielleicht hat sie es erlebt, was in dieser Geschichte passiert, vielleicht haben es sogar schon viele Mädchen erlebt.Aber manchmal muss man seine Geschichten hüten wie einen wertvollen Schatz, sie niemandem erzählen, und manchmal muss man nur an schöne Geschichten glauben, um sie wahr sein zu lassen. Also ist diese Geschichte wahr, die Geschichte von Mirjam und ihren Briefen an den lieben Gott. Mirjam lebte mit ihren Eltern in einem kleinen Haus in einem kleinem Dorf, neben einem kleinen Wald in einem kleinen Land.
Ihr Vater war oft unterwegs auf Reisen und verdiente damit sein Geld.Jedes Mal, wenn der Vater auf Reisen ging, saß er am Abend vor seiner Fahrt am Bett von Mirjam und erzählte ihr von seiner Reise. Wohin er fuhr, wie lange er weg sein würde und das sie sich keine Sorgen machen müsste.Mirjam glaubte ihm, vor allem weil er ihr auch immer einen Satz ins Ohr flüsterte, kurz bevor er ihr den Gute-Nacht-Kuss gab.
Der liebe Gott passt auf Dich und Mama auf, und er passt auch auf mich auf, sagte er dann.
Und Mirjam glaubte ihm und lächelte. Eines Abends lag Mirjam im Bett und konnte nicht schlafen.Ihr Vater war am Tag zuvor wieder auf Reisen gegangen, wieder hatte er sie auf die Nasenspitze geküsst und wieder hatte er ihr gesagt, dass der liebe Gott aufpassen wird.Mirjam begann zu überlegen.Warum passt der liebe Gott eigentlich auf, dachte sie.Und was passiert, wenn er mal unaufmerksam ist und nicht aufpasst?
Also holte sie sich ein Blatt Papier aus ihrem kleinen Schreibtisch, nahm sich einen Bleistift und begann im sanften Licht einer kleinen Lampe an den lieben Gott zu schreiben:
Lieber Gott, wie kannst Du eigentlich auf so viele Menschen gleichzeitig aufpassen?Wenn Du jedes Mal auf meine Mama, meinen Papa und mich aufpassen musst, so wie mein Papa es mir sagt, bleibt Dir doch gar keine Zeit, andere Dinge zu tun oder auf andere Familien aufzupassen, oder?Ich liege hier in meinem Bett, kann nicht schlafen und dachte mir, ich frage Dich das einfach mal. Deine Mirjam
Dann überlegte sie noch ein bisschen, ob der liebe Gott ihr antworten würde, legte ihren Brief neben das Bett und schlief ein.
Am nächsten Morgen blinzelte sie kurz in die Sonne, bis sie wach war und sah zu ihrem Brief neben dem Bett.
Er lag noch immer da, so wie sie ihn am Abend vorher hingelegt hatte. Es stand keine Antwort drauf, Mirjam war traurig. Dann blinzelte sie wieder in das frühe Morgenlicht und dachte nach:
Vielleicht kann der liebe Gott gar nicht schreiben?!Als Gott muss man gar nicht schreiben können oder er schreibt mit so vielen Fehlern, das er sich nicht traut, mir zu schreiben.Aber gelesen hat meinen Brief bestimmt........ Hat er wirklich Zeit, auf alle Familien aufzupassen?Vielleicht konnte er deshalb nicht zurückschreiben, weil er so viel zu tun hatte?!
Sie grübelte so lange, bis die Sonne gänzlich aufgegangen war und stand auf.
Am Abend kam ihr Vater von seiner Reise zurück und Mirjam vergaß ihren Brief fast, den sie nach dem Aufstehen unter ihr Bett gelegt hatte. So vergingen ein paar Tage, bis ihr Vater wieder auf der Bettkante saß, ihr von seiner Reise berichtete und ihr versicherte, dass der liebe Gott aufpassen würde.
Da fiel es ihr wieder ein, was sie geschrieben hatte.
Heimlich zog sie später den Brief unter ihrem Bett hervor, knipste ihre kleine Lampe an und las ihn noch einmal.
Dann nahm sie ihren Bleistift und schrieb:
Hallo lieber Gott, Du hast mir bisher nicht geantwortet, aber ich denke mal, Du hast meinen Brief gelesen, oder?Ich glaube einfach, Du hast keine Zeit, jeden Brief zu beantworten, der Dir geschrieben wird.Ich glaube meinem Vater, das Du auf uns aufpasst, aber ich würde gerne wissen warum. Sagst Du es mir irgendwann? Nur ganz kurz, musst auch nicht viel schreiben. Deine Mirjam
Dann legte sie den Brief zu dem anderen Brief unter das Bett und schlief ein.
Wieder wurde sie am nächsten Morgen von der Sonne geweckt und wieder blickte sie zu einem unbeantworteten Brief. Der liebe Gott hatte wieder nicht zurückgeschrieben.
Sie war aber nicht mehr ganz so traurig, denn schließlich hatte der liebe Gott wohl viel zu tun und vielleicht konnte er wirklich nicht schreiben.
Sie merkte aber, das mit jedem Brief mehr Fragen in ihrem Kopf waren. Das es so viel gab, was sie wissen wollte. Dass sie nicht mehr nur wissen wollte, wie der liebe Gott auf so viele Menschen aufpassen konnte.
Warum blinzele ich jeden Morgen so schön in die Sonne?
Muss ich auch auf Reisen gehen, wenn ich später mal Kinder habe? Woher wissen meine Kinder dann, das auch auf sie dann aufgepasst wird?
Am nächsten Abend schrieb sie ihm einen dritten Brief:
Hallo lieber Gott, ich bin es wieder, die Mirjam.Ich glaube, Du würdest gerne zurückschreiben, wenn Du könntest.Vielleicht kannst Du es ja irgendwann.Ich schreibe Dir einfach ein bisschen und wenn Du Zeit hast, kannst Du mir irgendwann alle Fragen beantworten, ja?Ich habe nämlich ganz viele Fragen, und manchmal traue ich mich nicht, sie meiner Mama oder meinem Papa zu stellen.Deswegen schreibe ich sie Dir, Du und ich wissen dann, welche Fragen ich habe.Wir haben dann ein Geheimnis.Und irgendwann, lieber Gott, wirst Du mir zurückschreiben, das weiß ich. Deine Mirjam
So vergingen viele Jahre.
Ihr Vater ging noch oft auf Reisen, Mirjam schrieb noch viele Briefe an den lieben Gott, abends, wenn sie den Kuss auf die Nasenspitze bekommen hatte und heimlich ihr Licht anknipste.
Irgendwann war kein Platz mehr unter ihrem Bett, ein wildes Papier-Durcheinander. So bastelte sie sich eine kleine Kiste, in der sie ihre Briefe legte.
Manchmal, wenn sie eine ganz wichtige Frage hatte, zum Beispiel warum ihr Herz immer so heftig klopfte, wenn sie den Jungen aus der anderen Strasse sah, legte sie diesen Brief für eine Nacht unter ihr Bett.
Aber nie fand sie eine Antwort vom lieben Gott.
Die kleine Mirjam wurde erwachsen, heiratete den Jungen aus der anderen Strasse und zog mit ihm in ein eigenes kleines Haus in einem anderen kleinen Dorf. Ihre kleine selbstgebastelte Kiste nahm sie mit. Immer mal wieder las sie ihre Briefe, die sie als kleines Mädchen dem lieben Gott geschrieben hatte.
Irgendwann hatte sie damit aufgehört, sie fühlte sich erwachsen, und Erwachsene schreiben keine Briefe an den lieben Gott, dachte sie sich.
Sie lächelte, wenn sie die Briefe las und erinnerte sich an die Küsse auf die Nasenspitze ihres Vaters.
Dann legte sie den gelesenen Brief in die Kiste und versteckte sie an einem geheimen Ort, denn niemand hatte je von ihren Briefen erfahren.
Und das sollte auch so bleiben, ein geheimer Brieffreund, der nie zurückgeschrieben hatte.
Eines Tages fand Mirjam einen Brief in ihrem Postkasten.
Es stand nur ihr Name darauf, keine Adresse und auch kein Absender, so erkannte sie nicht mal, wer ihr den Brief geschrieben hat.
Sie nahm den Brief mit zum geheimen Ort, an dem sie ihre Kiste aufbewahrte. Lange saß sie neben der Kiste, betrachtete ihre vielen Briefe und hielt den Briefumschlag mit der Aufschrift Mirjam in der Hand.
Dann, ganz langsam, öffnete sie den Brief und las.
Meine liebe Mirjam,
ich glaube, Du sitzt jetzt gerade neben Deiner geheimen Kiste voller geheimer Briefe in Deiner krakeligen Kinderschrift während Du dies hier liest. Ich habe Dir noch nie geschrieben und dies hier wird wohl auch das einzige Mal sein, das ich es tun werde. Ich kenne Dich schon, seit Du zur Welt gekommen bist, ich war fast immer dabei, wenn Dein Vater Dich auf die Nasenspitze geküsst hat.
Ich habe zugesehen, wie Du erwachsen geworden bist, wie aus der kleinen Mirjam eine große Mirjam geworden ist, und ich habe keinen Moment daran gezweifelt, das aus Dir eine wirklich gute und schöne Mirjam wird, wenn Du älter wirst.
Als Du noch ein Kind warst, war Deine Welt voller Fragen, auf Die selbst ich Dir keine Antwort geben konnte.
Das ist heute noch so, stimmt’s?
Du möchtest auch heute noch manchmal Deinen Bleistift zur Hand nehmen und an den lieben Gott schreiben, oder? Weißt Du, manchmal wollte ich Dir auch gar keine Antwort geben. Mit jedem Tag, den Du älter geworden bist, hattest Du mehr Fragen, aber Du hast auch immer mehr Antworten gefunden.Deine Eltern halfen Dir, Deine Freunde, oder Du hast selbst diese Antworten gefunden, wenn Du welche gesucht hast.Ich bin es nämlich gar nicht, der Dir alle Deine Fragen beantworten kann. Und wenn Du heute noch die Frage stellst, warum der liebe Gott auf so viele Menschen aufpasst, und wenn Du darüber nachdenkst, warum dies so ist, wirst Du ganz bestimmt schnell die Antwort finden.
Es gibt nämlich so viele Menschen, die dem lieben Gott helfen, aufeinander aufzupassen, das er damit gar keine Mühe hat.
Mit jedem Kuss auf Deine Nasenspitze hat Dein Vater Dir versprochen, auf Dich aufzupassen, auch wenn er auf Reisen war. Jedes Mal, wenn Deine Mutter Dich zugedeckt hat, hat sie Dir versprochen, auf Dich aufzupassen. Und jedes Mal, wenn Du einem anderen Menschen etwas Gutes tust, versprichst Du ihm, das Du auf ihn aufpassen wirst.
So schwer ist das nämlich gar nicht.
Aber das weißt Du jetzt alles bestimmt schon, oder?
Denn bald wirst auch Du jemandem einen Kuss auf die Nasenspitze setzen und es ihm versprechen, genau wie Dein Vater damals. Und vielleicht wird dieser kleine Jemand sich auch irgendwann fragen, wie und warum der liebe Gott dies macht.
Lass ihn die Antwort selbst finden, liebe Mirjam.
Sein Leben wird genauso voller Fragen sein, wie Dein Leben, und er wird irgendwann genauso viele Antworten finden, wie Du es geschafft hast. Denn die besten Antworten auf die schwierigsten Fragen muss man selbst suchen und finden. Erstens ist das spannend und zweitens hilft es kleinen Menschen groß zu werden. Unterstütze den der sucht hin und wieder, so wie ich es manchmal mache, aber lass ihn seine Antworten selbst finden. Dann wird er ein genauso schöner und großartiger Mensch werden wie Du, das kann ich Dir ausnahmsweise mal versprechen. Und nun lege diesen Brief zu den anderen und mache Dich auf, neue Fragen zu stellen und neue Antworten zu finden.
Dein Vater hat Dir früher versprochen, das der liebe Gott auf Dich und Deine Familie aufpassen wird.
Vielleicht verstehst Du nun als große Mirjam, was er damit gemeint hat.Dein Vater wird es auch wissen, aber ich glaube nicht, das Du ihn fragen wirst.Denn Du weißt, wie recht er hatte. Auf Dich wurde aufgepasst und auf Dich wird auch jetzt noch aufgepasst. Schau Dich nur um. Ich werde mich jetzt verabschieden, auch für mich gibt es noch viel zu tun.
Ich wünsche Dir weiterhin ein glückliches Leben, pass Du gut auf andere auf, versprich nur, was Du halten kannst und denke ab und zu an die Küsse auf die Nasenspitze.
Denn ein größeres Versprechen gibt es nicht.
Es grüßt Dich ganz lieb, Dein Brieffreund aus früheren Tagen
Mirjam faltete den Brief ganz langsam zusammen, legte ihn behutsam in ihre geheime Kiste und nahm sich vor, noch ganz vielen Menschen ein Küsschen auf die Nasenspitze zu geben.
Und wenn Mirjam heute gefragt wird, ob diese Geschichte denn nun wirklich wahr ist, wird sie wohl lächeln und sagen:
Man muss nur an schöne Geschichten glauben, um sie wahr sein zu lassen