Die kleine Fee Lilliflor
Die kleine Fee Lilliflor
Es regnete draußen in Strömen. Der Herbstwind blies dicke, graue Wolken am düsteren Himmel entlang und rüttelte an den Fenstern und Rolläden. „Ich habe Angst“, wimmerte Alessa und schmiegte sich dichter an ihren großen Bruder Niklas unter die Wolldecke auf dem Sofa.
„Brauchst du nicht“, beruhigte sie Niklas, ganz der große Bruder. „Hier drin kann uns nichts passieren. Komm, trink noch einen warmen Früchtetee“, sagte er und goss Alessa aus der Kanne ein. Alessa umfasste die heiße Tasse mit ihren kleinen Händchen. „Warum hat Mama heute keine Zeit?“ fragte sie schlürfend. „Mama muss arbeiten am Computer“, erklärte ihr Niklas. „Sie muss doch für uns das Geld verdienen“. „Warum leben wir nicht mehr mit Papa in dem schönen Haus?“ fragte Alessa mit weinerlicher Stimme. „Das habe ich dir schon tausend Mal erklärt“, antwortete Niklas genervt. „Weil der Papa böse zu der Mama war“. „Ich will aber wieder mit Papa UND Mama zusammen leben!“ jammerte Alessa und eine ganz kleine Träne kullerte über ihre Wange. Niklas seufzte auch. Das hätte er sich auch gewünscht. Aber es ging ja nun nicht.
Sie kuschelten sich aneinander. „Wir zwei halten doch zusammen“, tröstete er sie. „Wir Kinder können auch ganz viel alleine.“ „Was denn?“ fragte Alessa unsicher. „Na, ich kann zum Beispiel schon lesen und schreiben und rechnen, und du kannst ganz toll malen und Puppen anziehen und Plätzchen backen.“ „Stimmt!“ triumphierte Alessa, „komm, ich mal dir jetzt ein Bild, und du schreibst eine Geschichte dazu!“ Und eifrig malte sie in ihren großen Malblock. Dort sah man bald eine zarte, kleine Dame mit rosa-glitzerndem Kleidchen und durchsichtigen Flügelchen. „Was soll das denn sein?“ spottete Niklas, „eine Dame mit Flügeln, so was gibt’s doch gar nicht!“ „Gibt es doch!“ „Gibt es nicht!“ „Doch, doch, doch!“ kreischte Alessa mit ihrem hohen Stimmchen. Niklas schnappte den Malblock und hielt ihn sich über den Kopf, rannte im Kreis herum, während Alessa versuchte, ihn ihm abzunehmen. Natürlich schaffte sie es nicht, sie war viel kleiner als er. „Gib her, das ist meine Fee!“ „Gibt keine Feen, gibt keine Feen!“ lachte Niklas sie aus. Alessa setzte sich auf den Boden und fing an zu weinen. Niklas blieb erschrocken stehen. Das hatte er doch nicht gewollt! Vor Schreck fiel ihm der Malblock aus der Hand und rutschte unter das Sofa. Er setzte sich neben Alessa und putzte ihr mit einem Taschentuch die Tränen ab. „Tut mir leid“, stotterte er entschuldigend. Aber Alessa ließ sich nicht trösten. Sie schluchzte herzergreifend. Über alles. Papa und Mama, das Wetter, den Malblock – einfach alles war schrecklich! Ratlos saß Niklas neben ihr. Auf einmal hörte er etwas piepsen. Er schaute sich um – war da irgendwo eine Maus? Er hörte genauer hin- es kam von unter dem Sofa! Er hob die Decke hoch, griff unter das Sofa – und bekam einen ganz kleinen Piekser in den Finger! „Hör auf, mich zu zerquetschen“, piepste eine winzige Stimme. „Hol mich lieber hier raus!“ Niklas schaute verdutzt und hob die Decke höher – da sah er etwas rosa und golden glitzern – es sah aus wie ein Glühwürmchen, nur rosa eben. Dann erkannte er das winzige Ding: es war die Fee, die Alessa gemalt hatte! Vorsichtig streckte er seinen Zeigefinger aus, damit sie sich darauf setzen konnte und holte sie unter dem Sofa hervor. Alessa blieb bei ihrem Anblick der Mund offen stehen und sie vergaß sogar, zu weinen. „Wer bist du denn?“ fragte Niklas. „Ich bin die kleine Fee Liliflor!“ sprach das Dingchen und stützte sich auf seinen blauen Regenschirm auf Niklas’ Finger. „Autsch! Du piekst mich schon wieder!“ „Und was machst du hier?“ fragte Alessa sie neugierig. „Ich bin die Anti-Regen-schlechte-Laune-und-Heulen-Fee“ antwortete diese, „und ich will euch etwas zeigen, wo ihr bestimmt nicht mehr heulen und streiten müsst“. Sprach sie und spannte ihren kleinen Schirm auf, drehte diesen um seinen Griff schnell im Kreis und sich selbst mit dazu.
Und während sich Lilliflor drehte und drehte,
wurden Niklas und Alessa selber immer kleiner und kleiner, bis sie so klein wie die Fee waren.
„Haltet euch gut fest an meinem Zauberschirm!“ rief sie ihnen zu. „Und nehmt den Rucksack und die Koffer da.“
Auf einmal standen da zwei dicke, zum Bersten gefüllte Koffer und ein kunterbunter Rucksack. „Ich habe schon alles eingepackt“, sagte Lilliflor. „Es kann losgehen!“ und Niklas schnallte sich den Rucksack um, nahm in die eine Hand den einen Koffer, den anderen trug er gemeinsam mit Alessa – und los ging’ s – zum auf einmal weit offen stehenden Fenster hinaus in den inzwischen ganz dunklen Nachthimmel. „Nicht runterschauen!“ schärfte Niklas Alessa ein, „Gut festhalten!“
Der blaue Zauberschirm mit Lilliflor, Niklas und Alessa an seinem Griff stieg nun höher und höher in den Nachthimmel. Über sich sahen sie zwischen den Wolken die Sterne glitzern – „schau mal, da ist der große Bär!“ rief Niklas Alessa zu, und während sie noch suchend ihr Köpfchen verdrehte, ging es schon weiter, weiter und weiter, über die Landschaft, die im Mondlicht immer winziger unter ihnen lag- Zwergenhäuschen, Zwergenbäume, Zwergenautos und winzige, glitzernde Rinnsale – das waren die Flüsse, zum Beispiel der Neckar und später ein breiterer, der Rhein, bis auch dieser immer schmaler wurde, in einer großen Pfütze, dem Bodensee, verschwand und sich dann als winziges Rinnsal bis in die immer höher aufragenden Berge, die Alpen, verlor. Auf deren Gipfeln leuchtete strahlend weiß das Eis der Gletscher. „Aufgepasst!“ rief Lilliflor, „wir müssen noch höher steigen jetzt.“ Und sie drehte den Schirm, sodass Alessa ganz schwindelig wurde. Plötzlich zuckten jetzt Blitz und Donner über ihren Köpfen. Außerdem fing es an zu schneien. „Mir ist sooo kalt! Und ich habe Angst!“ wimmerte Alessa. „Ja, wird Zeit, dass wir mal wohin kommen, wo die Sonne scheint“, murrte auch Niklas. „Alles, was ihr wollt!“ kicherte Lilliflor. Und schon hörte es auf zu schneien, und auf der anderen Seite der Berge ging schon ganz rosa und zuckerwattesüß die Sonne über den Gipfeln auf. Es war, als wären sie in einem rosa Märchenland. „Oh, wie schööön!“ seufzte Alessa. Und Niklas, der klugerweise seine kleine Kinderkamera eingesteckt hatte, machte direkt ein Foto. Die Sonne stieg immer höher, je weiter sie in die grünenden Täler hinein flogen. Unter ihnen blühte es gelb, orange und zartrosa, die ganze Luft duftete nach Blüten. Auf einmal sahen sie links und rechts von den Städten und Tälern das Meer! Endlos glitzernd und blau wie der Himmel, in dem sie flogen, erstreckte es ich bis in weite Ferne. „Was ist das?“ fragte Alessa staunend. „Das ist der Stiefel“, lachte Lilliflor, „den wir jetzt hinunterfliegen werden.“ „Stiefel?“ wunderte sich Alessa. „Das sagt man zu Italien“, wusste Niklas. Er ging ja schon zur Schule. “Und das Meer ist das Mittelmeer im Süden Europas – links die Adria und rechts die Riviera, die an Frankreich grenzt.“ „Auja, Italien!“ juchzte Alessa. „Ich liebe Spaghetti und Pizza! Wollen wir bald mal etwas essen?“ „Gute Idee“, meinte die Fee und flog mit ihnen tiefer, zu einem großen Platz in einer Stadt, in der statt Straßen Kanäle waren, auf denen Boote fuhren, die von Männern mit runden Hüten gesteuert wurden, die dabei schöne Lieder sangen. Über einer Pizzeria auf dem großen Platz blieben sie in der Luft stehen. „Aufgepasst“, zwinkerte ihnen Lilliflor zu, holte eine lange Gabel aus ihrem Kleidchen, streckte ihren Arm aus, und die Gabel wuchs und wuchs, wurde immer länger – bis sie auf dem Teller Spaghetti ankam, der vor einer dicken, alten, deutschen Touristin auf dem Restauranttisch stand. Diese war gerade dabei, mit dem Kellner zu flirten und bemerkte die lange Gabel auf ihrem Teller gar nicht. Lilliflor drehte die Gabel immer schneller und schneller in den Spaghetti, bis sie eine Riesenmenge aufgerollt hatte, und zog dann die Gabel wieder nach oben. Die Nudeln waren ziemlich schwer und der Schirm schwankte bedenklich. Plötzlich blickte die alte Dame auf ihren Teller und kreischte los.
„Meine Spaghetti sind weg! Diebe, Hilfe, man hat mich beraubt!“ Alessa und Niklas fielen vor Lachen fast vom Schirm. „Guten Appetit!“ meinte Lilliflor nun zu ihnen, oder hier sagt man: „Buon Appetito“! und reichte ihnen die Gabel mit den Spaghetti weiter, von der sie nun nacheinander die ellenlangen Nudeln heruntersaugten.
Schließlich waren alle Spaghetti vertilgt. „Bin ich satt“ rülpste Niklas und schaute Lilliflor erschrocken an. „Macht doch nichts“, lachte diese. „das zeigt ja nur, dass es dir geschmeckt hat“. „Ja, das waren die primatollstenleckersten Spaghetti, die wo ich je gegessen habe in meinem ganzen Leben“, seufzte Alessa wohlig.
„Wollt ihr jetzt schlafen?“ fragte Lilliflor. „Jooo“, gähnten Niklas und Alessa, „wir sind schon ganz schön müde“. „Dann binde ich euch mit meiner rosa Zauberschleife am Schirm fest, damit ihr nicht hinunterfallt.“ Und schon waren die beiden eingeschlafen. So merkten sie auch gar nicht, als sie über das Meer flogen bis nach Afrika, an den Pyramiden in Ägypten vorbei, den langen Fluss Nil hinunter bis ins tiefste Afrika, in die Steppe. Inzwischen war die Sonne schon wieder unter- und wieder aufgegangen und stand jetzt grell und heiß am Himmel, als sie erwachten. „Puh, ist das heiß hier“, stöhnte Niklas und rieb sich verschlafen die Augen. Unter ihnen sahen sie einen großen See und unzählige Antilopen, Vögel, Gnus und Nilpferde. Auch ein paar Elefanten. Die Affen konnten sie nur hören, nicht sehen, weil sie sich in den dichten Blättern der Bäume aufhielten, aber einen Höllenlärm machten mit ihrem Geschrei. Plötzlich zeigte Niklas Alessa etwas, das unten im Schatten der Bäume dahinschlich. „Das ist ein Löwe!“ flüsterte er. „Bestimmt schleicht er sich an eine Antilope an“. „Nein, der nicht“, lachte Lilliflor, „das ist nur Fridolin. Ich erzähle euch mal die Geschichte.“ Und Lilliflor fing an zu erzählen: „eines Tages sah der Löwe Fridolin ein fremdes Tier, das er noch nie gesehen hatte, auf einer Palme sitzen. Es trug einen wunderschönen, bunten Federhut und drehte kokett sein Köpfchen. Schon war es um Balduin geschehen: er hatte sich verliebt! Das Tier ging ihm nicht mehr aus dem Sinn – er jagte nicht mehr, fraß nicht mehr und schlief nicht mehr- die ganze zeit saß er unter der Palme und verzehrte sich nach dem wunderschönen Tier – einem Papagei!
Tatsächlich sahen sie auf einer Kokospalme die Papageien-Dame sitzen, die eitel ihren Kopf mit dem Federhut hin und her drehte, während der liebestolle Löwe zu ihren Füßen im Gras lag und sie anschmachtete.
Auf einmal hörten sie ein lautes „Tröt, tröt!“ und ein
Stampfen hinter sich. „Platz da, hier kommt die Elefanten-Kompanie!“ trötete der erste Elefant, der eine Uniformmütze trug und in seinem Rüssel einen Degen schwang im Rhythmus der Musik, zu der die Elefanten auf sie zumarschierten. „Kommt, wir fliegen lieber etwas höher“, meinte Lilliflor und drehte den Schirm - schwupp, änderten sie die Richtung und flogen gen Norden. „Jetzt kommen wir in kältere Gebiete“, warnte sie Alessa und Niklas. „Euch war’s ja eh schon zu heiß in Afrika. Aber zieht euch lieber Handschuhe, Schal und Mütze an“, meinte sie, griff in den Rucksack und zog diese heraus.
Sie flogen und flogen, es wurde immer kälter, und die Landschaft unter ihnen war weiß verschneit. Sie flogen über einen großen See, bis sie wieder an ein hohes Gebirge kamen. „Das ist der Ural“, erklärte ihnen Lilliflor. „Wir sind jetzt in Russland, im Land der wilden Bären und Wölfe, haltet euch gut fest, mit denen ist nicht gut Kirschen essen“. Alessa blickte schon ganz ängstlich in die Tiefe. Es fing wieder an zu stürmen und zu schneien. Tatsächlich sahen sie unten einen Bären durch den dichten Wald ziehen, und in der Ferne hörte man Wolfsgeheul. Auf einer kleinen Lichtung brannte aber ein helles Lagerfeuer. Daran saß ein riesiger, sehr starker Mann, der eine Pelzmütze und unzählige Tierfelle trug und einen ganz langen Rauschebart hatte. „Hier landen wir,“ meinte Lilliflor, „dann könnt ihr euch an dem Lagerfeuer aufwärmen, und vielleicht gibt’s ja auch was zu Essen.“ Tatsächlich grillte der Hüne auf einen Stock gespießt einen Hasen über dem Feuer. Es roch zwar lecker, aber Alessa hatte Tränen in den Augen. „Das arme Häslein!“ jammerte sie. „Ich esse davon nichts. Außerdem will ich nicht zu dem Mann. Ich habe Angst.“ „Brauchst du nicht“, sagte Lilliflor, „solange ihr euch an dem Schirm fest haltet, kann er euch nicht sehen.“ Und schon saßen sie gegenüber dem Riesen auf einem Tierfell vor dem Lagerfeuer. Eben spießte der Hüne noch eine Forelle auf einen Stock und steckte sie über das Feuer. „Sieh mal, da ist doch auch was zu Essen für dich dabei“, tröstete Niklas Alessa, die immer noch zitterte vor Angst. Zwischen den Bäumen hörte man es rascheln, grüne Augen blitzten dazwischen hervor. Der Riese rannte brüllend darauf zu und warf einen brennenden Ast hinterher. „Ich, Kostja, habe niemals Angst!“ brüllte er und brüstete sich damit, dass sogar das Gras zu seinen Füßen zitterte, wenn er sich näherte, die Bäume und sogar die Bären und Wölfe. Plötzlich schrie er: „Aua! Was ist das? Ein Ungeheuer hat mich gebissen! Hilfe!“ und rannte schreiend und sich auf den Po klatschend in den Wald davon. (Lilliflor war mit den Kindern und dem Regenschirm von hinten an ihn heran geschlichen und piekste ihn mit der Spitze des Schirms in den Po! Niklas und Alessa kicherten)
Alessa fiel vor lauter Lachen fast vom Schirm herunter, und auch Niklas und Lilliflor schüttelten sich vor Lachen. „So, Abendessenszeit!“ rief Lilliflor und richtete den Kindern das fertig gegrillte Fleisch und für Alessa den Fisch auf einem Stück Baumrinde an. „Hmmm,“ seufzte Niklas mit Backen voller Hasenbraten, „das ist das Beste, was ich je gegessen habe!“ „Mörder!“ empörte sich Alessa und kaute vorsichtig ihren Fisch, damit sie sich an keiner Gräte verschluckte. “Na, der Hase war doch sowieso schon tot“, tröstete sie Lilliflor. „Aber wenn du lieber vegetarisch essen willst, dann weiß ich schon, wohin die nächste Reise gehen wird“, kicherte sie verschmitzt. „Was heißt „vegetarisch“?“ fragte Alessa. „Na, kein Fleisch essen“, antwortete Niklas. „Manche strengen Vegetarier essen sogar keinen Fisch!“ wusste der kluge Junge. „Und nicht mal Eier und Käse!“ „Das stimmt doch nicht, oder?“ fragte Alessa etwas erschrocken Lilliflor und spuckte den letzten Bissen Fisch wieder aus. „Doch, manche sind so streng“, antwortete Lilliflor, „aber lass dir ruhig deinen Fisch schmecken, bald bekommst du noch mehr davon!“ und wieder kicherte sie. Es fing wieder an zu schneien. „Jetzt wird’s hier aber ungemütlich! Zeit für den Abflug!“ rief sie Alessa und Niklas zusammen, die sich wieder an den Schirm banden –
und Schwups! Stiegen sie wieder in den dunklen Nachthimmel empor – immer weiter und weiter, über das Gebirge hinweg, über eine eisige Steppe, dann Richtung Süden über eine heiße Wüste, auch fruchtbare Täler und Wälder überflogen sie, aber das sahen Niklas und Alessa alles gar nicht, weil sie inzwischen eingeschlafen waren. Erst, als am dritten Tag zartrosa die Sonne über grünen, runden Bergen aufging, die an einem sehr breiten, gelben Fluss standen, wachten sie wieder auf und staunten nicht schlecht, was sie zu ihren Füßen sahen: goldene und rote, achteckige Kuppeln und Pagoden, riesige Buddhastatuen und Tausende von winzigkleinen Menschlein mit großen, spitzen Strohhüten, die an den Berghängen gebückt über die zartgrünen Reispflanzen standen und eifrig zupften. Lilliflor flog näher herunter, so dass sie jetzt die Menschlein aus der Nähe sehen konnten: sie trugen alle eine Art Pyjama und hatten Schlitzaugen und eine gelbliche Haut. „Das sind Chinesen!“ jubelte Niklas, der ja auch schon fleißig Kung Fu lernte zuhause. Auf einmal erklang ein lauter Gong an einer der Pagoden des Tempels, und alle Chinesen stellten sich in Reihen auf, hoben ihre Hüte in die Höhe, begannen zu tanzen auf immer nur einem Bein und sangen dazu ein Lied, woher sie alle kamen und wie sie alle hießen, was nicht zu verstehen kann in ihrer fremden Sprache, aber der Tanz sah so lustig aus, dass Alessa und Niklas bereits mit Lilliflor mit beiden Beinen im Wasser der Reisfelder standen und lustig, auf einem Bein hüpfend, mitanzten. Da sahen sie die Reisbauern und fingen an, alle ganz freundlich an zu lächeln und sich alle bis zum Boden zu verbeugen. Sie lächelten unentwegt und zeigten ihre Zähne und zogen sie alle mit ins Dorf, wo sie in dem Innenhof eines achteckigen Hauses bereits den Tisch gedeckt hatten. Ein alter Mann mit einem langen Zopf und einem Spitzbart ergriff das Wort: „Sehl velehlte Hellschaften, bitte tleten Sie nähel, wil laden Sie helzlich ein. Bitte elweisen Sie uns die Ehle und velzehlen Sie das bescheidene Mahl mit unselem Dolf!“ Alessa musste kichern. „Wieso spricht der Mann so komisch?“ flüsterte sie Niklas zu. „Die Chinesen können kein „r“ sprechen“, tuschelte dieser zurück.
Sie knieten sich alle auf den Boden und bekamen Essstäbchen in die Hände gedrückt. Der alte Chinese mit dem Spitzbart zeigte ihnen, wie man damit zu essen hatte.
Niklas und Alessa fielen die kleinen Frühlingsröllchen, die es als Vorspeise gab, zuerst immer runter. „Elstel Hauptgang: Nudelsuppe mit Vogelnesteln!“ kündigte der alte Spitzbart an. In den Schüsseln befand sich eine dampfende Suppe und meterlange Nudeln sowie etwas Undefinierbares, wohl das Vogelnest. „Ich denke, die Spaghetti kommen aus Italien?“ fragte Alessa erstaunt und versuchte, die glitschigen Nudeln mit den Stäbchen zu packen. „Nein“, wusste Niklas es schon wieder besser. „Die haben die Chinesen erfunden, und Marco Polo hat sie, als er in China war, nach Italien mitgebracht.“ Misstrauisch beäugte er das Vogelnest in seiner Suppe. „Muss ich das essen?“ fragte er leise Lilliflor. „Unbedingt!“ zischte diese. „Erstens ist es eine Delikatesse, und in China muss man immer alles essen, was auf den Tisch kommt, sonst verliert der Gastgeber sein Gesicht, das heißt, er ist unsterblich blamiert!“ Niklas seufzte und verzog das Gesicht, als er das Vogelnest in den Mund schob. „Wenigstens ist es ja wirklich vegetarisch!“ foppte er Alessa, die es sich auch gerade hinein würgte. „Ich glaube, ich esse doch lieber nicht vegetarisch“, murmelte sie kleinlaut. Und schon wurde der nächste Gang aufgetragen: „Zweitel Hauptgang: Knusplige Peking-Ente mit Pfannkuchen und Klebleis!“ kündigte der Wortführer an. Goldgelb thronten die Enten mit ihrer knusprigen Haut auf einem Berg von kunstvoll wie Vögel und Frösche geschnitzten Gemüse, in kleinen Schälchen wurde dazu der Klebreis gebracht. „Ihr dürft keine Soße an den Reis machen“, klärte sie Lilliflor auf, „dann klebt er nicht mehr und ihr könnt ihn nicht mehr mit den Stäbchen essen.“ Niklas und Alessa nickten stumm, denn sie waren schon eifrig damit beschäftigt, sich die knusprigen Entenstückchen in den Mund zu balancieren. Man konnte die Ente auch in die Pfannkuchen rollen und mit den Fingern essen, was Alessa sofort ausprobierte.
Dazu trank man Jasmintee und die Erwachsenen Reisschnaps, der in kleinen fingerhutgroßen Becherchen serviert wurde. „Puh!“ stöhnte Niklas, “jetzt bin ich aber satt!“ „Schon?“ spottete Lilliflor, „es geht doch noch weiter!“ Und kaum hatte sie es ausgesprochen, kamen die Chinesen und trugen den nächsten Hauptgang auf: „Japanische Sushi aus lohem Fisch, Algen und Klebleis!“ kündigte der Spitzbart an. „Iiih, roher Fisch!“ ekelte sich Alessa. Aber die kleinen Häppchen, wo unter den grünen Algenstreifen auf dem weißen Reis der rosa und rote Fisch leuchtete, sahen eigentlich doch ganz appetitlich aus. „Es ist hochklassiges Fischfilet vom Lachs und Thunfisch, also keine Gräten“, klärte sie Lilliflor auf. „Und man tunkt es hier in die braune Sojasoße und gibt ganz wenig von der hellgrünen Paste, Wasabi, darauf. Vorsicht, sehr scharf!“ Aber bevor sie es ausgesprochen hatte, hatte sich Niklas schon einen dicken Klecks auf seinen Fisch geschmiert und herzhaft hineingebissen- er fing an, zu husten, zu keuchen und lief rot an, während ihm die Tränen in die Augen stiegen. „Schnell, iss etwas Reis hinterher“, riet ihm Lilliflor, „das hilft besser als trinken!“ Und tatsächlich, nach einigen Bissen Reis ließ das Brennen in seinem Mund nach. „So, und jetzt das Desselt fül die Hellschaften“, verkündete der bezopfte Alte: „gebackene Banane und Ananas in Honig“. Eigentlich waren die Kinder schon pappesatt, aber etwas Süßes, das ging immer noch rein. Außerdem kannten sie diese Speise schon aus dem China-Restaurant in ihrer Heimat und wussten, wie lecker es war. „Sehlllll leckellll!“ witzelte Niklas mit honigverschmiertem Mund. Alessa kicherte, fing aber auch langsam an zu gähnen. „So, Kinder, ich glaube, es ist jetzt Zeit, dass wir die Fliege machen“, meinte Lilliflor, band sie wieder an den Schirm – und los ging’s, hoch über die Pagoden, Reisfelder und Berge hinaus, folgten sie dem Verlauf des gelben Flusses bis ans Meer, flogen über Millionen von kleinen Inselchen hinweg bis hinaus auf den Ozean, der sich Tausende Kilometer weit erstreckte. Aber da schliefen Alessa und Niklas bereits. Auch Lilliflor musste zum ersten Mal gähnen, und auf einmal klappten ihre Augenlider zu und sie fing ganz leise an zu schnarchen. Dabei achtete sie nicht mehr auf ihren Kurs, und sie flogen immer weiter in den Süden, aber in westlicher Richtung statt geradeaus. Als Niklas und Alessa erwachten, rieben sie sich verschlafen und ungläubig die Augen: hier wurde es ja gar nicht richtig hell! Und noch dazu lag unter ihnen eine riesige, endlose Eiswüste, die im Dunkeln leuchtete. Außerdem war es höllisch kalt. „Gib mir mal meinen Anorak“, rief bibbernd Alessa. Niklas griff in den Rucksack – da fiel ihm seine Kamera, mit der er schon so viele schöne Bilder von ihrer Reise gemacht hatte, hinunter und stürzte in die Tiefe in die Schneemassen. „So ein Mist, die finde ich nie wieder!“ stöhnte er. Auf einmal hörten sie ein leises Niesen. „Hatschi! Hatschi!“ klang es aus Lilliflors Richtung. „Gesundheit!“ riefen die Kinder. Lilliflor schlug entsetzt die Augen auf und blickte unter sich. „Meine Güte, wir sind ja total vom Kurs abgekommen! Ich wollte nach Australien, dabei sind wir jetzt in der Antarktis! Und erkältet habe ich mich auch noch! Hatschi!“ Lilliflor hatte schlechte Laune, zum ersten Mal während ihrer Reise. Doch schon unterbrachen sie jubelnd und lachend die Kinder: „Schau mal, Lilliflor, da, ganz viele Pinguine, die alle zum Meer watscheln, und sich auf dem Bauch rutschen lassen! Und ein Pinguin hat sogar einen Koffer in der Hand!“ Lilliflor rieb sich die Augen: hatte sie etwa schon Fieberträume? Sie flog herunter, näher an die Pinguine heran. Diese stellten sich jetzt alle in Reihen auf, und mit ihren schwarzen Fräcken und der weißen Brust sahen sie aus wie ein Männergesangsverein. Einer von ihnen, mit langen Frackschößen, stellte sich vor sie hin, stimmte die Tonleiter an und hob den Taktstock – und schon fingen sie an, mehrstimmig zu singen – über eine Pinguindame, die nach Südamerika verreisen wollte, aber da das Meer gefroren war, versuchte, dorthin zu watscheln. Währenddessen watschelte der Pinguin-Chor im Kreis auf der Stelle. Die Kinder und Lilliflor standen inzwischen auch auf dem Eis und watschelten, was das Zeug hielt und lachten sich dabei halb schlapp. „Puh!“ schnaufte Lilliflor ganz außer Atem. “Jetzt ist mir richtig warm geworden. Ich glaube, die Erkältung ist weg!“ Alessa und Niklas drückten sich plötzlich ängstlich an sie – alle Pinguine hatten sich kopfüber ins eiskalte Wasser gestürzt, denn mit riesigen Schritten nahte, mit seinem schneeweißen Fell kaum zu erkennen im Schnee, ein riesiger Eisbär, der gefährlich knurrte. Er kam immer schneller auf sie zu. „Schnell, hängt euch wieder an den Schirm!“ rief Lilliflor und drehte diesen hektisch. Rasch stieg er höher und höher, bis der Eisbär unten gar nicht mehr zu sehen war. „Jetzt können wir aber mal wieder was Wärmeres gebrauchen“, meinte Lilliflor und drehte weiter an dem Schirm. Sie flogen wieder über einen endlosen Ozean, bis sie zum Land kamen, dort zogen sich dichte, grüne Dschungelwälder mit einem glitzernden Band darin, einem Fluss hin, an der Küste sahen sie einen spitzen, kegelartigen Berg, auf dem eine riesige, weiße Jesus-Statue die Arme ausbreitete – „Das ist der Zuckerhut von Rio in Brasilien!“ rief der kluge Niklas aus, an den hohen Anden vorbei, bis sie zu einer großen Halbinsel kamen, die zum Teil dicht bewaldet war, im Norden jedoch eine flimmernde Sandwüste, in der die Kakteen ihre Arme gen Himmel streckten. An ihrem Rand befand sich eine Stadt mit riesigen Hochhäusern und am Rand Wellblechhütten-Siedlungen, über der eine riesige Staubwolke hing.
„Das ist Mexiko City“, rief Lilliflor, „die größte und schmutzigste Stadt der Welt. Hier machen wir Mittagspause.“ Und schon senkte sie den Schirm, um hinunter zu fliegen. Sie landeten vor einer bunten Taverne, wo hinter den bunten Vorhängen die schlichten Holztische standen, auf denen die Fliegen herumsurrten, an der Decke verteilte ein lärmender Ventilator die stickige Luft. Auf der Tafel neben der Theke stand: „Heute Angebot: Chili con carne nur 100 Peseten“. Niklas entdeckte aber ein viel kleineres Schild ein paar Schritte weiter an der Theke: „1 Glas Wasser 1000 Peseten.“ Er kicherte. „Da weiß man ja schon, wie scharf das Chili ist! Das esse ich bestimmt nicht!“ An der Wand hing ebenfalls ein Plakat: „Heute Premiere: Rodolfo, der tanzende Floh! Kommen Sie und staunen Sie!“ Alessa lachte: „ein tanzender Floh – so ein Unsinn! Der ist doch so klein, den kann man gar nicht sehen!“ „Wart’ s ab!“ schmunzelte Lilliflor und bestellte für sie alle Tortillas und Tacos mit Truthahnfleisch und Avocadocreme. Dazu Säfte von exotischen Früchten – Mango und Maracuja zum Beispiel. Lilliflor genehmigte sich sogar einen Cocktail – eine Pina Colada. „Auf unsere Weltreise!“ stießen sie miteinander an. „Ja, die war wirklich toll!“ rief Alessa. „Und ich bin auch gar nicht mehr traurig – obwohl, ich denke grade dran, ob Mama uns schon sucht und sich Sorgen macht?“ krauselte sie besorgt ihre Stirn. „Pscht!“ zischte Niklas, „die Show mit dem Floh geht los!“
Auf die Bühne trat ein Mexikaner mit einem großen, bunten Sombrero und einem Poncho und begrüßte das Publikum. „Meine sehrrrr geehrrrrten Senorrrres und Senorrrinas“, Niklas kicherte – „der kann das „r“ aber besser rollen als die Chinesen“, flüsterte er – „heute haben wir der Welt errrrrst Prrrremierrrre von Rrrrrodolfo, dem tanzenden Floh auf unserrrerrr bescheidenen Bühne. Ich bitte um absolute Konzentrrration und RRRRRRuhe!“
Der Scheinwerfer richtete sich nun auf ein kleines Podest auf der Bühne, auf dem nur ein winziger Sombrero und ein kleiner Poncho darunter zu sehen waren. Die Mariachi-Musiker stimmten ihre Instrumente an, und der Mann von eben hob seine Stimme zum Gesang über den tanzenden Floh.
(während des ganzen Liedes beobachteten sie zu ihrem Erstaunen, dass sich der winzige Sombrero und der Poncho wirklich rhythmisch wie in einem Tanz hoben und senkten. Die Kinder staunten. Das war wirklich ein tanzender Floh!)
Und plötzlich streckte der Mann seinen Po nach hinten, und der winzige Sombrero und Poncho tanzten wirklich auf seinem Po! Alessa und Niklas schütteten sich aus vor Lachen. Sie prusteten und japsten nach Luft. „Hilfe! Ich kann nicht mehr!“ schnappte Niklas nach Luft. „Ich glaub, ich mach gleich vor Lachen in die Hose!“ „Na, dann schnell aufs Klöchen“, rief Lilliflor. Alessa ging auch gleich mit.
„So, Kinder, jetzt müssen wir langsam an die Rückreise denken,“ meinte die Fee. „Oh, schade!“ seufzten beide. „Doch, kommt, eure Mama wartet bestimmt schon auf euch!“ zwinkerte sie und wieder ging’ s aufwärts mit dem Schirm. Vom vielen Essen und Lachen ganz erschöpft, banden sich die Kinder wieder an der rosa Schleife an den Zauberschirm und schliefen sofort ein. So bekamen sie wieder nicht mit, dass sie über einen Ozean flogen, unter sich eine Insel liegen ließen, die wie ein Glocke aussah – England – über Frankreich, Belgien und Holland bis nach Deutschland flogen, wo sie zunächst dem Lauf des glitzernden Bandes des Rheins folgten, dann jedoch einem anderen Fluss wieder bis in die Nähe der Alpen. Dort färbte gerade, als Niklas und Alessa gähnend die Augen aufschlugen, wieder die Sonne die schneebedeckten Berggipfel rosa. „Nanu“, rief Alessa erstaunt aus, „hier waren wir doch schon mal am Anfang unserer Reise!“ „Nicht ganz,“ lachte Lilliflor, „wir sind jetzt auf der Nordseite der Alpen, in Bayern. Ich will euch da jemanden vorstellen. Kommt mit!“ Und sie landete mit den beiden mitten auf einer Bergwiese – fast in einem riesigen Kuhfladen. „Puh! Das stinkt aber!“ rümpfte Niklas die Nase. Doch schon bald war seine Aufmerksamkeit von einem Schauspiel weiter oben auf der Wiese gefesselt: ein blondbezopftes Mädel in einem Dirndl-Kleid trieb die Kühe den Berg hinauf. Eine ging und ging einfach nicht vorwärts. Da zog sie sie einfach am Schwanz! Niklas und Alessa prusteten los. Auf einmal erklang von der hölzernen Veranda eines Bauernhofes ungewohnte Musik. Dort saßen Jungs mit kurzen Lederhosen und lustigen Hüten mit Gamsbart drauf und spielten auf Holzinstrumenten, deren gezupfte Saiten fast wie Gitarren klangen. „Was ist das?“ fragte Niklas neugierig. „Das sind Zithern“, erklärte ihnen Lilliflor. Nebendran standen große Männer und bliesen in riesige Hörner, die bis auf den Boden reichten. „Das sind Alphörner“, klärte sie Lilliflor auf. Sie gaben einen tiefen, trötenden Ton von sich. „Fast wie die Elefanten in Afrika“, kicherte Alessa.
Auf einmal standen einige der Jungs auf und fingen an, die Beine halb hoch zu heben und sich mit den Händen auf die ledernen Schenkel zu klatschen, dann klatschten sie in die Hände und wieder von vorn.
Niklas war ganz mitgerissen, hatte vergessen, den Schirm festzuhalten, und klatschte sich auch auf die Schenkel und in die Hände, auch Alessa sang mit und klatschte im Rhythmus der Musik. Auf einmal waren sie gar nicht mehr winzig und unsichtbar, auch Lilliflor war nun für jedermann gut zu sehen in ihrem rosa Kleidchen.
„Lillilein!“ rief einer der Tänzer und stürmte auf sie zu, hob sie hoch, drehte sich mit ihr im Kreis und lachte noch mehr. Auch Lilliflor freute sich offenbar sehr, diesen alten Bekannten wieder zu sehen. "Mein lieber Josef!" rief sie aus. Auch das Mädchen kam von der Alm herunter und begrüßte sie überschwänglich. "Susi! Immer noch so viel Arbeit mit den Kühen?" Diese nickte lachend. Schließlich bemerkten sie Alessa und Niklas und küssten sie herzlich zur Begrüßung. „Wen hast du denn da mitgebracht?“ fragten sie Lilliflor. “Hast du sie etwa auch mit auf deine famose Weltreise genommen wie die Susi und mich damals?“ fragte der Junge. Alessa und Niklas nickten, mit leuchtenden Augen erzählten sie von ihrem Flug um die Welt. „Wart ihr denn da auch überall mit Lilliflor?“ fragte Alessa erstaunt. Sie war ein bisschen enttäuscht. Sie dachte ja die ganze Zeit, dass Lilliflor erst durch ihre Zeichnung entstanden sei. Resi und Hans lachten. „Ja, freili, wir kennen auch Fridolin, den verliebten Löwen, Kostja der niemals Angst hat, die Reisbauern, die Pinguine und den tanzenden Floh!“ riefen sie fröhlich in ihrem lustigen, bayerischen Dialekt. „Kommts, jetztet gibt’s erst amal a Brotzeit“, sagte Josef und schon standen ein großer Laib Brot, Würste, Schinken und echter Emmentaler Käse auf dem Holztisch vor dem Bauernhaus. Dazu gab es selbst gekelterten Apfelmost und frische Kuhmilch. „Hmmm, die schmeckt aber lecker“, seufzte Alessa, die sonst nur die Milch aus den Tüten kannte. „Jo, freili, die hat die Susi grod erscht frisch gemolke“, meinte Josef. Sie lachten und erzählten, und schließlich stellte Alessa die Frage, die ihr die ganze Zeit auf der Seele lag: „Kommt denn die Lilliflor zu noch mehr Kindern, als zu uns und zu euch?“
Lilliflor wurde ernst und nahm Alessas Hand. „Ja, sieh mal, Alessa, du warst doch auch so traurig, als ich zu euch gekommen bin. So wie dich gibt es viele Kinder auf der Welt, die ab und zu mal sehr traurig sind. Als ich damals zum Josef und der Susi gekommen bin, da waren ihre Eltern gerade beide bei einem Autounfall gestorben. Die waren richtig traurig, kann ich dir sagen. Ich kann einfach kleine Kinder nicht weinen sehen. Deshalb komme ich zu ihnen und schenke ihnen diese Reise um die Welt, damit sie sich wieder freuen können. Und nie vergessen, dass auch, wenn Papa oder Mama nicht da sind, immer jemand bei ihnen ist und auf sie aufpasst. Und dass sie sich gegenseitig lieb haben sollen.“ Alessa kullerte eine Träne über die Wange. Sie war ganz gerührt, dass die Lilliflor so lieb zu den Kindern war, dass viele Kinder traurig waren, dass Susi und Josef keine Eltern mehr hatten – und weil sie auf einmal unbändige Sehnsucht nach ihrer Mama hatte. „Ich will jetzt aber endlich heim zu meiner Mama“, schluchzte sie. „Ich auch“, sagte Niklas ganz leise. Josef fuhr ihnen über die Haare. „Na, dann, Servus, ihr zwei, die Lilliflor bringt euch sicher hoim“, verabschiedete er sich von ihnen. Susi winkte mit ihrem karierten Taschentuch, Lilliflor band die Kinder wieder mit der rosa Schleife am Schirm fest, und los ging’ s wieder hoch in den Himmel. Unten hörten sie von ferne die Kapelle spielen.
Sie flogen wieder über dem silbernen Band des Neckars entlang, bis zu den heimischen Weinbergen. Doch da waren Alessa und Niklas schon längst wieder eingeschlafen. Es war schon wieder dunkel,
der Herbstwind wehte graue Wolken über den Himmel, und es regnete in Strömen. Durch das offene Fenster wehte sie der Wind wieder in ihr Wohnzimmer hinein, wo sie sanft auf dem Sofa landeten. Lilliflor sah noch einmal zärtlich auf die Arm in Arm schlafenden Kinder zurück, dann verschwand sie an ihrem blauen Zauberschirm aus dem Fenster. Die Wolken verdeckten den Mond, der auf Niklas und Alessa schien, die in ihrer Traumwelt lagen und schliefen
„Na, hallo, Kinder, hier seid ihr, ich habe mich schon gewundert, warum ihr so still wart die ganze Zeit, ihr seid ja eingeschlafen! Jetzt aber Abendessen und ab ins Bett“ rief die Mutter, als sie das Licht anmachte und ins Zimmer trat. Niklas und Alessa sahen sich überrascht um und rieben sich die Augen – waren sie wirklich mit Lilliflor um die Welt gereist an einem Zauberschirm oder hatten sie alles nur geträumt? Sie blickten zu Boden – da lag das Bild mit Lilliflor, das Alessa gezeichnet hatte, und die rosa Schleife! Und täuschten sie sich, oder zwinkerte Lilliflor ihnen nicht zu? Beide legten gleichzeitig den Zeigefinger über ihren Mund und schauten sich verschwörerisch an.
Diese Weltreise würde ihr Geheimnis bleiben.! „Och Mama, wir haben gar keinen Hunger mehr“, meinte Niklas. „Wir gehen sofort ins Bett“. Die Mutter wunderte sich. Was war mit den Kindern los? Normalerweise gingen sie nie so ohne Probleme ins Bett. Zerstreut hob sie das Bild auf und die rosa Schleife, die auf dem Boden lagen. Wie kam die denn hierher? Fragte sie sich erstaunt. Sie wusste gar nicht, dass Alessa so eine Schleife hatte? Seltsam, seltsam, dachte sie. Das ist ja dieselbe Schleife, die die kleine rosa Dame auf dem Bild anhat. Und sie schob gedankenverloren beides in die Schublade im Schrank. Als sie das Licht hinter sich gelöscht hatte, leuchtete es in dem verlassenen Zimmer immer noch zart rosa aus der Schublade....