Die kleine Eisenbahn
Kapitel 1
Wer weiß nicht, wie eine Dampflok aussieht? Die kleine Blech-Eisenbahn, die auf einem Küchentisch wohnte, wünschte sich nichts sehnsüchtiger, als einmal in ihrem Eisenbahnleben eine richtige große Dampflok zu sehen und einen richtigen Bahnhof! Sie hatte keinen Spiegel und konnte nicht wissen, dass sie ihrer großen Schwester ziemlich ähnlich sah.
Die kleine Eisenbahn war als Geburtstagsgeschenk in ihr jetziges Zuhause gekommen, für einen großen Jungen – na ja, ziemlich groß schon! – aber für Spielen ist man ja nie zu groß, fand jedenfalls die kleine Eisenbahn. Vorher hatte sie in einem Laden gestanden, in dem auch Bücher verkauft wurden, da hatte sie die Geschichte von Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer kennen gelernt und ein kleines bisschen war sie neidisch. Irgendwie träumte sie seitdem davon, auch einmal einfach ohne Schiene durch die Welt fahren zu können, eben, ja eben wenigstens bis sie einen Bahnhof und eine richtige Dampflok gesehen hatte. Es musste ja nicht gleich das große Meer sein, dafür war sie vielleicht doch ein wenig zu klein. Ihre kleine Blechwelt bestand aus einer Platte mit einer Schiene, immerhin zwei Schranken, einem Auto und einem Schlüssel, mit dem sie aufgezogen wurde. Leider konnte sie sich nicht selbst aufziehen und musste immer warten, bis jemand sie sah und mit ihr spielen wollte. Zu dumm!
„Ach“, seufzte die kleine Eisenbahn eines nachts vor sich hin, „wenn ich doch nur größer wäre oder jemand käme, der an meinem Schlüssel dreht. Der Mond scheint so hell, bestimmt würde ich den Weg zum Bahnhof finden....“ Sie grübelte und grübelte und seufzte immer tiefer. Auf einmal fiel ihr ein, dass einmal jemand in ihrem Laden gesagt hatte, man müsse ganz ganz fest etwas wollen und glauben dass man es könne, dann klappte es auch. Ob das wohl stimmte? Sie konnte es ja einmal versuchen. Und schon fing sie an, ganz fest an die große schwarze Dampflok zu denken, die sie unbedingt kennenlernen wollte. „Du bist groß und stark und tapfer,“ sagte die kleine Eisenbahn zu sich selbst, „du bist fast so stark wie eine große Lok und du kannst es schaffen, du musst es nur wollen.“ Mit aller Kraft wünschte sie sich von ihrer Blechplatte auf den Fußboden und erschrak selbst, als sie auf einmal wie von Zauberhand tatsächlich auf dem Fußboden stand. „Nun aber los“, machte sie sich Mut, „es ist bestimmt weit bis zum Bahnhof“. Ganz fest wünschte sie sich nun, zur Tür zu rollen und siehe da, es klappte. Noch ein wenig holperig fuhr sie am Rand des Teppichs entlang bis zur Wohnungstür, die zum Glück sogar ein wenig geöffnet war. So rollte die kleine Eisenbahn in die Nacht hinaus, ihrem großen Abenteuer entgegen.
Kapitel 2
Ein wenig hilflos blickte sie sich auf der Straße um. Wohin sollte sie fahren? „Mond“, rief sie nach oben, „du siehst doch alles, kannst du mir sagen wie ich zum Bahnhof komme?“ „Bahnhof?“, grummelte der Mond vor sich hin, „ich versuche die Sonne zu finden, aber das gelingt mir nie, sie verschwindet immer wenn sie mich sieht. Da hab ich genug zu tun und muss mich nicht um einen Bahnhof kümmern!“ Sehr nett ist er ja nicht gerade, dachte die kleine Eisenbahn, aber gut, wer verliebt ist, der ist vermutlich zu nichts anderem zu gebrauchen. Sie war zwar noch nie verliebt gewesen, aber davon gehört hatte sie aus den vielen Büchern im Laden. So rollte sie weiter in die Nacht. „Hilfe“, rief sie auf einmal, als eine große schwarze Katze vor ihr auftauchte und schon die Pfote nach ihr ausstreckte. „Ich bin doch keine Maus und ich schmecke dir ganz bestimmt nicht“. Die Katze hielt mitten in der Bewegung inne und schaute ziemlich erstaunt auf das Gefährt vor sich. Wenn das keine Maus war, was war es dann? Klein und schwarz, allerdings roch dieses Ding auch nicht wie eine Maus! „Wer bist du?“ fragte die Katze, und die kleine Lok berichtete ziemlich erleichtert, dass sie auf dem Weg sei zum Bahnhof. „Weißt du nicht wo der Bahnhof ist?“ „Nein, sagte die Katze, „aber du bist ziemlich klein, das scheint mir ein gefährlicher Weg für dich zu sein. Ich könnte dich in die Schnauze nehmen und ein Stückchen tragen wenn du magst und keine Angst vor mir hast“. Natürlich hatte die kleine Eisenbahn keine Angst, schließlich war sie groß und stark und tapfer..... So ließ sie sich von der Katze ins Maul nehmen und ihre Reise ging gleich viel schneller weiter. Bumms, machte es auf einmal ein paar Straßen weiter, und die kleine Lok hätte sich fast eine Beule geholt, weil die Katze sie so schnell hatte fallenlassen. „Entschuldigung“, sagte die Katze, aber hier wohnen bestimmt Mäuse, weiter kann ich dich nicht mitnehmen, ich muss jetzt mein Abendessen fangen. „Danke für die Hilfe“, sagte die kleine Eisenbahn, „ich schaffe es bestimmt“. Und sie rollte weiter tapfer in die Nacht hinein.
Kapitel 3
Die kleine Eisenbahn musste sich ganz schön anstrengen mit dem Wünschen, manchmal ging das ziemlich schwer und sie wurde immer langsamer. Dauernd musste sie um Kieselsteine herumfahren, um Papier das auf der Straße lag – ja, dachten denn die Menschen überhaupt nicht an andere, wenn sie solche Hindernisse auf die Straße warfen? Schon wieder musste sie um etwas herumfahren, welch eine Mühe! Über ihr flog irgend jemand. Vögel schliefen des nachts, das wusste sie, ob das wohl eine Eule war? Sie hatte einmal gelesen, dass Eulen in der Nacht sehen können. „Eule?“ rief sie vorsichtig nach oben, „Euuuule!“ Tatsächlich kreiste der Vogel plötzlich über ihrem Schornstein und krächzte: „Wer bist du denn, du komisches Ding? Und woher kennst du mich?“ „Ich bin eine kleine Lokomotive und suche den Bahnhof“, sagte die kleine Eisenbahn. „Weißt du nicht wo hier der Bahnhof ist und wie ich da hinkommen kann? Der Weg scheint mir ziemlich weit weg zu sein!“ „Bahnhof?“, überlegte die Eule halblaut vor sich hin, „Bahnhof......? Jetzt weiß ich woher du mir bekannt vorkommst. Da gibt es glaube ich so ein großes schwarzes Ding das fast aussieht wie du!“ Das ist irgendwo in der Richtung. Und sie zeigte mit einem Flügel nach Norden. „Kannst du fliegen?“ „Ich glaube nicht,“ antwortete die kleine Lok, „oder kannst du bei mir irgendwelche Flügel sehen?“ „nein, ich glaube eher nicht“, meinte die Eule, nachdem sie die Lok ziemlich scharf und prüfend von allen Seiten betrachtet hatte. „Da muss ich dich wohl hinbringen. Wenn ich mich ganz flach mache, kannst du dann vorsichtig auf meinen Rücken rollen und dich da festhalten? Dann fliege ich dich eben schnell zum Bahnhof. Aber nur weil du so klein und nett bist, eigentlich ist das nicht meine Aufgabe!“ Ach du liebe Zeit. Etwas mulmig wurde der kleinen Lok nun doch zumute, aber sie wollte doch unbedingt zur großen Dampflok. „Auf geht’s“, gab sie sich innerlich Schwung, „rollen wir eben auf die Eule“. Diese versuchte sich gerade möglichst klein zu machen, streckte nun einen Flügel aus, so dass die kleine Lok wie auf einer schrägen Straße nach oben rollen konnte. „Stell dich genau zwischen die Flügel und versuche dich an den Federn festzuhalten“, rief die Eule nach oben, „aber reiß mir keine Feder aus, dann erschrecke ich mich und lasse dich vielleicht fallen“. Und schon breitete sie die Flügel aus und flog los. Und so flog die kleine Eisenbahn ihrem großen Wunsch entgegen.
Kapitel 4
Huuuiiii, wie das sauste und brauste. Die kleine Eisenbahn musste sich gehörig anstrengen, nicht runterzufallen und vorsichtshalber schaute sie auch lieber nicht nach unten. Sie hätte sowieso nicht viel sehen können, der Mond suchte gerade die Sonne hinter einer dicken Wolke, und sie selbst hatte dummerweise vergessen, sich Licht für ihre Reise zu wünschen. Nun war es egal, wie gut, dass die Eule trotz der Dunkelheit wunderbar sehen konnte. „Achtung, Vorsicht bei der Landung“, kam die Krächz-Stimme der Eule, und schon ging es irgendwie bergab. Ach du liebe Zeit, die Eule landete auf einem dicken Ast eines Baumes, es war recht schwierig für die kleine Lok, das Gleichgewicht zu halten und nicht runter zu purzeln. „Mach dich nicht so dünn“, flehte sie die Eule an, „ich glaube ich kann mich sonst nicht halten“. „Ich pass schon auf“, antwortete die Eule, „aber ich muss doch erstmal sehen, wo ich dich absetzen kann. Ich glaube ich sehe die große Lok, wir sind gleich da“. Und schon erhob sie sich wieder in die Lüfte, um kurz danach auf dem Boden zu landen. „So, das war’s“, sagte die Eule, „hier scheint der Bahnhof zu sein. Die silbernen Stricke da sind wohl Schienen, und wenn du noch ein Stückchen weiterrollst, wirst du deine Wunschlok sehen können. Aber Vorsicht, komm nicht unter die Räder!“ Die Eule streckte wieder den Flügel lang aus, damit die kleine Eisenbahn eine Rampe hatte, auf der sie wieder auf die Straße rollen konnte. „Danke, Eule, das werde ich dir nie vergessen“, rief die kleine Eisenbahn, „und wenn ich mal was für dich tun kann, dann ruf mich. Es ist immer gut wenn man Freunde hat.“ „Schon gut“, brummte die Eule, „pass auf dich auf!“, erhob sich ganz schnell, wischte sich verstohlen mit dem Flügel einmal über ihre Eulenaugen – da war wohl etwas reingeflogen – und schwang sich wieder in den Himmel. Und so rollte die kleine Eisenbahn ihrem großen Traum entgegen.
Kapitel 5
„Ooooohhhh, ist die aber groß“, dachte die kleine Eisenbahn, als sie plötzlich die Umrisse der großen alten Dampflok erkennen konnte. Aufgeregt rollte sie vorwärts und rückwärts an dem Ungetüm entlang, das überhaupt kein Ende zu haben schien. Du liebe Zeit. Vor Begeisterung rollte sie immer schneller, und fast wäre sie über die Bahnsteigkante gestolpert, gerade noch rechtzeitig hatte sie es gemerkt und anhalten können, aber nun blieb sie doch erst eine Weile stehen um sich wieder zu beruhigen. „Hallo Dampflok, bist du eine richtige Eisenbahn?“ Schnaufend kam eine ziemlich tiefe Stimme von der anderen Seite des Riesen. „Wer bist du? Komm mal hierher, wo meine Scheinwerfer sind, damit ich dich sehen und besser verstehen kann!“ Die kleine Lok rollte zurück zum Anfang der großen Lok und stellte sich mitten auf den Bahnsteig. „Kannst du mich jetzt erkennen?“, fragte sie gespannt. „Ja, du siehst fast ein bisschen aus wie die anderen Loks die ich ab und zu sehe, allerdings bist zu ziemlich klein geraten. Kannst du auf Schienen fahren?“ Die kleine Eisenbahn war ganz stolz. Sie sah wirklich ein bisschen aus wie eine richtige Lok! „Ja, kann ich“, antwortete sie ein wenig prahlerisch, allerdings sind auch meine Schienen etwas kleiner als deine. Ich bin doch eine Spielzeugeisenbahn, und Kinder können mit einer großen Lok noch nicht viel anfangen, deshalb gibt es auch ganz kleine Lokomotiven.“ „Aha, wieder was gelernt“, entgegnete die große Lok, „ich mag Kinder nicht besonders. Die wollen immer alles anfassen und machen schnell etwas in mir kaputt“. „Hmm“, dachte die kleine Eisenbahn, „sie mag keine Kinder? Na sowas. Ich finde es schön wenn Kinder mit mir spielen.“ Im Laden waren öfter mal Kinder gewesen, alle hatten sich gefreut bei ihrem Anblick. Plötzlich bekam sie Sehnsucht nach ihrem Küchentisch und ihrem großen Jungen. Wenn sie nun nicht mehr zurückfinden würde? Wo war die Eule nur langgeflogen und wie sollte sie zurückkommen? Ihr Abenteuer war plötzlich gar nicht mehr so wichtig, viel wichtiger war, was aus ihr werden sollte. Fast war sie ein wenig verzagt und mutlos geworden. „Was ist mit dir?“, fragte die große Lok, „du bist auf einmal ganz still geworden, tut dir etwas weh?“ „Ach weißt du, ich habe mir so sehr gewünscht dich einmal zu sehen, und mit meinem Wünschen habe ich es geschafft, meinen Traum zu erfüllen, aber jetzt habe ich doch ein wenig Angst, dass ich nicht mehr zurückfinde nach Hause.“ „Angst ist nicht gut“, dachte die Lok laut vor sich hin, „Angst behindert dich nur und schwächt dich. Es ist doch ganz einfach: Wenn du durch dein Wünschen geschafft hast, bis zum Bahnhof zu kommen, dann musst du dich einfach wieder zurückwünschen Das müsste doch klappen, oder?“ „Du bist wunderbar“, rief die kleine Eisenbahn begeistert, „das ist die Lösung, und so einfach! Ich danke dir und ich bin ganz glücklich, dass ich dich endlich gesehen habe. Vielleicht komme ich dich wieder einmal besuchen!“ Und dann klappte sie ihre Blech-Scheinwerfer zu um ganz fest an ihren Küchentisch zu denken und versuchte, sich zurück zu wünschen.
Kapitel 6
Vorsichtig öffnete die kleine Eisenbahn ihre Blechscheinwerfer wieder, als sie mit einem „Rumms“ auf irgend etwas landete. Was war das? Da stand sie doch tatsächlich wieder auf ihrem Küchentisch! Nun, ganz bis auf ihre Blechstraße hatte sie es nicht geschafft, aber da würde ihr schon jemand helfen. Und im Moment war es ihr ganz recht, dass sie auf der Seite liegen durfte, sie war doch ziemlich geschafft und müde! Hatte sie geträumt oder war sie wirklich bei der großen Dampflok gewesen? Aber es war alles so real. Etwas kitzelte sie an einem ihrer Räder, was konnte das sein? Mit aller Mühe schielte sie zu dem Rad und – es konnte fast nicht sein – das sah doch aus wie eine kleine Feder? Dann war sie wirklich mit der Eule geflogen! „Das heißt doch“, dachte die kleine Eisenbahn, „dass die Menschen in dem Laden Recht gehabt haben, wenn sie sagen, dass Träume wahr werden und man alles kann und alles schafft, wenn man es nur ganz ganz doll will! Und ich habe es geschafft!“ Sie seufzte noch einmal ganz tief voller Stolz auf, dann fielen ihr die Blechscheinwerfer wieder zu, vielleicht einem neuen Traum entgegen.
Und wenn man ganz genau hinschaut, kann man sehen, dass die kleine Eisenbahn vor Stolz ein ganz klein wenig gewachsen ist.......
bcm 2008