Die kleine Dame
Jessica stand im Unterhemd vor ihrem Kleiderschrank im Kinderzimmer. Das kleine Mädchen legte den Kopf schief und seufzte. Dann drehte sie sich um, blickte ihren Teddy und ihre Lieblingspuppe Molly an und seufzte: “Ihr müsst noch einen Moment auf mich warten. Ich habe einfach nichts Schönes anzuziehen. Und ohne schönes Kleid macht Kakao trinken und Kekse essen keinen Spaß.“
Teddy und Molly saßen am Tisch und blickten Jessica geduldig an. Der Kopf des Teddys war leicht zur Seite geneigt, so dass man meinte er würde Jessica zunicken. Und das Lächeln von Molly drückte vollstes Verständnis für die verzweifelte Lage des kleinen Mädchens aus.
Jessica fing nun an sehr ungeduldig in den Schrankfächern zu wühlen. Ein Kleidungsstück nach dem anderen landete auf dem Fußboden, wo sie absolut keine Beachtung mehr fanden. Bald herrschte ein wildes Durcheinander im Kinderzimmer.
Plötzlich ging ein Leuchten über das Gesicht des kleinen Mädchens: “Oh, seht doch mal! Da ist ja das Kleid, dass ich zu meinem Geburtstag bekommen habe. Das ist genau das Richtige für heute!“
Jessica zog sich das Kleid über den Kopf. Es war schon etwas eng - aber das war egal. Dieses Kleid musste es jetzt sein!
Verzückt drehte sich Jessica vor den Spiegel. Ein Blick auf ihre Spielgefährten sagte ihr, dass die Beiden mit ihrem Anblick auch sehr zufrieden waren. Molly lächelte und Teddy nickte.
Jessica runzelte die Stirn und überlegte laut: “Nun fehlen mir nur noch schöne Schuhe. Mama hat bestimmt Schuhe, die zu dem Kleid passen würden. Schöne, hohe Schuhe, wie sie die großen Damen tragen.“
Das letzte Wort war noch nicht ganz ausgesprochen, da war das Mädchen schon zur Tür hinaus. Der Schuhschrank war in der Diele unter der Treppe. Da wollte sie hin.
Mama, die in der Küche stand und gerade den Abwasch machte, war sehr erstaunt als ihre Tochter hüpfend an der Küchentür vorbeilief.
Sie steckte den Kopf zur Tür hinaus und blickte Jessica fragend nach: “Warum hast du dich denn so hübsch gemacht?“
Die Kleine strahlte ihre Mutter an: “Ich muss doch mit Molly und Teddy Kakao trinken. Und die Erwachsenen machen sich doch auch immer hübsch, wenn sie irgendwo zum Kaffee eingeladen werden.“
Schnell und ohne Luft zu holen fragte sie gleich hinterher: “Hast du nicht ein paar Schuhe für mich?“
Mama musste lächeln. Aha, Jessica spielte mal wieder „feine Dame“. Die Augen ihrer Tochter leuchteten und die Wangen waren leicht gerötet. Wie konnte ihr Mama da einen Wunsch abschlagen.
„Du kannst dir im Schuhschrank ein paar Schuhe heraussuchen. Nur sei vorsichtig, dass du mit den großen Schuhen nicht umknickst.“
Bevor Mama zurück in die Küche ging fügte sie noch hinzu: „Und mach nicht so ein Durcheinander wie letztes Mal.“
Als die Mutter wieder in der Küche verschwunden war, wandte sich Jessica mit einem „Juchhu“ dem Schuhschrank zu. Sie zog einen Schuh nach dem anderen aus dem Fach, schlüpfte mit einem Fuß hinein und drehte ihn nach rechts und links, um ihn ausgiebig zu bewundern.
Da waren so viele schöne Damenschuhe. Wie sollte sie sich da für ein Paar entscheiden? Da waren Schwarze, Weiße, Braune....und plötzlich stutzte das Mädchen. Das waren sie. Die idealen Schuhe. Rote, wunderschöne, hohe, rote Schuhe.
Mit einem Ruck zog sie die Pumps aus dem Regal. Die mußten neu sein. Die hatte Jessica noch nie bei Mama gesehen. Sie waren zwar viel zu groß, aber das ging schon. Mit den Schuhen an den Füßen wackelte Jessica, leise vor sich hinsummend, zurück in ihr Kinderzimmer.
Molly und Teddy hatten auf sie gewartet.
„Ihr habt doch nicht schon ohne mich angefangen?“, fragte Jessica tadelnd und mit erhobenen Zeigefinger. Sie wollte Teddy und Molly necken. Doch dann lachte sie auch schon wieder und drehte sich, so gut das mit den Schuhen ging, im Kreis herum, damit die Beiden sie bewundern konnten. Sie sah ein freundliches Nicken von Teddy und ein verständnisvolles Lächeln von Molly.
Nun verging der restliche Nachmittag wie im Flug. Teddy und Molly hörten dem Plappern von Jessica geduldig zu. Jessica erzählte viel. Von Mama und Papa, von ihren Freundinnen aus der 1. Klasse und was sie einmal werden wollte, wenn sie groß war. Dabei füllte sie die kleinen Teller regelmäßig mit Keksen nach, und aß sie dann genüßlich auf. Hin und wieder strich sie über den Saum ihres Kleides, damit er nicht knitterig wurde. Und manchmal blickte sie stolz hinunter zu den roten Schuhen, die so wunderbar zu ihrem Kleid passten. So verging die Zeit. Als das Mädchen müde wurde, hatte sie auf einmal das Bedürfnis ihre Lieblingsspielsachen in den Arm zu nehmen. Sie ging um den Tisch herum, drückte den Teddy und ihre Lieblingspuppe ganz fest an sich und gähnte: “Das war ein schöner Nachmittag mit euch, aber auf einmal bin ich furchtbar müde...“
Mama, die hin und wieder einmal ins Kinderzimmer gesehen hatte, oder auch einmal eine Tasse Kakao mitgetrunken hatte, saß nun gemütlich im Wohnzimmer. Nach kurzer Zeit wunderte sie sich, dass die Kinderstimme von nebenan verstummt war. Leise ging sie zur Tür des Zimmers und öffnete sie. Kopfschüttelnd und mit einem Lächeln stand Mama in der Tür und sah ihre Tochter auf dem Bett liegen. Sie schlief. Links im Arm lag Teddy, rechts im Arm Molly. Und - wie sollte es auch anders sein - die roten Schuhe hatte sie immer noch an den Füßen.
Die Mutter ging zum Bett, strich ihrer Tochter die wirren Haare aus der Stirn, und deckte sie liebevoll zu.
„Ja, mein Schatz, eine Dame zu sein kann manchmal sehr anstrengend sein“, schmunzelte Mama, und zog leise die Tür hinter sich zu.