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Die Klausur
Sie ging Reihe für Reihe entlang. Mit ihren Adleraugen suchte sie nach irgendeinem Grund ein Kommentar loszulassen und damit den Schülern den letzten Funken Hoffnung zu nehmen, der irgendwo in ihren schon so erschütternden Seelen schlummerte.
Mit dem Kopf nach unten gerichtet versuchte er dennoch nach ihr Ausschau zu halten, damit er wusste, wann sich die Gelegenheit bot endlich auf seinen sorgfältig angerfertigten "Spicker" zu schauen. Langsam wurde es eng. Schon fünfzehn Minuten lang stand sie nun vorne und beobachtete jede Bewegung der Schüler, unter denen auch er war. Sie schien so erpocht darauf zu sein, dass sie heute einen schummelnden Schüler erwischt. Genau aus dieser wilden Entschlossenheit der Lehrerin guckte er nicht auf den kleinen Zettel, der ihm alles so leicht machen würde. Doch aufeinmal drehte sie sich zur Tafel und wandte so der Klasse den Rücken zu.
Sofort öffnete er vorsichtig seine Federtasche, in der der wichtige kleine Freund lag. Er nahm ihn leise in seine schweißnassen Hände, die das Festhalten nur schwerer machten. Schnell überflog er die ersten Sätze und begann sie abzuschreiben, dabei aber immer schauend, wo sich gerade die Lehrerin befand. Keine Gefahr sie wandte sich immer noch der Tafel zu, wahrscheinlich wartete sie nur darauf eine Stecknadel fallen zu hören, um irgendeinem unschuldigen Schüler wegen Betrugversuches eine Sechs einzutragen, die bei einer Klausur, wie dieser gleichbedeutend mit dem Sitzenbleiben war.
Noch nie war er so aufgeregt gewesen wie bei dieser Klausur. Niemals war ihm so heiß, dass er dachte irgendwann muss ich doch aufwachen aus diesem Alptraum. Doch so stark er es auch versuchte, die Realität war , dass er diese Klausur schreiben musste- und wenn es geht noch eine Zwei oder Drei kriegen sollte, damit er das nächste Jahr nicht mit dem jüngeren Jahrgang verbringen musste, über den er sich doch so oft mit seinen Mitschülerm lustig gemacht hatte, wie dumm und kindisch sie doch waren. Nein, dies musste er verhindern. Aber genau das schien ihm ja zu gelingen, denn noch immer guckte die Lehrerin in Richtung Tafel, sodass er zügig seine schon vorbereiteten Antworten vom Zettel abschreiben konnte.
Noch zehn Minuten waren zu schreiben. Er war fast fertig und schaute sich nochmals um. Dabei musste er feststellen, dass er wohl der Einzige war, der fast fertig zu sein schien, denn bei den anderen Schülern schaute er nur in verzweifelte, vor Panik ganz rote Gesichter. Dennoch hatte er auch keine Gewissensbisse nochmals seinen "Spicker" rauszuholen und das letzte Mal abzuschreiben...
Doch genau als er zur Lehrerin, die immer noch zur Tafel gerichtet stand, schaute , sah er das Gesicht von ihr im Spiegel, der direkt neben der Tafel angebracht war. Sie schaute ihn auch genau ins Gesicht...