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Die Kennari
Silvi will ein Eis haben. Tränen rinnen ihre Wangen hinunter. Die ganze Nacht ist sie im Flugzeug gesessen und konnte nicht spielen und auch nicht schlafen, weil es immer wieder gewackelt hat.
„Das Eis hier ist ungesund“, sagt Mama und zieht Silvi in Richtung Ausgang.
„Ich will auch ein Eis.“ Silvis kleiner Bruder Henry zerrt an Papas Hand, doch auch Papa will kein Eis kaufen.
Stattdessen kriegt jedes Kind eine Flasche mit gewöhnlichem Wasser.
Silvi ist das erste Mal mit dem Flugzeug in den Urlaub geflogen. Vor dem Flughafen ist es sehr heiß. Autos und Mopeds rasen vorbei, sodass Silvi ganz schwindelig wird. Mama schmiert ihr gleich Sonnencreme ins Gesicht. Silvi mag das nicht und protestiert. Sie will ein Eis essen gehen.
Links und rechts neben dem Ausgang stehen zwei komische goldfarbene Statuen. Silvi hat so etwas noch nie gesehen. Sie haben das Gesicht einer schönen Frau, doch an ihrem Rücken wachsen Flügel und sie stehen auf zwei kräftigen Beinen die aussehen wie die eines Adlers.
„Was ist das?“, fragt Silvi Papa.
Papa weiß es nicht. Silvi möchte sie berühren, doch etwas bevor ihre Hand die Statue berührt, spürt sie, wie eine Wärme von ihr ausgeht. Silvi ist etwas erschrocken und geht etwas zurück. Das Taxi kommt und Silvi läuft zu ihren Eltern. Der Fahrer ist ganz dunkelhäutig und hat ein freundliches Gesicht. Silvis Papa zeigt auf eine der Statuen.
„Kennari,“ sagt der Fahrer.
„Was ist eine Kennari?“, fragt Silvi ihn. „Nix verstehen“, antwortet der Fahrer und grinst sie an. Papa redet etwas auf Englisch mit ihm. Silvi versteht nur ein paarmal Kennari.
„Er sagt, das ist so etwas wie ein Schutzgeist hier“, erklärt Papa zum Schluss.
Das Taxi biegt von der Autobahn ab in Richtung Strand. Auf einem der hohen Gebäude am Stadtrand liest sie „Hotel“. Henry sagt auch Hotel, aber Silvi weiß, dass er gar nicht lesen kann.
Im Hotel ist es schön kühl. Der Boden wird überall von einem weichen roten Teppich bedeckt und an einem langen Tisch stehen gleich vier Empfangsdamen.
„Ich möchte gerne Biene Maya schauen“, sagt Silvi, als sie den Fernseher in ihrem Zimmer sieht.
„Aber Silvi“, sag Mama, „wir sind doch im Urlaub. Gleich nach dem Auspacken gehen wir zum Strand.“
„Ich mag wieder nach Hause“, sagt Silvi.
„Schau doch raus auf den Balkon“, antwortet Mama. Dort kannst du das Meer sehen.
Silvi geht raus und schaut nach unten. Ihr Zimmer ist weit oben und die Leute am Strand sind ganz winzig. Selbst die großen Palmen sehen aus wie Spielzeug.
Endlich sind die Eltern fertig mit dem Auspacken und gehen mit den Kindern an den Strand.
„Eis“, ruft Silvi. Sie hat das Schild über einer kleinen Hütte gelesen. „Krieg ich jetzt eines? Nur ein Kleines?“
„Nein. Und wenn du nicht sofort aufhörst zu jammern, kriegst du auch keine Cola“, sagt Papa. Silvi sieht wie viele Kinder zum Eisladen gehen und dort ein Eis kaufen.
Mama und Papa sind beide eingeschlafen. Henry gießt immer wieder Wasser über die Sandburg. Bald wird er sie weggeschwemmt haben. Silvi beschließt, sich selbst ein Eis zu kaufen. Der Eisverkäufer antwortet immer nur irgendetwas Unverständliches und schüttelt den Kopf. Dabei gibt ihm Silvi doch eine ganze Euromünze. Plötzlich steht ein fremder Mann hinter ihr.
„Möchtest du ein Eis?“, fragt er höflich. Er ist genauso hellhäutig wie sie.
„Bitte sehr.“
„Da hab ich aber Glück gehabt. Der Mann kauft mir jetzt ein Eis“, denkt Silvi.
„Ich hab Eis in meinem Auto. Komm mit“, sagt der fremde Mann.
Silvi wundert sich. Warum will er es denn aus seinem Auto holen?
„Ist nicht weit“, sagt er.
„Du kriegst ein ganz ein Großes. Ich habe es in meinem Kofferraum.“
Silvi rinnt das Wasser im Mund zusammen.
„Auch mit Erdbeergeschmack.“
„Ganz besonders mit Erdbeergeschmack.“ Er nimmt Silvi an der Hand.
„Wie heißt du denn?“ fragt er freundlich.
„Silvi“, sagt Silvi.
„Ich heiß Herbert“, sagt der fremde Mann. Seine Haare sind schon etwas grau und er trägt ein buntes Hemd.
„Wie weit ist es denn noch?“, fragt Silvi. Sie kann ihre Eltern gar nicht mehr sehen. Am großen Parkplatz ist niemand außer den beiden. Silvi dürfte eigentlich nicht einfach weggehen, doch wenn sie kein Eis kriegt, dann will sie ihren Eltern auch nicht folgen.
„So da sind wir.“ Der Mann macht den Kofferraum auf. Es ist ein altes rotes Auto und hat viele Kratzer. Silvi schaut neugierig in den Kofferraum, doch da ist ja gar nichts.
Bevor sie etwas sagen kann, packt sie der Mann von hinten und hebt sie in den Kofferraum. Silvi schreit, doch schon wird der Deckel zugemacht und sie schlägt sich den Kopf an. „Hilfe“, schreit sie. Im Kofferraum ist es völlig dunkel. Der Motor wird gestartet und das Auto und fährt los. Silvi weint zuerst. Dann trommelt sie mit den Füßen gegen den Deckel und schreit um Hilfe.
Das Auto fährt auf eine vielbefahrene Straße. Silvi klopft mit aller Kraft gegen den Kofferraumdeckel, doch niemand hört sie. Schließlich gibt sie auf und denkt nach.
Wenn der fremde Mann den Kofferraum aufmacht, wird sie ganz brav sein und so tun, als würde sie mitgehen. Wenn er aber nicht aufpasst, wird sie davonlaufen und jemand nach ihren Eltern fragen.
Das Auto fährt und fährt. Im Kofferraum wird es heiß. Silvi spürt Schweißperlen über ihre Stirn rinnen.
Das Auto fährt in eine Kurve. Dann rumpelt es über eine Schwelle und Silvi schlägt sich wieder den Kopf an. Am liebsten würde sie den fremden Mann verhauen, doch der ist viel größer uns stärker.
Der fremde Mann fährt zu schnell über eine Straße voller Schlaglöcher. Silvi muss sich festhalten, damit sie sich nicht dauernd ihren Kopf anschlägt.
Endlich steht das Auto still. Silvis Herz klopft laut. Sie hört eine fremde Stimme und dann die von Herbert, der sie entführt hat. Schritte kommen näher und dann geht die Kofferraumtür auf. Die Sonne blendet Silvi. Sie blinzelt.
„Komm heraus“, sagt Herbert. „Wenn du brav bist, bekommst du dein Eis. Okay?“
Seine Stimme klingt jetzt wieder ganz freundlich, doch Silvi weiß, dass er sich nur verstellt. Neben ihm steht ein olivfarbener Mann mit einem dünnen Oberlippenbart. Er mustert sie eindringlich und ist ihr noch unsympathischer als Herbert.
„Ich werde ganz brav sein“, lügt sie ihn an. Herbert nimmt sie an der Hand. Silvi schaut sich um. Sie sind vor einem einsamen Haus, das am Rande des Urwalds liegt. Ein mit grünen Ranken überwucherter Zaun umschließt das Haus. Der fremde Mann sagt wieder etwas in einer fremden Sprache und führt sie in das Haus. Silvi vermutet, dass ihm das Haus gehört.
Sie überlegt. Wenn sie im Haus ist, wird sie wahrscheinlich eingesperrt werden. Also besser jetzt weglaufen. Aber wie soll sie das machen?
Im hinteren Teil des Gartens kann sie so etwas wie eine Statue erkennen. Ganz sicher ist sie sich nicht, denn viele grüne Ranken mit weißen Blüten überwuchern das Gebilde.
„Darf ich im Garten spielen?“ fragt Silvi.
„Nein“, sagt Herbert. „Du kommst mit ins Haus.“
„Nur ganz kurz“, bittet Silvi.
„Nein. Du kommst mit.“
Herbert nimmt sie ganz fest an der Hand und schleift sie ins Haus.
„Aua“, schreit Silvi, doch Herbert hält sie weiterhin so fest, dass ihr Arm schmerzt.
Im Haus ist es dunkel, und es riecht ganz komisch. Über eine knarrende Holztreppe zieht Herbert Silvi nach oben. Der fremde Mann ist hinter ihr.
Herbert öffnet die Tür zu einem Zimmer und stößt Silvi hinein. Vor dem Fenster sind geschlossene Fensterläden, durch deren schmale Ritzen nur kleine Sonnenstreifen hereinfallen. Sie erhellen ein durchhängendes Bett und einen Kasten mit abblätternder blauer Farbe.
„Du bleibst hier“, befiehlt Herbert und sperrt hinter Silvi die Türe zu.
Silvi beginnt zu weinen, obwohl sie sich vorgenommen hat, ruhig zu bleiben.
Schließlich beruhigt sie sich und geht zum Fenster. Durch die Fensterläden sieht sie die Rückseite des Gartens. Von hier aus kann sie erkennen, dass der Zaun an mehreren Stellen umgefallen ist. Silvi überlegt angestrengt. Sie rüttelt vorsichtig an den Fensterläden. Die sind jedoch fest verschlossen. Mit aller Kraft stemmt sie sich dagegen, doch irgendetwas hält die Flügel fest. Schließlich bemerkt sie einen Haken und löst in. Die Fensterflügel gehen auf und Licht fällt in den Raum. Silvi schaut zum Fenster hinaus. Wenn sie von da unten zum Wald liefe, dann könnte sie dort in einem weiten Bogen zur Straße auf der Vorderseite kommen.
Zum Runterspringen ist es viel zu hoch. Ihr Blick fällt auf das Bett und sofort hat sie eine Idee. Sie reißt das Leintuch und den Deckenüberzug herunter und knüpft sie zusammen. Leider wird der improvisierte Strick nicht bis nach unten reichen. Sie sucht verzweifelt nach einem Messer oder einer Schere, um die Laken auseinander zu schneiden. Schlussendlich findet sie einen Nagel am Fensterbrett. Mit dem schafft sie es, die Laken anzuritzen und dann auseinander zu reißen. Es ist heiß und die Arbeit treibt Silvi die Schweißperlen aufs Gesicht. Ihr Leibchen ist völlig durchgeschwitzt, als sie endlich fertig ist. Da hört sie auf der Vorderseite des Hauses ein Auto vorfahren. Schnell verknotet sie das Ende der Leintücher um einen Fensterladen und wirft den Rest hinunter. Das improvisierte Seil reicht bis zum Boden. Das Hinunterklettern ist gar nicht schwerer wie das Seilklettern im Turnsaal in der Schule.
Grinsend landet sie im hohen Gras und beginnt in Richtung der überwucherten Statue zu laufen. Da ertönt über ihr ein Schrei. Herbert steht am Fenster und deutet auf sie.
Silvi rennt so schnell sie kann, doch zwei andere Männer kommen schon von der Vorderseite des Hauses hinter ihr her. Die fremden Männer sind viel schneller als sie. Silvi ist erst bei der Statue, als sie eine Hand am Leibchen erwischt. Silvi versucht sich verzweifelt an den Ranken der Statue festzuhalten und reißt dabei die Pflanze von der Statue. Es ist eine Kennari, genau wie am Flughafen. Das Gold der Statue ist überzogen von Moos und Algen. Silvi spürt so etwas wie einen Schlag auf ihre Finger. Es sieht aus, als ob die die Statue ihre Augen aufmacht. Silvi wird unsanft hochgehoben und in Richtung haus getragen.
„Hilfe“, schreit Silvi und strampelt. Der Mann, der sie festhält, stinkt nach Schweiß und nach scharfen Gewürzen. Silvi kann vor lauter Tränen gar nichts richtig erkennen. Plötzlich bewegt sich hinter ihr die Statue und kommt auf die Männer zu. Ehe Silvi reagieren kann, schlägt sie dem Mann, der sie festhält auf den Kopf. Der lässt sie fallen und die Statue gibt ihm eine Ohrfeige, dass er umfällt. Silvi starrt sie mit offenem Mund an. Es ist eine Kennari, die vor ihr steht und in einer fremden Sprache auf die Männer einredet. Feine goldene Federn bedecken ihre Brust. Der zweite Fremde versucht davon zu laufen, doch die Kennari springt hoch, schlägt mit ihren Flügeln und fängt ihn ein. Wie einen kleinen Hund hält sie ihn in ihrer Hand. Und geht damit zu Herbert und den Hausherren. Herbert steht wie versteinert da, während sich der Hausherr gleich zu Boden wirft und sie wohl um Entschuldigung bittet. Die Kennari schreit ihn an. Herbert sagt auch etwas, doch der bekommt gleich eine Ohrfeige und dann ist er still und hört der Kennari zu. Am Ende zeigt die Kennari den Männern ihre Krallen. Schließlich begleitet sie alle vier Männer zu ihren Autos und schickt sie weg.
Elegant springt die Kennari dann mit einem Zehnmetersatz zu Silvi.
Silvi schaut in ein freundliches Gesicht mit schrägen Augen und langen Ohren. Die Kennari hat ganz glatte, bronzefarbene Haut. Ihr Flügel hat sie hinter sich zusammengefaltet und sie bewegt sich auf dicken Greifvogelfüßen.
„Silvi, da hast du aber Glück gehabt, dass ich aufgewacht bin“, sagt sie mit einer warmen Stimme.
Silvi nickt furchtsam. Die Finger der Kennari sind lang und enden in spitzen Krallen.
„Ich möchte wieder zu Mama und Papa“, stottert Silvi.
Die Kennari nickt. „Du musst mir aber zeigen, wo deine Eltern sind.“
„Es ist ein Hotel an der Küste.“
Die Kennari nimmt Silvi in ihre starken Hände und hebt mit ihr ab. Hoch oben erkennt Silvi den Strand. Dort fliegen sie hin und zum Glück weiß Silvi, wie das Hotel aussieht. Hinter einer Baumgruppe setzt sie die Kennari ab.
„Jetzt musst du alleine weitergehen. Ich bin aber bei dir und passe auf dich auf so lange du da bist.“
Ehe Silvi etwas sagen kann, wird die Kennari immer durchsichtiger und ist dann nicht mehr zu erkennen.
„Danke“, sagt Silvi und sucht verzweifelt die Kennari.
„Auf Wiedersehen“, ertönt es über ihr und dann hört sie ein leiser werdendes Flügelrauschen. Silvi rennt zum Hotel. Sie ist überglücklich. Die Rezeptionistin spricht deutsch und schon kurze Zeit später ist Silvi wieder bei ihren Eltern.
Die glauben ihr natürlich nicht, dass sie entführt wurde und das eine Kennari sie gerettet hatte. Zur Strafe darf sie die ganze Woche keine Cola trinken.
Zuerst ist Silvi ganz traurig, doch dann hört sie ein leises Rauschen von Flügeln über ihr. Die Kennari ist irgendwo da oben und passt auf.