Die Kauorgie
Thomas kaute gerne an seinen Fingernägeln. Er konnte es kaum erwarten, das neues Kaumaterial nachwuchs. Sein Bedarf wurde mit der Zeit immer größer. Er schmeckte sein Eigenmaterial auf allen Geschmacksnerven seiner Zunge und bewertete es als lukullischen Hochgenuß. Wäre er ein Chemiker, hätte er gerne die Formel seiner Haut erforscht und je nach Bedarf produziert. Der Gedanke erinnerte ihn an „Das Parfüm“. Erschrocken ließ er von der Idee ab.
Thomas analysierte sich oft in stundenlangen Therapien selber. Sein permanentes Nägelkauen interpretierte er mit einer fehlenden Portion Selbstwertgefühl. Allein für diese Erkenntnis hatte er an seinem Arbeitsplatz mindestens 10 Tagessätze und 1 Gramm Nagelhaut benötigt.
Er kaufte sich ein kleines Heft, das er in die Hosentasche packen konnte, und führte Tagebuch über sein Kauverhalten. Zuallererst schrieb er Datum und Zeit auf. Dann wurden Örtlichkeit, anwesende Personen, eventuelle Gesprächsthemen aufgeschrieben. Thomas holte sich zur Verfeinerung seiner Analyse einen Pulsmesser. So konnte er jede Nagelkauaktion schriftlich festhalten und eine Statistik führen.
Sein Verhältnis zu Frauen war sonderbar. Viele Männer ließen sich von Oberweite, Schmollippen, Kulleraugen oder elastischen Pos beeindrucken. Thomas` neue Freundin besaß keine Lippenstifte, weil ihre Lippen rudimentär waren. Ihre Augen wurden durch eine Brille verdeckt. Ihre Pobacken und Brüste waren Freunde der Schwerkraft.
Daher konnten Thomas Freunde auch nicht verstehen, wie er mit Johanna zusammenkam. Die erste Begegnung mit seiner großen Liebe war in einem Drogeriemarkt. Johanna stand vor den Regalen der Nagelpflegeprodukte. Thomas wollte sich Kieselerde zum schnelleren Wuchs seiner Nägel kaufen. Als er nägelkauend die Wahl zwischen zwei Produkten treffen musste, schaute er wie vom Schicksal geleitet direkt zu Johanna. Sein Pulsmesser schlug aus. Thomas schrieb sich die Daten auf und ging zielgerichtet auf Johanna zu.
„Lass uns Nägel mit Köpfen machen“, sagte er mit bebender Stimme. Johanna blickte auf und ihre Augen wurden beinahe so groß wie Kulleraugen. Ihre Hände waren gepflegt und mit frischer, zarter Nagelhaut versehen. Erregt von seinem Objekt der Begierde, küsste er ihre Hände ab. Nach dreiminütiger Leidenschaft vor den Regalen der Nagelpflege, gingen sie händchenhaltend an die Kasse. Thomas bezahlte ihre Produkte mit.
Johanna hatte noch nie Sex. Thomas hatte noch nie fremde Nagelhaut probiert. Und beide hatten sie Angst vor dem ersten Mal. Sie verbrachten viel Zeit damit, sich gegenseitig zu betrachten. Thomas schaute auf ihre Hände und Johanna`s Blick fixierte sich unter seine Gürtellinie.
Dreizehn Tage waren seit der Begegnung im Drogeriemarkt vergangen, als es passierte. Johanna saß auf der Couch und pfeilte ihre Nägel. Thomas schluckte in der Küche eine Kieselerde-Kapsel und ging danach ins Wohnzimmer. Er verharrte an der Tür. Er besaß selber keine Nagelpfeile. Wofür auch? Fasziniert und erregt von ihrem Anblick, näherte er sich ihr. Johanna blickte verwundert auf.
Nach neun Minuten wusste Thomas, dass fremde Nagelhaut nicht so gut wie die eigene schmeckt. Und Johanna fand, dass sich unter der Gürtellinie weniger abspielte als erhofft. Sie blieben trotzdem zusammen, da sie gemeinsam Lotto spielten, sie seinen Ofen aus dem Koma wiedererweckte, und er ihr zum Geburtstag einen Gutschein für Kontaktlinsen schenkte.
[ 23.05.2002, 10:36: Beitrag editiert von: AZAD ]