Was ist neu

Die Kauorgie

Mitglied
Beitritt
14.05.2002
Beiträge
49

Die Kauorgie

Thomas kaute gerne an seinen Fingernägeln. Er konnte es kaum erwarten, das neues Kaumaterial nachwuchs. Sein Bedarf wurde mit der Zeit immer größer. Er schmeckte sein Eigenmaterial auf allen Geschmacksnerven seiner Zunge und bewertete es als lukullischen Hochgenuß. Wäre er ein Chemiker, hätte er gerne die Formel seiner Haut erforscht und je nach Bedarf produziert. Der Gedanke erinnerte ihn an „Das Parfüm“. Erschrocken ließ er von der Idee ab.

Thomas analysierte sich oft in stundenlangen Therapien selber. Sein permanentes Nägelkauen interpretierte er mit einer fehlenden Portion Selbstwertgefühl. Allein für diese Erkenntnis hatte er an seinem Arbeitsplatz mindestens 10 Tagessätze und 1 Gramm Nagelhaut benötigt.

Er kaufte sich ein kleines Heft, das er in die Hosentasche packen konnte, und führte Tagebuch über sein Kauverhalten. Zuallererst schrieb er Datum und Zeit auf. Dann wurden Örtlichkeit, anwesende Personen, eventuelle Gesprächsthemen aufgeschrieben. Thomas holte sich zur Verfeinerung seiner Analyse einen Pulsmesser. So konnte er jede Nagelkauaktion schriftlich festhalten und eine Statistik führen.

Sein Verhältnis zu Frauen war sonderbar. Viele Männer ließen sich von Oberweite, Schmollippen, Kulleraugen oder elastischen Pos beeindrucken. Thomas` neue Freundin besaß keine Lippenstifte, weil ihre Lippen rudimentär waren. Ihre Augen wurden durch eine Brille verdeckt. Ihre Pobacken und Brüste waren Freunde der Schwerkraft.

Daher konnten Thomas Freunde auch nicht verstehen, wie er mit Johanna zusammenkam. Die erste Begegnung mit seiner großen Liebe war in einem Drogeriemarkt. Johanna stand vor den Regalen der Nagelpflegeprodukte. Thomas wollte sich Kieselerde zum schnelleren Wuchs seiner Nägel kaufen. Als er nägelkauend die Wahl zwischen zwei Produkten treffen musste, schaute er wie vom Schicksal geleitet direkt zu Johanna. Sein Pulsmesser schlug aus. Thomas schrieb sich die Daten auf und ging zielgerichtet auf Johanna zu.

„Lass uns Nägel mit Köpfen machen“, sagte er mit bebender Stimme. Johanna blickte auf und ihre Augen wurden beinahe so groß wie Kulleraugen. Ihre Hände waren gepflegt und mit frischer, zarter Nagelhaut versehen. Erregt von seinem Objekt der Begierde, küsste er ihre Hände ab. Nach dreiminütiger Leidenschaft vor den Regalen der Nagelpflege, gingen sie händchenhaltend an die Kasse. Thomas bezahlte ihre Produkte mit.

Johanna hatte noch nie Sex. Thomas hatte noch nie fremde Nagelhaut probiert. Und beide hatten sie Angst vor dem ersten Mal. Sie verbrachten viel Zeit damit, sich gegenseitig zu betrachten. Thomas schaute auf ihre Hände und Johanna`s Blick fixierte sich unter seine Gürtellinie.

Dreizehn Tage waren seit der Begegnung im Drogeriemarkt vergangen, als es passierte. Johanna saß auf der Couch und pfeilte ihre Nägel. Thomas schluckte in der Küche eine Kieselerde-Kapsel und ging danach ins Wohnzimmer. Er verharrte an der Tür. Er besaß selber keine Nagelpfeile. Wofür auch? Fasziniert und erregt von ihrem Anblick, näherte er sich ihr. Johanna blickte verwundert auf.

Nach neun Minuten wusste Thomas, dass fremde Nagelhaut nicht so gut wie die eigene schmeckt. Und Johanna fand, dass sich unter der Gürtellinie weniger abspielte als erhofft. Sie blieben trotzdem zusammen, da sie gemeinsam Lotto spielten, sie seinen Ofen aus dem Koma wiedererweckte, und er ihr zum Geburtstag einen Gutschein für Kontaktlinsen schenkte.

[ 23.05.2002, 10:36: Beitrag editiert von: AZAD ]

 

Musste schon ein paar mal schmunzeln.
Insgesamt finde ich die Geschichte recht gelungen.

Ihre Pobacken und Brüste waren Freunde der Schwerkraft.
Den Satz merke ich mir. Freunde der Sonne äh... Schwerkraft.

Thomas neue Freundin besaß keine Lippenstifte,
Schreib besser: "Thomas'..." Ansonsten kommt man ins Stocken.

 

Also ich finde die Geschichte ebenfalls sehr gelungen und auch witzig, ich meine aber die Geschichte ist auch satirisch angehaucht. Trotzdem passt sie wohl besser hier rein.
Du konntest Witz erzeugen und obwohl sich alles immer wieder um das eine Thema gedreht hat ist die FRische und Vitalität, die zum Weiterlesen anspornt, nicht verlorengegangen.
Ein gutes Werk. :thumbsup:
:)

 

Ich muss mich den anderen widerspruchslos anschließen.
Die schönste Liebesgeschichte seit Graf und Agasi und ungefär genau so lustig. :D
Nein Spass beiseite, die Geschichte hat mir echt gefallen. :thumbsup:

 

Schöne Geschichte! :thumbsup: Könnte ruhig sehr viel länger sein. Wirklich schade, dass es so kurz ist. Alles ist so flüssig erzählt und man gewöhnt sich an die Personen - und dann isses ausch... :heul:

Ob es allerdings in Humor passt... :confused:
Titel find ich auch nicht so dolle.

Korrektur:
"Er kaufte sich ein kleines Heft, DASS er in die Hosentasche packen konnte"
DAS

[ 22.05.2002, 03:25: Beitrag editiert von: hexachord ]

 

Hallo Freunde der Schwerkraft,
es ist schon erstaunlich, wie sehr man sich doch hier über Feedback freut. Ich kenne Euch zwar nicht, aber dennoch lese ich Eure Anmerkungen, voller Erwartungen, beinahe wie einen Liebesbrief ;-)

Danke Euch für die Korrekturanmerkungen und Kritik.

@hexachord
Du hast mich erwischt! Der Titel einer Story ist ja beinahe vergleichbar mit der menschlichen Hülle. Entweder verspricht se was auch drin ist, oder man sieht was dahinter steckt und ist enttäuscht. Und die Überschrift, die ich für diese kleine Geschichte ausgesucht habe, verspricht mehr, oder was anderes, als dahinter steckt...beinahe wie ein Push-up. Ich gebe zu, daß ich mit der Überschrift auch nicht zufrieden war. Und das merkt der Leser dann auch...werde ich mir merken.

Bei der Länge von Kurzgeschichten mache ich es mir noch schwer. Ich habe noch kein Gefühl dafür, wann die Story zu langatmig wird und den Leser langweilen könnte. Vielleicht probiere ich es bei der nächsten Story mit einem längeren Text.

Soviel von hier nach da. Gruß uss Kölle. Melani

:peitsch: <= übrigens ist das mein Lieblingssmilie

 

Zur Länge Deiner Kurzgeschichten möchte ich nur anmerken, daß es schon fast erleichternd ist, wie knapp und präzise Du Dich ausdrückst, ohne etwas vermissen zu lassen! Ich habe jetzt alle von Dir gelesen und bin sehr angetan.

Gruß

Hexenmeister

 

hi hexenmeister,
auch ich habe Deine Geschichten gelesen, gefallen mir von Deinem Schreibstil her. Bin gespannt auf die nächste Story...mal sehen nach was die schmecken wird ;-)
gruß, AZAD

 

Not bad man, not bad.
Diese Story ließ mich über mich selbst reflektieren...
So wie besagter Protagonist leide ich ebenfalls unter
chronischem Nägelkauen. Doch jetzt, wo AZAD mir die
katastrophalen Auswirkungen dieser Krankheit
aufgezeigt hat, geht es mir wieder besser...

Schön flüssig und sehr witzig.

cU, SkyLAX

 

SkyLAX,
da bin ich ja froh, dass ich zumindest einem Leser die augen für diese Problematik geöffnet habe. Vielleicht habe ich ja damit dein Leben gerettet. ok ok.....ich hör ma lieber auf und kaue och ma weiter annen nägeln.
Gruß, AZAD

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom