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Die Katze
Erwin ist im Labor. Er sieht infernalische Bilder. Fliegende Geschosse, ein wahres Bombardement. Wo sie auftreffen entstehen grelle Lichtblitze. Treffer! Wieder einer! Aber dann tritt eine gespenstische Stille ein. Die Nukleonen belauern sich, misstrauisch beobachten die Elektronen das lautlose Ringen. Das ist der Nullpunkt, ab jetzt gilt es! Quälend schleichen sich die Sekunden die Abszisse entlang. Und die Quanten sind in Position, doch keines springt. Sie bewegen sich nur mit wellenmechanischer Geschmeidigkeit.
Die Zeit beschließt, nur noch in Millisekunden voranzugehen. Sie ist allmächtig und unendlich. Und siegessicher, weil ihr die Wahrscheinlichkeit irgendwann in die Falle gehen wird, mit tödlicher Sicherheit.
Die Katze ist wohlgenährt und guter Dinge. Sie kennt den Käfig und weiß, dass sie bald wieder hinaus kann. Dann gibt es lecker Labormäuse zu fangen. Ihre rosa Zunge leckt genießerisch über ihr Schnäuzchen.
Auf dem Käfig hockt grinsend die Wahrscheinlichkeit. Sie ist gottgleich, das gefällt ihr. Die Menschen streiten sich, sollen sie. Es gibt viele Bilder, Gott mit und ohne Würfelbecher – ein Streit zwischen Werner und Albert, das ficht die Wahrscheinlichkeit nicht an. Sollen die Menschen glauben, woran sie wollen. Sie, die Wahrscheinlichkeit, entscheidet über Leben und Tod, niemand sonst. Liebevoll schaut sie auf ihr verwirrendes Kleid, das Fermat und Pascal entworfen haben.
Erwin reibt seine vor Übermüdung geschwollenen Augen. Er starrt auf die Ordinate, aber es ist nichts zu erkennen. ’Ja, y = f(x)’, denkt er, aber bei x ist nichts. So sieht er nur etwas Verschwommenes, das weder lebt noch tot ist, also nichts, was einen logischen Sinn ergibt. Aber y kann nicht Funktion von Nichts sein. Also weiter warten, bis die Halbwertzeit vorbei ist.
Erwin überprüft die Höllenmaschine, die von gnadenloser Logik ist. Das Radium ist bereit, den Impuls im Geigerschen Zählrohr hervorzurufen. Die einfache elektrische Schaltung wird dann das Relais auslösen. Das Relais wird den Elektromagneten spannungsfrei schalten. Die allgegenwärtige Schwerkraft lässt den Hammer nach unten sausen, direkt auf die Flasche mit dem HCN. Das Glas splittert, die Blausäure strömt durch die Öffnung in den Käfig mit der Katze. Dann wird die Katze sterben, dann und nur dann. Erwin ist zufrieden, die Versuchsanordnung ist perfekt.
Leidenschaftslos sieht die Wahrscheinlichkeit zur Zeit hinüber. Sie weiß, dass sie keine Chance hat gegen sie, auch wenn sie den Moment genossen hatte, als sie sich gottgleich dünkte. Sie ist bereit, sich der Unendlichkeit zu unterwerfen. Warum noch länger warten? Sie kann auch gleich Gott spielen, so beschließt sie für sich. Sie schlüpft zwischen die Nukleonen und fordert sie auf zu wildem Tanz. Nun gilt es ganz, ausgeschlossen wird jede Halbheit. Halb lebend und halb tot zur gleichen Zeit ist Hirngespinst. So geht es nun ans Sterben.
Das Koordinatensystem droht vor Erwins Augen zu verschwimmen, doch nun ist die Halbwertzeit gleich vorbei, und plötzlich, in diesem Moment, hört er das Poltern. Der Hammer fällt, das Glas birst, die Säure strömt aus. Der Tod der Katze kommt schnell, sie hat kaum Zeit für ein ’Mauz’. Und die Ordinate strahlt ihn an mit dem Symbol des Todes, den gekreuzten Knochen über fleischlosem Gesicht. Die Funktion bekommt einen Wert; erlösend der Augenblick!
Fritz, der Assistent, klopft leise an die Labortür. Als keine Antwort kommt, öffnet er sie behutsam und schmunzelt. Da sitzt der Professor, erschöpft und überarbeitet, auf seinem Stuhl. Sein Körper ist nach vorn geneigt, der Kopf liegt auf dem Tisch ... und leise Schnarchtöne breiten sich ungebührlich in der Stille aus. Fritz räuspert sich vernehmlich, und als der andere hochschreckt sagt er: „Herr Professor Schrödinger, die Studenten warten schon im Hörsaal“.
Der Professor erhebt sich und sagt: „Danke Fritz, ich bin gleich da“. Erleichtert denkt er: „So müsste es gehen, als Gedankenexperiment. Lassen wir die Katze am Leben!“.