Die Katze schlägt nach den Gesichtern.
"Marc, Du bist total krank im Kopf", hatte gestern noch jemand zu ihm gesagt. Krank im Kopf. Was soll das denn bedeuten? Ein bisschen zuviel kiffen. Ein bisschen zuviele Depressionen. Bist Du normal? Nö. Also krank. Als er die Tür zu dem Raum wo das Meeting der "Anonymen Abnormalen" stattfinden sollte öffnete, bot sich ihm ein sonderbares Bild. Eine komische Gruppe sitzt in Sesselreihen nebeneinander. Alle haben einen gütigen, milden Gesichtsausdruck auf den Lippen. Sie begrüssen den Sesselkreis vor sich, wo die neuen Abnormalen sitzen und sich vorstellen. Marc steht auf. "Hi, ich bin Marc. Ich bin nicht normal.", quetscht er hervor. "Hallo Marc!" ruft die Gruppe im Chor, "Wir sind nicht normal!" Er sieht beim reden auf den Boden. Und hofft, dass die Aufmerksamkeit nun von ihm abfällt und jemand anderer sich ins Schussfeld begibt. Eine junge Frau erhebt sich aus ihrem Sessel. "Hallo. Ich bin Nicki. Und ich bin nicht normal.", sagt sie, bevor sich sich wieder niederlässt. "Hallo Nicki! Wir sind nicht normal!", ruft ihr die Gruppe lächelnd und aufmunternd entgegen. Marc rutscht auf dem Stuhl hin und her. Es macht den Eindruck als würde er ihn unbequem finden. Vielleicht, fühlt er sich aber der ganzen Situation hier nicht gewachsen. Er bückt sich und zieht die Hose über den Schuh. Und macht so, als ob der Schnürsenkel auf wäre damit er was zu tun hat. Nicki kramt umständlich in ihrer Hosentasche. Auch sie fühlt sich unwohl. Die Blicke die sie verfolgen spürt sie wie harte Nadelstiche auf ihrem ganzen Körper. Sie fühlt sich beobachtet. Wird es wahrscheinlich auch. Endlich zieht sie ein verknülltes altes Taschentuch hervor in das sie ihre Nase steckt. Sie pustet und schaubt mit aller Kraft, so, als ob es nun aussähe, dass sie davon den roten Kopf bekommen hätte. Am Liebsten würde sie sich ein Loch schaufeln und absinken. Wie peinlich ist das hier alles. "Das ist doch nicht normal", denkt sie. Und damit hat sie wohl ausnahmsweise Recht.
Marc kramt nun ebenfalls in der Hosentasche und macht ein verblüfftes Gesicht, weil er das, was nicht in der Hose ist, nicht findet. "Soll ich Dir suchen helfen, Marc?", ruft Nicki zu ihm rüber, "Ich bin sehr sozial, musst Du wissen." "Vor der Gruppe?", fragt er ein wenig verblüfft. "Warum nicht? Das wäre zumindest nicht normal.", lächelt sie ihm entgegen. "Geht dann die Leiterin nicht dazwischen?", ist Marc verunsichert. "Ist die denn normal?", gibt Nicki die Frage zurück. "Die ist extremst gestört", hört Marc sich sagen "sonst wäre sie nicht die Leiterin hier." "Lasst euren Intuitionen freien Lauf", hören beide aus der hinteren Ecke des Raumes, "und euren Emotionen. Hier ist alles erlaubt.", ermuntert sie die beiden, fortzufahren. Nicki steht auf und kniet sich vor Marc. Seine Beine zittern. Sie kann es genau sehen. Ihre Hand gleitet in seine Hosentasche, kramt darin und zieht ein Ding nach dem anderen heraus. All das, was Marc so verzweifelt suchte, nicht in der Hose war und nicht fand. Sie hält den ersten Gegenstand hoch, so, dass ihn jeder der Gruppe gut sehen kann. "Normalität", ruft sie, und wirft sie mit einem Schwung in die nächstgelegene Ecke. Sie kramt weiter und zieht wieder etwas heraus. "Mut", stellt sie nüchtern fest, und wirft ihn über ihre rechte Schulter. Beinahe hätte sie den kleinen Dicken mit den Pickeln in der ersten Reihe getroffen. Von Mut erschlagen. Das hätte doch etwas, denkt sie und kramt weiter. Bei dem nächsten Ding muss sie sich etwas anstrengen, es hat sich mit anderen Gegenständen verstrickt. Als sie es endlich freibekam, zog sie es mit einem großen Ruck heraus. "Die Hoffnung war ganz schön festgeklebt", meint sie und legt sie auf den Boden, genau unter Marc`s Sessel. Unter der Hoffnung lag die Illusion, die ganz einfach und leicht herauszunehmen war. Klein, rund und handlich. Hätte in jede Babyfaust gepasst. Sicherlich geschrumpft. So kleine Illusionen hat niemand, analysiert sie skeptisch. Nicki`s Aufmerksamkeit legte sich nun auf die zweite Hosentasche, die ausgebeult ihrem Gesicht entgegen lugte. Mit beiden Händen fasst sie hinein und zieht an dem großen, schweren Ding, dass sich fast nicht bewegen lässt. Mit aller Kraft zerrt sie und Marc fällt dabei beinahe vom Sessel. "Ich hab es!" ruft sie, und hält mit beiden Händen die "Liebe" hoch. Ein schleimiger glanzloser Klumpen. Beinahe ekelt ihr. Allein bei dem Gedanken die Liebe in Händen zu halten und nun mächtig über ihr Schicksal zu sein. Mit einem Platsch lässt sie sie auf den Boden fallen und hüpft mit beiden Beinen wie besinnungslos darauf herum. "Du bist doch nicht normal", sagt Marc zu ihr. "Aber Du riechst gut."