Die Kammer
Die Kammer
Nachdem eine Weile vergangen war, hörte ich auf, die Wand vor mir anzustarren. Ich neigte meinen Kopf ein wenig nach links und plötzlich tauchten vor meinen Augen die unterschiedlichsten Dinge auf. Je weiter ich meinen Kopf nach links drehte, je mehr meine Augen von der Kammer wahrnahmen, desto absurder schien mir das, was sich in diesem Abstellraum befand. Besonders grell stachen mir zunächst die vielen geometrischen Formen an der Wand ins Auge. Ich begann mich zu fragen, wie ich diese höchst grellen und extravaganten Objekte so lange übersehen konnte. In meiner sturen Tätigkeit, die ich scheinbar Stunden ausgeübt hatte, muss ich es geschafft haben, nicht ein einziges Mal meinen Kopf nach links zu neigen, keinen Blick auf die vielen Dinge am Rande meines peripheren Sichtfelds zu erhaschen.
Dabei war es so einfach, jetzt, wo es einmal passiert war. Vollkommen leichtfertig betastete ich die Sehenswürdigkeiten mit meinen Augen, dann aus der Ferne mit meinen Händen. Die Textur, die ich fühlte, war gestochen scharf. Nicht unangenehm, nein. Ich genoss es wie eine gute Delikatesse, diese Abwechslung zu dem stumpfen Grau welches meine Augen die vorherige Ewigkeit hatten speisen müssen. Es war ein neuer Teil der Welt, von dem ich mir nun sicher war dass es ihn immer schon gegeben hatte, während meine Gedanken mir sagten, dass es keine Möglichkeit geben konnte in meiner vorherigen Lage jemals auch nur zu erahnen was sich außerhalb meiner direkten Wahrnehmung abspielte.
Ich muss zufrieden gewesen sein, mit meiner grauen Wand und meinem bequemen Sitz. Warum hätte ich sonst meinen Kopf so lange nicht gewendet? War das denn zu dieser Zeit alles genug für mich? Das Tier, das durstig ist, begibt sich auf die Suche nach dem Wasserloch. Ist es nicht durstig, so bleibt es dort liegen wo es ist und sonnt sich. War ich nicht durstig gewesen?
Nein, ich muss zu schwach gewesen sein um nach dem Wasserloch zu suchen. Ich wusste das, denn mit einer so geringen Wendung meines Kopfes merkte ich bereits wie die Formen und Farben vor mir begannen, mich zu tränken, und ein Durst von dem ich nicht auch nur den Hauch einer Ahnung hatte, dass er existierte, begann zu schwinden.
Meine Blicke rannen förmlich über die gebirgige Fläche vor mir. Und es bereitete mir eine gute Zeit lang Freude, wie schnell sie rannten, und mit welcher Leichtigkeit und Ausdauer. Aber trotz allem war da etwas in mir, eine Stimme, ein Drang, etwas das mir zurief dass ich hier nicht verweilen sollte. Wenn ich im langen Grau nicht gemerkt hatte, dass mir die Formen fehlten, sollte es nicht auch möglich sein, dass ich in den Formen nicht wusste was weiterhin möglich war? Und wenn ich den nächsten Schritt getan hatte, wäre ich dann nicht auch zufriedener als ich es jetzt war?
Ich musste meinen Kopf weiter neigen, um es herauszufinden. Nur wie, wie hatte ich es getan? Wie hatte es begonnen, was hatte mich dazu bewegt, genug von dem Grauen zu haben? Ich brauchte Energie, ich brauchte Antrieb. Und plötzlich waren mir die Formen nicht mehr gut genug, sie verblassten und waren ganz gewöhnlich. Es schien mir wie ein komplexes Rätsel, dessen Lösung ich nicht greifen konnte, wie sollte ich mich weiter neigen? Wenn ich es nicht schaffte, würde ich vielleicht im Grau verweilen bis an das Ende?
Aber was machte es aus, wenn doch ohnehin die Möglichkeit zu bestehen schien, dass mir jeder Teil des Raum von dem einen auf den anderen Moment verblassen konnte? Wenn der letzte Winkel der Kammer beim ersten Anblick das ekstatischste Gefühl in mir auftat, aber nach kurzer Zeit doch wieder nur war wie die graue, stumpfe Wand, wo war der Sinn und Zweck darin sich zu bemühen, sich weiter nach links zu drehen? Der eine oder andere Mensch von dem man erfuhr, schien in seiner Kammer nach außen hin ganz zufriedengestellt zu sein. Hatte er einen Winkel gefunden, der ewig strahlte und dessen Farben für immer leuchteten? Oder machte es am Ende gar keinen Unterschied welchen Winkel man gerade betrachtete, solange man ihn mit den richtigen Augen ansah? Konnte die graue, stumpfe Wand mit der richtigen Perspektive ähnlich leuchten wie der letzte, mir unbekannte Winkel?
Wenn es meine Augen waren, die mir die Winkel verdarben, wo bestand dann für mich der Sinn, mich mühsam weiter zu drehen? War das Wenden nicht für jeden das Richtige? Beging ich einen Fehler, der mich nicht entlohnen würde? Betrat ich einen Irrpfad, dessen einziger Erkenntnisgewinn derjenige war, dass ich den Weg umsonst zurückgelegt hatte?