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Die kalte Zeit

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Vessel

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Die kalte Zeit

Am Morgen war ein junges Mädchen aus dem fünften Stock des Nachbarhauses in den Tod gestürzt. Julia und ich standen lange am Fenster und sahen zu, wie die Menschen versuchten zu helfen. Ich lud sie ein, mit mir am Abend auszugehen. Es gäbe hier ein gutes Fischrestaurant, sagte sie.
Ich arbeitete seit einigen Wochen in Tromsö. Gekommen war ich mit dem Zug aus Oslo. Die Landschaft erschien mir dabei nicht viel anders als daheim in der Schweiz und ich langweilte mich. Eigentlich hatte ich von Oslo einen Flug buchen wollen, doch meine Freunde daheim hatten mich zum Zugfahren überredet; Norwegen sei zu schön, um drüber zu fliegen. Ich werde ein ganzes Jahr dort sein, hatte ich gesagt und fuhr dann doch Zug. In Tromsö führte man mich durch die Büros und wies mir meinen Platz zu. Morgens kam ich früh und blieb bis spät abends. Ich fand keinen Anschluss an meine Kollegen. Nachts hörte ich oft Musik aus einer Bar in der Nähe, war aber zu müde um noch etwas zu unternehmen. Oder ich hatte Arbeit mit nach hause genommen und saß am Schreibtisch bis ich einschlief.
Julia war Schwedin. Sie war klein und hatte kurzes, dunkles Haar. Wir waren über das Mädchen ins Gespräch gekommen. Ich sagte, vielleicht sei es Mord gewesen und sie hatte gelacht. Schuld sei das strenge Schulsystem, sagte sie, und die ständige Dunkelheit.

Das Restaurant lag an einer stark befahrenen Hauptstraße. Als ich aus dem Bus stieg, wartete Julia schon.
„Ich hoffe, es gefällt dir“, sagte sie.
Der Raum war modern eingerichtet, Fotografien von Tiefseefischen mit bunten Farbfiltern hingen an den Wänden. Viele Tische waren besetzt, wir fanden Platz in einer Ecke. Die Stühle waren unbequem. Julia bestellte etwas, von dem ich vorher nicht gehört hatte. Ich nahm das Tagesgericht.
„Ich kenne mich mit Fisch nicht aus“, sagte ich.
Julia lachte: „Über Fisch wirst du viel lernen, wenn du hier lebst.“
Ich sah durch die Scheiben des Restaurants, es hatte angefangen zu schneien.
„Die Winter sind lang“, sagte Julia als sie meinen Blick bemerkte. „Manchmal verschwindet jemand auf dem Land. Man sucht, aber findet nichts. Der ist in den Schnee gegangen, heißt es dann.“
„Was meinst du?“ fragte ich.
„Man gewöhnt sich nicht daran.“
Das Leben sei seltsam hier, sagte ich und Julia sagte, es sei überall gleich. „Bloß die Menschen sind andere.“
„Ich habe die Stelle angenommen, ohne dass ich mir etwas unter Norwegen vorstellen konnte.“
„Norwegen ist schön, aber ich habe fast mein ganzes Leben hier verbracht“, sagte sie.
„Wieso bist du hergekommen?“ fragte ich, „und warum bist du geblieben?“
„Wegen meines Vaters, ich war noch klein. Und dann ... vielleicht konnte ich mich nur nicht entscheiden, wohin sonst.“

Ein Kellner brachte unseren Fisch. Julia aß mit der Eleganz der Gewohnheit. Mit wenigen Schnitten zerlegte sie den Körper des Tieres. Dann schnitt sie kleine Bröckchen heraus, die sie langsam kaute. Sie wirkte konzentriert und ich dachte, sie ist schön.
Der Schneefall wurde stärker. Als wir das Restaurant verließen, waren die Straßen bedeckt. Julia nahm den Bus in die Innenstadt. Sie umarmte mich kurz und sagte, danke, für den schönen Abend.
Mein Bus kam nicht und nach einer Weile hatte sich eine Gruppe Wartender versammelt. Irgendwann hieß es, die Busse führen nicht mehr und ich bestellte ein Taxi. Der Fahrer war Südländer, er sprach mit starkem Akzent. Er erzählte, seine Frau erwarte ein Kind. Ich gratulierte, und er sagte, er gehe weg von hier, wenn er das Geld beisammen habe. Das sei kein Ort für Kinder, für Niemanden. Ein Niemandsland.
In meiner Wohnung begann ich, Unterlagen für die Arbeit zu sichten und machte Notizen auf einigen Seiten, doch ich war unkonzentriert und legte die Sachen bald beiseite. Die Heizung war an, der Raum wurde nicht warm. Ich ging zum Fenster, es war beschlagen und ich wischte mit dem Handrücken eine kleine Fläche frei. In nur wenigen Fenstern des Wohnblocks gegenüber war noch Licht. Der Schnee flackerte orange von den Lichtern der Räumfahrzeuge.

Es war Sonntag. Ich saß am Schreibtisch und versuchte mich auf die Tabellen auf dem Bildschirm des Laptops zu konzentrieren. Ich dachte an das Mädchen, in der Tageszeitung wurde sie mit wenigen Sätzen erwähnt: Sie hatte einen Abschiedsbrief geschrieben, die Eltern trauern. Ein Bild von ihr war abgedruckt, sie lächelte.
Ich klappte den Laptop zu und schaltete den alten Fernseher ein. Ich musste die Antenne drehen und empfing einen schwedischen Sender, ich stellte lautlos. Ein Spielfilm, oder eine Serie. Menschen standen in dunklen Kleidern an einem Grab, ein Mann hielt eine Rede, eine Frau weinte in Nahaufnahme, Szenenwechsel. Jugendliche in der Schule, einer meldete sich, sagte etwas, die anderen lachten. Über das Bild flimmerte Fernsehschnee, ich drehte an der Antenne und das Bild wurde wieder klar.
Wie wenig Gefühle die Sendung ohne Ton hervorbrachte, verwunderte mich. Die Bewegungen der Schauspieler erschienen mir unnatürlich, ihre Gesichter wie Grimassen. Die Jugendlichen rannten auf den Schulhof, es gab Streit, einer zog ein Messer, stach zu. Wieder Friedhof, die Frau warf eine Blume auf das Grab. Ich dachte an Julia.
Ich begann meine Akten zu sortieren und zerriss die Unbrauchbaren. Ich wollte auch die anderen zerreißen, alle, aber ich zögerte und legte sie zurück.

Ich sah Julia für Tage nicht und rief sie an. Sie sagte, sie wolle mich sehen. Ihre Wohnung lag im Stadtzentrum.
Das Treppenhaus war dunkel und feucht. Julia bat mich mit einer ungeschickten Bewegung herein, sie sagte, sie mache schnell Tee, ich solle mich schon aufs Sofa setzen. Im Flur standen Kartons.
„Ziehst du um?“, fragte ich.
„Nein“, sagte sie. „Ich habe noch nicht alles ausgepackt.“
Die Wohnung war karg eingerichtet und die wenigen Regale leer. Julia kam mit dem Tee aus der Küche. Sie lächelte flüchtig als sich unsere Blicke kreuzten.
„Es ist nicht sehr bequem hier, ich weiß“, sagte sie. „Entschuldige, dass ich mich nicht gemeldet habe. Ich habe mich krank schreiben lassen.“
„Ist es wieder besser?“
„Es geht.“ Sie ging zum Fenster und schob die Vorhänge beiseite. „Man sieht durch das Schneetreiben wie in eine Höhle, oder einen Tunnel.“
Ich erinnerte mich an einen Ausflug, den ich vor Jahren gemacht hatte. Eine Tropfsteinhöhle hatte ich besucht, ich erzählte Julia davon. Man hatte uns Grubenlampen gegeben, aber überall waren Neonröhren in der Höhle und die Grubenlampen spendeten kaum Licht, sie waren nur für uns Touristen. Um das richtige Gefühl zu erzeugen. Julia nickte, sie sah weiterhin aus dem Fenster. Ich trank den Tee, er war bereits kalt.
„Ist das nicht seltsam?“, sagte sie. „Warum bist du hier, in Norwegen, was willst du?“
Ich zuckte die Schultern. „Was soll ich schon wollen“, sagte ich. „Ich will nichts.“
Julia lachte. „Manchmal denke ich, dass da etwas ist, auf das ich warte. Irgendwas, das passiert.“
Dann sagte sie: „Ich gehe duschen. Fühl dich bitte wie daheim.“
Ich wartete kurz, dann stand ich auf und ging durch die Wohnung. Es war als sei nie jemand eingezogen. An der Decke hing die Glühbirne an einem Kabel. Ich fand einen Stapel CDs und sah die Alben durch. Die wenigsten kannte ich. Ich fand ein Album von Bryan Adams und dachte darüber nach, es einzulegen. Dann legte ich es zurück.
Ich ging auf den Flur, Julia stand da. Sie hatte ein Handtuch umgewickelt, ihre Haare fielen in feuchten Strähnen über die Stirn. Sie sah zu Boden. Ich ging auf sie zu. Sie streifte das Handtuch ab und als ich sie küsste, erwiderte sie den Kuss.
Wir liebten uns im Flur an der Wand. Ihre Haut war heiß vom duschen und sie atmete schwer und ungleichmäßig. Ich hatte mein Hemd nicht ausgezogen.
„Das ist unbequem“, sagte sie irgendwann und wir gingen aufs Sofa im Wohnzimmer.
Später saßen wir uns gegenüber. Julia trug schwarze Unterwäsche. Mir war sogar in meinen Straßenkleidern kalt, doch sie schien nicht zu frieren. Ich wusste nicht, was sagen. Von ihren Haaren tropfte Wasser, mir fielen die Ringe unter ihren Augen auf.
Ich ging schweigend und kam mir blöd dabei vor. Julia begleitete mich zur Tür.

Am Tag darauf war eine Nachricht auf meinem Anrufbeantworter. Julia.
Sie sagte, sie sei weg. Wohin wisse sie nicht, noch nicht. Sie habe ihr Handy weggeworfen. Ihr sei klar geworden, dass sie so nicht leben könne, das hier nichts passiere. Es sei nicht meine Schuld.
Der Moderator der Morgensendung im Radio berichtete vom kommenden Jahrhundertwinter, Schneechaos auf den Straßen, schlimmer als gewöhnlich, für Wochen.
Ein Arbeitskollege sprach mich an, er fragte, ob ich etwas über Julia wisse, ob ich mit ihr zusammen sei, man rede so, und ich sagte, nein, sie ist weg. Er fragte, ob ich am Abend mit wolle, er und ein paar Jungs aus der Abteilung gingen in eine Bar. Ich sagte, ich hätte noch viel zu tun, ein anderes mal vielleicht.

 

Hallo Vessel,

Ein herzliches Willkommen möchte ich Dir bei den Wortkriegern sagen!

Dein Text hat Passagen, die ganz okay sind, die sich auch gut lesen lassen. Andere sind nicht so toll. Der Plot Deiner Geschichte gefällt mir nicht so besonders. Deine Protagonisten machen den Eindruck, als ob sie wollten, dann aber sagen: Ach, ist sowieso alles Scheiße. Warum ist das aber so?
Hier zum Beispiel:

Ich ging auf den Flur, Saskia stand da. Sie hatte ein Handtuch umgewickelt, ihre Haare fielen in feuchten Strähnen über die Stirn. Es roch nach den künstlichen Kräutern des Duschgels.
Saskia sah zu Boden. Ich ging auf sie zu. Sie streifte das Handtuch ab und als ich sie küsste, erwiderte sie den Kuss.
Wir liebten uns im Flur an der Wand, sie stand vor mir und bewegte sich kaum. Ich hatte mein Hemd nicht ausgezogen. Saskia atmete schwer und ungleichmäßig. Sie hatte die Augen geschlossen.
„Das ist unbequem“, sagte sie irgendwann und wir gingen aufs Sofa im Wohnzimmer.

steckt Null Gefühl drin. Das ist alles mechanisch.

Hier noch einige Anmerkungen zum Text:

Ich lud Saskia ein, mit mir am Abend aus zu gehen.

... mit mir auszugehen. Du hast zweimal hintereinander Saskia verwendet. In diesem Satz könntest du einfach das Personalpronomen sie verwenden.

Man hatte mich durch die Büros geführt und mir meinen Platz zugewiesen.

Das ist für mich zu unpersönlich. Besser wäre bestimmt: Ich wurde durch die Büros geführt und mir wurde mein künftiger Platz zugewiesen. Oder noch besser, Du sagst, wer Deinen Protagonisten geführt hat.

Nachts hörte ich oft Musik aus einem Club in der Nähe, war aber zu müde[,] um noch etwas zu unternehmen.

Oder ich hatte Arbeit mit nach hause genommen und saß am Schreibtisch[,] bis ich einschlief.

Saskia war Schwedin; Sie war klein und hatte kurzes, dunkles Haar.

Saskia war Schwedin; sie war klein ... Nach einem Semikolon geht es klein weiter.

Wir waren über das Mädchen, dass sich getötet hatte, ins Gespräch gekommen.

das sich getötet hatte

Der Satz klingt aber etwas ungelenk, zu berichtend. Vielleicht könntest Du schreiben: Sie war genauso bestürzt wie ich, und wir kamen ins Gespräch.

Ich sagte, vielleicht sei es Mord gewesen und sie hatte gelacht. Schuld sei das strenge Schulsystem, sagte sie.

Die Vermutung, dass es Mord gewesen sein könnte, steht Deinem Einführungssatz im Weg. Dort sieht es nach Selbstmord aus. Dan müsstest Du am Anfang schreiben, dass ein junges Mädchen in den Tod gestürzt war. Da bleibt offen, ob sie selbst gesprungen, oder gestoßen worden war.

Sie wirkte konzentriert und ich dachte, sie ist schön.

Er dachte, sie ist schön, und dann fiel das Licht auf sie und er erschrak? :D Das klingt nicht schön. Vielleicht so: Sie wirkte konzentriert, und ich fand sie schön.

Ich begann meine Akten zu sortieren und zerriss die Unbrauchbaren. Ich wollte auch die anderen zerreißen, alle, aber ich zögerte und legte sie wieder zurück.

Warum zögerte er?

Ich sah Saskia für Tage nicht. Ich rief sie an.

Ich ... Ich ... Das zweite Ich kannst Du eliminieren, indem Du einen Satz draus machst: Ich sah Saskia für Tage nicht, also rief ich sie an.

„Meine Schwester hat geheiratet“, sagte sie. „Und sie hat ein Kind, ich habe es heute erfahren.“
„Ihr habt keinen Kontakt?“
„Nein“, sagte Saskia. „Sie ist älter als ich.“

Was ist denn das für eine absurde Erklärung? Ich habe auch ältere Geschwister, und wir haben regen Kontakt. Das verstehe ich nicht.

Ich trank den Tee, er war bereits kalt. Ich sagte, wir könnten noch etwas trinken gehen, einen Kaffee oder so.

Also, wenn ich Saskia wäre, dann wäre ich jetzt sauer. Sie serviert ihm Tee und er sagt, wollen wir nicht was anderes trinken gehen?

Ich fand ein Album von Bryan Adams und dachte darüber nach, es einzulegen, doch ich legte es zurück.

Das sind Informationen, die niemand braucht. Wenn er ein Album findet, das er dann doch wieder weglegt, dann musst du es nicht erwähnen, wenn es danach eh keine Rolle mehr spielt.

Es roch nach den künstlichen Kräutern des Duschgels.

Ich weiß, worauf du hinauswillst, dass ja alles nur Chemie ist. Aber das klingt irgendwie komisch. Spielt aber in der Geschichte auch nicht wirklich eine Rolle.

Ich wusste nicht, was sagen.

Hier fehlt was. Was ich sagen sollte?

Von ihren Haaren tropfte Wasser, mir fielen die Ringe unter ihren Augen auf.
Ich ging schweigend und kam mir blöd dabei vor, Saskia hatte mich zur Tür begleitet.

Will er nicht wissen, was sie belastet, woher die Ringe kommen? Er haut einfach ab?

An meinen Arbeitsplatz sprach mich ein Kollege an, er fragte, ob ich etwas über Saskia wisse, ob ich mit ihr zusammen sei, man rede so, und ich sagte, nein, sie ist weg. Er fragte, ob ich am Abend mit wolle, er und ein paar Kollegen aus der Abteilung gingen in eine Bar. Ich sagte, ich hätte noch viel zu tun, ein anderes mal vielleicht.

Der Schluss ist mehr als dürftig.

Dein Einstieg hat mich nicht vom Hocker gehauen, es ließe sich aus der Story bestimmt mehr machen und ich denke, Du hast das Potenzial, da auch Verbesserungen und Leben reinzubringen. Ich wünsche Dir viel Spaß dabei und bin gespannt, was Du draus machst.

In diesem Sinne
Schönen Gruß
khnebel

 

Hallo khnebel,

danke fürs willkommen heißen und deinen Kommentar. Auf ein paar ziemliche Patzer hast du mich da aufmerksam gemacht, dass die mir nicht aufgefallen sind?!
Es hat schwach angefangen, dann aber stark nachgelassen: Ist es das, was du sagen willst? :D

"steckt Null Gefühl drin. Das ist alles mechanisch."
Ein wenig schade, dass du mit dem Text wenig bis nichts anfangen konntest. Ich werde auf jeden Fall nach deinem Feedback überarbeiten, denn mit diesem konnte ich durchaus etwas anfangen :)

Wie gesagt, danke für deinen Kommentar.

Grüße
Vessel

 

dass du mit dem Text wenig bis nichts anfangen konntest.

So habe ich das nicht gesagt. Ich habe gesagt, dass einige Passagen gut sind. Du hast auch eine angenehme Erzählweise. ich habe Dich nur auf einiges aufmerksam gemacht, damit Du mehr aus der Geschichte machen kannst.

Schönen Gruß
khnebel

 

Hallo Vessel,

da in meinen Adern auch schwedisches Blut fließt, habe ich die Geschichte aufmerksam gelesen.
Das Erste, was mir aufgefallen ist, ist der Name "Saskia".
Mag ja sein, dass es in Schweden auch "Saskias" gibt, aber mir ist in über 40 Jahren dort keine begegnet.
Der Name ist also in meinen Augen nicht gut gewählt.

Am morgen war ein junges Mädchen aus dem fünften Stock des Nachbarhauses in den Tod gestürzt. Saskia und ich standen lange am Fenster und sahen zu, wie die Menschen versuchten zu helfen. Ich lud sie ein, mit mir am Abend aus zu gehen. Es gäbe hier ein gutes Fischrestaurant, sagte sie.

Die beiden schauen auf das tote Mädchen, das aus dem fünften Stock gesprungen ist.
Ist sicher kein schöner Anblick, kann es nicht sein.
Während die beiden also auf ein blutüberströmtes totes Mädchen und verspritzte Gehirnmasse oder Ähnliches schauen, lädt er sie zum Essen ein.
Das finde ich an der Stelle völlig unpassend und sehr befremdlich.

Saskia war Schwedin. Sie war klein und hatte kurzes, dunkles Haar. Wir waren über das Mädchen ins Gespräch gekommen. Ich sagte, vielleicht sei es Mord gewesen und sie hatte gelacht. Schuld sei das strenge Schulsystem, sagte sie. Und die ständige Dunkelheit.

Vielleicht ist das Mädchen gesprungen, vielleicht wurde sie ermordet. In beiden Fällen fällt mir jedoch kein Grund ein über den Tod eines kleinen Mädchens zu lachen. Saskia scheint einen seltsamen Humor zu haben, oder ist sie einfach gefühlskalt. Ich finde das ziemlich unrealistisch.
Welches strenge Schulsystem meinst du? Mir ist weder in Norwegen noch in Schweden ein strenges Schulsystem bekannt.
Warst du schon einmal in Skandinavien? Hast du das recherchiert?
Noch haltloser finde ich die Aussage mit der Dunkelheit.
Da du von ständiger Dunkelheit sprichst, muss die Geschichte ja weit im Norden spielen, wo es mehrere Monate im Jahr wirklich dunkel ist. In den mittleren und südlichen Regionen von Schweden und Norwegen ist das nicht so.
Ein Mädchen springt also laut Saskias Ansicht in den Tod, weil es die ständige Dunkelheit nicht ertragen hat, obwohl sie dort wahrscheinlich geboren wurde und es gar nicht anders kannte.
Hm, also ich weiß ja nicht ...

Insgesamt weiß ich nicht, was du mit der Geschichte aussagen möchtest.
Am Ende ist Saskia weg, weil ihr dort zu wenig passiert. (Bis auf junge Mädchen, die in den Tod springen)
Das ist alles?
Aus der Geschichte kann man bestimmt etwas machen, aber dafür müsste sie noch gründlich überarbeitet werden.

Gruß

Raimond

 

Hallo Vessel,

ich habe den Eindruck, dass du dich ernsthaft bemüht hast um deine Geschichte, aber ich sehe da noch einige Probleme, wodurch sie mE wenig Zug hat.

Zum einen mag das daran liegen, dass wenig Erzählenswertes passiert zum anderen wirkt dein Text sehr emotionslos, trocken und berichtshaft. "Wenig Erzählenswertes" meine ich dabei gar nicht so negativ, wie es klingt, denn das, was deine Geschichte eigentlich tragen sollte - wenn ich sie nicht völlig falsch verstanden habe - ist doch die depressive Stimmung "der kalten Zeit", aber sie kommt nicht so recht durch weil sie zu holprig getragen wird. Und so verliert sich auch der Faden etwas, guckt mal hier mal dort wieder ein wenig raus, wird aber immer wieder von teils etwas ungelenker Sprache, teils Überflüssigkeiten und hier und da von Missverständlichkeiten zerhackt.

Der erste Satz funktioniert ja ganz gut - obschon entweder "Am Morgen ..." oder besser noch, die Tageszeit weglassen, sie spielt offensichtlich keine Rolle - Man denkt sich: Jetzt ist was passiert! Mädchen stürzt in den Tod! Passanten wollen helfen! Die beiden sehen zu! ... und ... reden übers Ausgehen. Das hat schon fast sarkastische Züge, dass man meint, das müsste so sein. Aber deine Geschichte plätschert dann irgendwie so leblos dahin, dass dieser sarkastische Ansatz wohl nur Zufall war. ;)


Hier mal ein paar Sachen, die mich vielleicht etwas verständlicher machen:

Saskia war Schwedin. Sie war klein und hatte kurzes, dunkles Haar. Wir waren über das Mädchen ins Gespräch gekommen. Ich sagte, vielleicht sei es Mord gewesen und sie hatte gelacht. Schuld sei das strenge Schulsystem, sagte sie. Und die ständige Dunkelheit.
Dieser Absatz scheint mir nicht recht hierher zu passen. Denn oben entscheidet er sich fürs Fischrestaurant und dann verlässt er die Szene, erzählt über seinen öden Arbeitsalltag. Und mit diesem Absatz kehrst du wieder zurück auf den Balkon oder sie sind beide bereits im Lokal - für mich ist das einfach etwas verwirrend. Mir scheint es sinnvoller, diesen Absatz nach vorne zu nehmen:

Ein junges Mädchen war aus dem fünften Stock des Nachbarhauses in den Tod gestürzt. Saskia und ich standen lange am Fenster und sahen zu, wie die Menschen versuchten zu helfen. Saskia war Schwedin. Sie war klein und hatte kurzes, dunkles Haar. [Wir waren über das Mädchen ins Gespräch gekommen.] Ich sagte, vielleicht sei es Mord gewesen und sie hatte gelacht. Schuld sei das strenge Schulsystem, sagte sie. Und die ständige Dunkelheit.

Ich lud sie ein, mit mir am Abend auszugehen. Es gäbe hier ein gutes Fischrestaurant, sagte sie.

Den Satz "Wir waren ...ins Gespräch ..." kannst du streichen. Auch die Wiederholungen (fett) wirken etwas ungelenk.

Einige Ungereimtheiten in den Formulierungen hat dir ja khnebel schon aufgezeigt. Ich meine, dass vieles davon auf die teils extrem "einfache" Sprache zurückzuführen ist. Wie zum Beispiel
Sie wirkte konzentriert und ich dachte, sie ist schön. (siehe Anmerkung khnebel) Textlich zwar richtig (da kein Konjunktiv) aber eben auch unfreiwillig komisch.

Ebenso tauchen viele Beschreibungen auf, die weder den Fortgang der Geschichte tragen, noch atmosphärische Relevanz haben, wie zum Beispiel den Vorgang des Essens, der zudem mit der Verniedlichung "Bröckchen" gar noch ein wenig infantile Züge bekommt:

Dann schnitt sie kleine Bröckchen heraus, die sie langsam kaute.

Der Kellner kam an den Tisch. Saskia bestellte ...
Der Kellner brachte unseren Fisch. Saskia aß ...
Dass im Restaurant ein Kellner kommt und bringt ist ja reichlich unspektakulär, irgendwie selbstverständlich gar. Das Auftreten des Kellners bringt keine neuen oder vertiefenden Erkenntnisse über die trübe Atmosphäre während "der kalten Zeit". Außer - lass mich übertreiben- er käme weinend, missmutig, trandösig ... ;)

Mein Bus kam mit einigen Minuten Verspätung, ich löste eine Fahrkarte und setzte mich auf einen Fensterplatz weit vorne.
Wenn denn nun die Verspätung - wenn auch nur banale - Auswirkungen hätte, dann okay: Vielleicht schneit es immer stärker und er steht im Sauwetter und der Sch...Bus kommt nicht, er wird ärgerlich - oder was weiß ich. Dann könnte er die Fahrkarte verärgert, mit triefend nassen Händen etc, etc. lösen. Und wenn er schon am Fenster sitzt, dann könnte er ja das trieste Wetter da draußen beklagen, könnte sich weiter in depressiver Stimmung vertiefen ...

Dabei will ich es mal belassen und ich hoffe du nimmst das nicht als Verriss, sondern als Anregung für weitere Überarbeitungen. Mehr Variation in Satzbau und Wortwahl (ich finde hier z. B. fast ausnahmslos "Sie sagte", "ich fragte") und auch den "depressiven Faden" mehr im Fokus zu halten würde deiner Geschichte sicher gut tun - und ich glaube, das Potenzial dazu bringst du mit.

Ach, da bin ich auch gerade noch drübergestolpert:

Seit dem [Seitdem] war ich morgens früh gekommen und abends spät gegangen
Oder ich hatte Arbeit mit nach hause [nach Hause] genommen

Nicht verzagen
oisisaus

 
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Hallo Reinmond,

"Die beiden schauen auf das tote Mädchen, das aus dem fünften Stock gesprungen ist."
Nein, sie schauen zu wie Menschen unten rumlaufen, so steht es aber auch da.
"Ein Mädchen springt also laut Saskias Ansicht in den Tod, weil es die ständige Dunkelheit nicht ertragen hat, obwohl sie dort wahrscheinlich geboren wurde und es gar nicht anders kannte."
Mit steigender Nähe zum Polarkreis steigt die Suizidrate, darauf spiele ich an. Mir wurde das mit dem Schulsystem erzählt, ist es nicht so? Dann wäre das natürlich ein Fehler, den ich ausbessern würde, ich habe grade gegoogelt und eigentlich nichts weiterführendes dazu gefunden.

Die Geschichte spielt in Tromsö, die ständige Dunkelheit ist eine Übertreibung, vielleicht eine zu plastische, mir gefiel der Gedanke, und einen anderen Anspruch hatte ich hier nicht.

Saskias Name, ja ... Ich habe viel gekürzt an der Geschichte, der Name ist, wenn du so willst ein Relikt. Welches sind denn schön klingende skandinavie Namen?

"Insgesamt weiß ich nicht, was du mit der Geschichte aussagen möchtest."
Die unbefriedigende Antwort darauf: Genau das.

Ich danke dir herzlich, dass du dich auseinandergesetzt hast mit dem Text
Vessel

PS: "...dafür müsste sie jedoch gründlich überarbeitet werden"
na, deswegen bin ich ja hier :)

Hai oisisaus,

ich gebe deinen Anmerkungen durch die Bank recht und baue es so um.

Eine Sache fällt mir auf:
"Wenn denn nun die Verspätung - wenn auch nur banale - Auswirkungen hätte, dann okay: Vielleicht schneit es immer stärker und er steht im Sauwetter und der Sch...Bus kommt nicht, er wird ärgerlich - oder was weiß ich. Dann könnte er die Fahrkarte verärgert, mit triefend nassen Händen etc, etc. lösen. Und wenn er schon am Fenster sitzt, dann könnte er ja das trieste Wetter da draußen beklagen, könnte sich weiter in depressiver Stimmung vertiefen ..."
Das scheint durchweg zu stören, dabei: natürlich geschieht das, und es scheint ja auch aufzufallen, dass da eine Beschreibung fehlt. Nun stellt sich mir die Frage: Wie könnte man das deutlicher werden lassen, sodass nicht die Klage kommt: Das ist ja gar nicht beschrieben, sondern dass klar wird, dass es implizit bleibt?

Ziel wäre: Der Text liest sich wie ein zäher Kampf durch einen Schneesturm und eigentlich nervt es einen mehr, als dass man weitergehen möchte. Aber: Irgendwie will man dann doch wissen, was da kommt (nämlich nichts).
So, das ist, wie gesagt, die Idee dahinter-
Eine Idee entschuldigt natürlich nicht ihre mangelhafte Umsetzung, ich hoffe aber, mit eurer Hilfe näher ran zu kommen ;)

und: das hier sind mit Abstand die nützlichsten Anmerkungen, die ich bisher bekommen habe, in einem Textforum, ich freue mich über sie.

 

Hallo nochmal,

zu dem Thema Namen: Ich heiße Raimond, nicht Reinmond.

Es ist nicht meine Aufgabe dir schwedische oder norwegische Namen zu nennen.
Wenn man eine skandinavische Geschichte schreibt, sollte man erwähnte Dinge wie Namen oder Schulsysteme vorher recherchieren. Vielleicht ist das ja ein guter Tipp für dich für die Zukunft.

Nein, sie schauen zu wie Menschen unten rumlaufen, so steht es aber auch da.

Nö, das steht da:
und sahen zu, wie die Menschen versuchten zu helfen

Wenn die Menschen versuchen zu helfen, liegt das Mädchen also noch da und die beiden sehen dabei zu.

Tromsö ist natürlich sehr weit im Norden und somit ist das mit der Dunkelheit natürlich nachvollziehbar,
insofern man denn weiß, dass die Geschichte dort spielt.

Ich stehe selber noch am Anfang und deswegen von Anfänger zu Anfänger:

Schreibe über Dinge, die du kennst oder von denen du etwas verstehst, oder recherchiere sie sehr genau, bevor du darüber erzählst.
Sonst kommen wie in diesem Fall halt so skandinavische "Motzköpfe" wie ich dann an und sagen "Moment mal".;)

Also viel Spaß weiterhin.

Gruß

Raimond

 

Lass es mich mal so ausdrücken, Vessel,

bleiben wir beim Bus. Er kommt mit Verspätung. Weiter oben heißt es "Schneefall wird stärker", also impliziert die Aussage wohl "Verspätung wegen Witterung". Insofern okay - aber banal. Auch bei uns in Bayern kommt hie und da der Bus zu spät, weil's schneit. Und doch mag sich der Bayer deshalb nicht gleich umbringen. ;)

Ich habe ja versucht anzudeuten, hier zum Beispiel die Kernaussage nicht bei der "Verspätung" zu belassen, die als solche vernachlässigbar ist, sondern die (denkbaren) gemütsbeeinflussenden Folgen darzustellen. Wie ich in meinem vorherigen Post schon sagte, der Prot friert, wird sauer, weil nass, oder, oder, oder. Und in der Folge kannst du das ja wiederum mit dem Lösen der Fahrkarte zum Ausdruck bringen, welche ja ansonsten gleichermaßen überflüssig ist/wäre. Oder es könnte ja auch ein anderer Wartender sein - zeichnet das trübe Bild vielleicht sogar noch besser - der Frust schiebt deswegen. Das kann ja auch nur ein gut beschriebener Blick sein, ein tiefer Seufzer oder was auch immer, muss ja nicht gleich ein Tobsuchtsanfall sein. Dann kannst/solltest du auf "das Fahrkartenlösen" verzichten.

Implizit hin oder her, gerade bei so atmosphärisch beseelten Geschichten scheint mir immer mal wieder ein subtiler Schubs in die richtige Richtung hilfreich zu sein. Ansonsten entstehen beim Leser - wie auch bei mir beim ersten Lesen - einfach Lücken, die den Faden reißen lassen.

Ich finde, zum Beispiel in deiner Fernsehszene kommst du der Sache, die ich meine, näher.

Klar, dieser "subtile Schubs" ist nicht einfach, braucht durchaus wohlgewählte Worte, um nicht in plumpe Überfrachtung abzudriften und soll natürlich auch nicht nur in der Anhäufung von Adjektiven münden. Aber das meinte ich auch mit meiner Kritik an der zu trockenen Sprache.

Schau dir zum Beispiel deine wörtliche Rede an: Sie sagte, ich fragte. Versuch doch alleine damit mal rumzuspielen und beobachte die (implizite) Atmosphäre:

Sie keuchte, sie hauchte, sie jammerte, sie brummte, sie seufzte, sie flüstert, tobte sie, stotterte sie, sprach sie leise, meinte sie weinerlich, entgegnete sie scharf, brüsk, müde, zitternd, ....

Oder dreh mal den Satzbau - ein Beispiel jetzt mal völlig aus dem Zusammenhang gerissen:
- Ich erinnerte mich an einen Ausflug. Ich hatte eine Tropfsteinhöhle besucht.
- Ich erinnerte mich an einen Ausflug. Eine Tropfsteinhöhle hatte ich besucht.
Impliziert die zweite Variante nicht deutlicher, dass die Tropfsteinhöhle was Besonderes war, besonders toll oder auch besonders enttäuschend?
Wie gesagt, ist jetzt aus dem Zusammenhang gerissen, aber ich hab grade keine besseren Beispiele mehr parat.

Ich hoffe, dass ich mich einigermaßen verständlich machen konnte. Aber ich möchte jetzt eh nicht noch lehrmeisterlicher rüberkommen und betone, dass das natürlich nur subjektive Empfehlungen sind. Aber ich meine, dass die sprachliche Feile - erstmal schrubben, dann schlichten, um im Fachjargon des Metallhandwerks zu bleiben - noch einiges aus deiner Geschichte rausholen könnte.

also bleib dran
oisisaus

 

Hallo nochmal nun!

"Deine Protagonisten machen den Eindruck, als ob sie wollten, dann aber sagen: Ach, ist sowieso alles Scheiße."
Genau so ist es.

Danke nochmal oisisaus, oberlehrermäßig finde ichs nicht, es macht doch deutlich worauf du raus willst und mir hilft es.
Recherchiert ist die Geschichte ausreichend. Das Schulsystem hach naja, mit dem neuen g8 könnte man das auch in D inzwischen als Suizidgrund nennen. Der Name ist geändert, wenn auch eine Schwedin mit deutschem Namen vorstellbar ist.

Ich werde weiterhin am Text arbeiten, von der Location und den Charakteren werde ich mehr einfließen lassen, ich stimme euch zu, das ist zu abstrakt.
Der Sprachstil ist, wie er ist. Das macht ihn nicht besser, aber eine größere Varianz ist ja gerade, was ich nicht möchte. Also das hier: "Sie keuchte, sie hauchte, sie jammerte, ....".
Denn es gilt sich doch dem Allgegenwärtigen "show, dont tell" zu widersetzen. Da sind wir alle weichgekocht und Autoren wie Peter Stamm oder Lazso Krasznahorkai bekommen viel Kritik dafür, dagegen anzuschreiben. Mir als Leser macht es in jedem Fall mehr Spaß (oder auch: einzig und alleine Spaß) vor eine Herausforderung gestellt zu sein.

Soweit! und ich hoffe, der Text ist etwas deutlicher nun und bereitet mehr (oder eben überhaupt erst) Spaß beim Lesen.

Liebe Grüße

 

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